Rezension zu Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Nr. 9, September 2017, 23. Jahrgang
Rezension von Nicole Klee Zihlmann
Im ersten Teil des Buches beschreibt die Autorin die Entwicklung
der Eltern-Kind-Beziehung aus humanethologischer, evolutionärer und
kulturgeschichtlicher Perspektive. Die stammesgeschichtliche
Entwicklung von Bindungsverhalten und universale menschliche
Verhaltensweisen werden herausgearbeitet. Dabei wird immer wieder
die enorme Bedeutung von Körperkontakt, Ruhe, Langsamkeit und
Geborgenheit als Bedingungen für Bindungsverhalten von Eltern und
Kindern deutlich.
Der zweite Teil widmet sich dem frühkindlichen
Interaktionsverhalten, wobei die Bindungstheorie im Zürcher Modell
der sozialen Motivation Ergänzung findet. Dieses Modell beschreibt
neben dem aus der Bindungstheorie bekannten Wechsel von Nähe und
Distanz zur Bezugsperson (Sicherheitssystem), wie sich das Kind von
dieser sicheren Basis aus der Welt zuwendet (Erregungssystem) und
seine Selbstwirksamkeit entdeckt (Autonomiesystem). Eine stabile
und lebendige Bindung zeigt sich im stetig flexiblen Pendeln
zwischen dem Zuwenig und dem Zuviel innerhalb dieser drei
Motivationssysteme. Mit dem Beschrieb der Entwicklung der
Nähe-Distanz-Regulation ab Geburt bis zum Vorschulalter
verdeutlicht die Autorin das Modell und macht es für den Alltag
fassbar. Bindung versteht sich somit als stetiger Prozess, welcher
in jeder Entwicklungsphase neu ausgehandelt wird. Das bringt immer
wieder neue Herausforderungen, aber auch die Chance mit sich, der
Beziehung neue Tiefe und Tragfähigkeit zu verleihen.
Ursula Henzinger legt in ihrem Buch verschiedene theoretische
Hintergründe dar und verknüpft sie miteinander. Aufgrund der
Ausführlichkeit und Vielschichtigkeit von Theorie und Praxis ist
die Orientierung innerhalb des Buches bisweilen nicht ganz einfach.
Die einzelnen Teile, insbesondere der stammesgeschichtliche und der
evolutionäre Teil, sind sehr spannend und anschaulich zu lesen. Die
Ergänzung der Bindungstheorie durch das Zürcher Modell ist für die
Arbeit im Frühbereich wesentlich und hilft, kindliches Verhalten
und die dahinterstehende Motivation besser einzuordnen. Unzählige
Beispiele aus der reichen Erfahrung der Autorin verdeutlichen den
Ansatz und lenken den Blick auf unspektakuläre, aber wichtige
Momente im Alltag. Es sind ebendiese gemeinsam erlebten Momente und
erfolgreich bewältigten Herausforderungen, die das Band zwischen
Eltern und Kindern täglich stärken und wachsen lassen.