Rezension zu Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit (PDF-E-Book)
Psychologie in Österreich, Nr. 4, 2017
Rezension von Gabriela Mai
Dieses Buch ist das Ergebnis jahrelanger Forschung in
Eltern-Kind-Gruppen. Mit humanethologischen Methoden untersucht die
Autorin das frühe Bindungsverhalten von Eltern und ihren Babys und
Kleinkindern, woraus Gruppenkonzepte und schließlich ein
Ausbildungskonzept (Bindung und Autonomie - EEH für frühe Hilfen)
entstehen.
Der erste Teil des Buches befasst sich mit dem
Eltern-Kind-Verhalten aus evolutionärer Sicht und erläutert das
wissenschaftliche Vorgehen aus der Humanethologie, wie Beobachtung,
Dokumentation und wertfreies Beschreiben sowie Vergleiche zwischen
Tier und Mensch und zwischen den Kulturen. Anhand von traditionalen
Kulturen beschreibt die Autorin das evolutionäre Modell der
Eltern-Kind-Beziehung und geht kulturgeschichtlich auf die
Abweichungen zu diesem Modell ein.
Dies bereitet den zweiten Teil des Buches vor, in dem es um das
spontane kindliche Sozialverhalten mit seinen altersspezifischen
Besonderheiten geht. Große Wichtigkeit besitzt das »Züricher
Modell« vom Psychologen Norbert Bischof als Erweiterung der
Bindungstheorie. Er fügt zu den beiden Polen, Bindung und
Exploration, eine dritte Dimension hinzu und spricht von
Sicherheits-, Erregungs- und Autonomiesystem, die ineinander
verflochten sind. Viele Fragen können damit beantwortet werden.
Ursula Henzinger setzt sich vor allem mit dem
Nähe-Distanz-Verhalten auseinander, denn jedes Kind besitzt von
Geburt an die Fähigkeit, zwischen den Bedürfnissen nach Nähe zur
Bezugsperson und gesunder Distanz hin und her zu schalten. Der
Säugling ist »Experte« für das, was ihm gut tut. Er verfügt über
soziale Kompetenz! Der Leser erhält Einblick, wie sich die soziale
Kompetenz entwickelt: von der Stimmungsübertragung über die
Intuition zur Empathie bis zur »Theory of Mind«.
Durch das umfangreiche Forschungsmaterial arbeitet Ursula Henzinger
die Entwicklungsschritte der Nähe-Distanz-Regulierung in den ersten
vier Lebensjahren heraus. Es ergeben sich konkrete Antworten auf
praktische Fragen wie z. B. das Fremdeln.
Entlang der vier Grundfragen der Ethologie, die im ersten Teil des
Buches vorgestellt werden, werden die Themen Trotz, Aggression und
Geschwisterrivalität beleuchtet. Welche stammesgeschichtlichen
Hintergründe sind von Bedeutung? Welchen Zweck hat das
Verhaltensphänomen? In welcher Entwicklungsphase findet es statt?
Wodurch kann es ausgelöst oder gehemmt werden?
Bindung und Autonomie sind der rote Faden des Buches. In den
Eltern-Kind-Gruppen, die von der Autorin entwickelt worden sind,
werden den Babys und Kleinkindern ein Rahmen und ein Zeitfenster
zur Verfügung gestellt, indem sie selbst über das Maß an Nähe und
Distanz entscheiden können. Die Bezugspersonen sind verfügbar,
halten sich bewusst zurück und lassen den Kindern Zeit und Ruhe,
damit sie im autonomen Zustand Zugang zu ihren Ressourcen und ihrer
Kreativität finden. Das Kind entscheidet selbst, wie lange es auf
dem Schoß der Mutter sitzen bleiben möchte, bevor es den Raum
erkundet oder ob und mit welchen anderen Kindern es Kontakt sucht
oder ob es sich mehr von den Gegenständen angesprochen fühlt. Durch
die Selbstwirksamkeit erkennt das Kind seinen Eigenwert und baut
Urvertrauen auf. Durch das Beobachten wird den Eltern erst richtig
bewusst, wozu ihre Kinder schon fähig sind. Andererseits ist es
auch eine Herausforderung, aufkeimende Impulse zum Eingreifen
zurückzuhalten und die vielen auftauchenden Gedanken einzuordnen.
Im Anschluss an diese Phase der Beobachtung kommt es zum Austausch
der Eltern, indem sie über ihre Erfahrungen berichten können.
Dieses Buch mit seinem theoretischen Hintergrund und den
umfangreichen Fallbeispielen ist für Psychologen eine wertvolle
Lektüre, besonders auch für jene, die im ambulanten Feld arbeiten
und somit außerhalb ihres Komfortbereichs tätig sind. Es bietet
einen guten Überblick über die Entwicklung der sozialen Kompetenz
innerhalb der ersten vier Lebensjahre und ist ein Plädoyer für die
Kompetenz unserer Kinder, zu wachsen und sich zu entfalten.