Rezension zu Männlichkeit, Sexualität, Aggression
www.socialnet.de vom 2. Januar 2018
Rezension von Helmwart Hierdeis
Herausgeber
Dr. Phil., Dipl. Psych. Hans Geert Metzger ist Psychoanalytiker in
eigener Praxis in Frankfurt a. M. und leitet den Arbeitskreis
»Psychoanalyse des Jungen und des Mannes« im DPV.
Prof. Dr. phil., Dipl. Soz., Dipl. Päd. Frank Dammasch ist
analytischer Kinder- und Jugendlichentherapeut und Professor für
psychosoziale Störungen bei Kindern und Jugendlichen an der
Frankfurt University of Applied Sciences.
Beide Herausgeber haben seit vielen Jahren ihre
Forschungsschwerpunkte einerseits in den Bereichen männliche
Identität, Vaterschaft und familiäre Beziehungen, andererseits in
neuen Familienkonstellationen (Metzger) und Familien mit
Migrationshintergrund (Dammasch).
Einleitung
In ihrer »Männer und ihre Krisen« überschriebenen Einleitung (7–17)
geben Dammasch und Metzger den psychoanalytischen Theorierahmen für
die nachfolgenden zwölf Beiträge vor.
Die wichtigsten Auslöser für die Erschütterung des traditionellen
Männlichkeitsverständnisses sehen sie im »Zusammenwirken von
technologischen Umwälzungen, spätkapitalistischer Ökonomisierung
aller Lebensverhältnisse und gendertheoretisch begründeten
sozialpolitischen Infragestellungen traditioneller
Geschlechteraufteilung« (8) sowie in der Zuwanderung von
überwiegend jungen Männern aus patriarchalisch orientierten
Kulturen. Diese Mixtur führe zu einem »Retraditionalisierungsdruck«
(9), wie er in »der wachsenden Begeisterung rechtsnationaler und
religiöser Gruppen für das traditionell machtvolle heterosexuelle
Männerbild der Vormoderne« (10) sichtbar wird.
Im Gegensatz zu den diversen sozialkonstruktivistischen
Genderverständnissen erkennen sie in der (männlichen)
Geschlechtsidentität das Ergebnis eines Zusammenspiels von
biologischen Determinanten und deren psychosozialen Modifikation
durch ödipale Prozesse, wie sie sich im Kontext der Triangulierung
(Mutter-Vater-Kind-Triade) ereignen. Auf dieser Grundlage »(kann)
Männlichkeit (…) zu einer aktiven, kreativen und selbstbewussten
Identität werden, in der gleichwohl Selbstreflexivität, Empathie
und die Akzeptanz der Begrenzungen des Lebens enthalten sind«
(13).
Zu den Beiträgen
(1) In »Männlichkeit – ein neuer dunkler Kontinent der
Psychoanalyse« (19–34) greift Josef Christian Aigner auf das
bekannte Bild von Rohde-Dachser zurück, um Forschungsdefizite und
Fehlannahmen im Hinblick auf das Verständnis des Mannes zu
charakterisieren. Er ruft die spätestens seit Devereux diskutierte
Verwicklung des Forschers in seinen Gegenstand (seine
»Gegenübertragungsreaktion«) in Erinnerung, die seiner Beobachtung
nach in den aktuellen Genderdebatten gerne vergessen wird. Von
besonderer Bedeutung sind für ihn die in den konstruktivistischen
Zuschreibungen übersehenen oder geleugneten unterschiedlichen
Erfahrungen der Leiblichkeit bei beiden Geschlechtern.
(2) Mit der Schwierigkeit, einen allgemeinen Begriff von
»Männlichkeit« zu entwerfen, befasst sich ein Essay von Michael
Diamond (35–90). Der Autor vertritt darin »die These, dass eine
fundamentale Verlust- und Unzulänglichkeitserfahrung, die mit der
präphallischen Beziehung des Jungen zu seinem primären Objekt
zusammenhängt, sowohl eine unbewusste Ablehnung der Weiblichkeit
als auch eine Überbewertung der Phallizität nach sich zieht« und
»möchte zeigen, dass diese uranfängliche Vulnerabilität die
archaische Matrix des männlichen phallischen Narzissmus, des
ödipalen Konflikts und der Weiterentwicklung des Jungen zur reifen
genitalen Position bildet« (36). Sie ist nur in Andeutungen
erfahrbar, entzieht sich daher auch weitgehend der Symbolisierung
und ist für Diamond dennoch der basale Ausweis einer »rätselhaft
und auf ewig schwer fassbar bleibenden Männlichkeit« (36). Er
versucht ihr über psychoanalytische Entwicklungs- und
Gendertheorien nahezukommen und entdeckt sie in der Psychoanalyse
eines jungen Mannes (Fallbeispiel: Brad). Am Ende sieht er aber nur
die Aufgabe der männlichen Reifung deutlicher, »(...) weniger
grandios, omnipotent, phallisch« (82) zu werden, damit eine Art
Ganzheit entstehen kann, die den unauflösbaren Mangel aushält.
(3) »Das Vaterwerden in Familie und Gesellschaft heute« (91–110)
beschäftigt die Pariser Analytikerin Simone Korff Sausse. Was die
psychische Entwicklung des Mannes hin zur Vaterschaft angeht,
registriert sie eine Forschungslücke – was ihrer Einschätzung nach
von der weiblichen Entwicklung hin zur Mutterschaft nicht gesagt
werden kann. Zwei historische Bezüge (traditionelles christliches
Vaterbild; Sigmund Freud als Vater) bestärken sie in ihrer Annahme,
dass die Männer kaum lernen, sich selbst als Väter zu reflektieren
– vielleicht aus der Angst heraus, ein solcher Blick könne ihnen
»das Infantil-Sexuelle des Mannes« oder »das Weiblich-Mütterliche
im Mann« oder »die Identifikation mit dem eigenen Vater« (98) zu
stark ins Bewusstsein rücken. Die Autorin leitet daraus die Aufgabe
für die Psychoanalyse ab, »das Vater-Thema neu zu durchdenken«
(109).
(4) In »Aggression und Autorität in der Vaterschaft« (111–122)
greift Hans-Geert Metzger ein Thema auf, mit dem er sich schon
mehrfach (u.a. in seiner Monographie »Fragmentierte Vaterschaften«,
2013) auseinandergesetzt hat. Am Beispiel des englischen
Bluesgitarristen Eric Clapton verdeutlicht er die Suche nach einem
Vaterschaftskonzept, das einerseits (in Form einer sublimierten
Aggressivität) Struktur- und Regelsetzung beinhaltet und damit
Autorität repräsentiert, das aber andererseits nicht in offen
aggressive patriarchalische Dominanz umschlägt. Ersteres allein
ermöglicht dem Jugendlichen, der Identifikation mit dem väterlichen
Aggressor zu entkommen und ein eigenes Wert- und Normenbewusstsein
zu entwickeln.
(5) Wie lernen Jugendliche, Verantwortung zu übernehmen? Dieser
Frage geht Dieter Bürgin in seinem Beitrag »Das
Unverantwortliche-Verantwortliche in der Adoleszenz« (123–150)
nach. Die entsprechende Fähigkeit wird für ihn über die
Auseinandersetzung mit dem Anderen (dem Fremden), genauer: im
gegenseitigen Austrag von Begehren und Interessen erworben. Die
Klärung des Autoritätsbegriffs im Sinne einer »Vertrauensmacht«
(129) leitet zu einer ausführlichen Diskussion des Zusammenhangs
von Adoleszenz und Verantwortungsübernahme über. Sie gipfelt in der
(durch Fallvignetten gestützten) These, dass antisoziale
Einstellungen mit der Unfähigkeit korrespondieren, Verantwortung
für die eigene psychische Entwicklung zu übernehmen. Gelingende
Elternschaft setzt eine im Sinne der Verantwortungsübernahme
gelungene Adoleszenz voraus.
(6) Hans Hopf greift in seinen Ausführungen über
»Unruhig-aggressive Jungen« (151–164) auf ein von ihm über viele
Jahre hinweg als Pädagoge erlebtes und als Analytiker bedachtes und
erforschtes Arbeitsfeld zurück: die Philobatie männlicher
Heranwachsender. Sie ist, wie Balint angenommen hat,
anlagebedingter Bewegungsdrang und Externalisieren von Gefühlen und
inneren Spannungen in einem. Psychoanalytisch gesehen handelt es
sich um einen Weg, mit Ängsten und psychischen Konflikten fertig zu
werden. Damit sie die Entwicklung des Jungen nicht nachhaltig
stört, bedarf es eines mütterlichen Objekts, das in der Lage ist,
Fremdheitsgefühle ihm gegenüber zu überwinden und
Containerfunktionen zu übernehmen, und eines (privaten und
öffentlichen) väterlichen Objekts, das die Unruhe und Aggression
des Kindes und Jugendlichen auffängt und liebevoll begrenzt.
(7) »Aggressive Männlichkeit zwischen Ohnmacht, Angst und
Allmachtsfantasie« (165–177) ist das Thema, dem sich Frank Dammasch
stellt. Am Beispiel eines aggressiven, unruhigen, sexualisierten
und beziehungslosen Achtjährigen mit grandiosen Phantasien, mit dem
seine familiäre und schulische Umwelt nicht mehr zurecht kommt,
veranschaulicht er eine destruktive männliche Dynamik, die auch
andernorts zu beobachten ist. Denn »(...) aktiv aggressives
Verhalten und die Lust am Töten im symbolischen Spiel« treten, so
der Autor, »fast nur bei männlichen Kindern« auf (166). In der
therapeutischen Arbeit erhält der Analytiker eine haltende und
damit sichernde Funktion, die beide Eltern nicht bieten können. Sie
bildet einen Rahmen, in dem das Kind die eigene Begrenztheit
angstfrei annehmen kann und nicht mit Aggressionen und
Allmachtsgehabe überspielen muss.
(8) Eine weitere Falldarstellung bietet Mohammad Reza Davami in
seinem Beitrag »Destruktive Aggressivität in einer
transgenerational belasteten Vater-Sohn-Beziehung« (179–190). Er
geht darin der Aggressionsentwicklung eines Mannes aus dem
islamischen Kulturkreis nach. Die Suche nach den Ursachen und
Auslösern führt ihn zunächst zu einem lieblosen und nicht
anerkennenden Vater, hinter dem aber weitere Vätergenerationen mit
gleichen Beziehungsmustern sichtbar werden. Der Patient
demonstriert in kritischen Phasen narzisstische Rückzüge,
Ohnmachtsgefühle, paranoide Verfolgungs- und
Vernichtungsvorstellungen und Rachephantasien. Dem Therapeuten
gelingt es zwar, den aggressiven Handlungsdruck zu verringern,
nicht aber, den Patienten zum Blick auf die eigenen Anteile zu
bewegen.
(9) Der Beitrag von Peter Fonagy »Eine genuin
entwicklungspsychologische Theorie des sexuellen Lustempfindens und
deren Implikationen für die psychoanalytische Technik« (191–219) –
erstmals veröffentlicht 2008 – geht aus von der Analyse eines
17-jährigen Jugendlichen, der sich zunächst nur schwer von der
Vorstellung lösen kann, beim Sex in seiner Partnerin verloren zu
gehen und der später sadistische Phantasien entwickelt. Der Fall
ist für den Autor ein Anlass, der Frage nachzugehen, wie sich das
Interesse der frühen triebtheoretisch orientierten Psychoanalyse an
psychosexuellen Prozessen auf gleichsam entsexualisierte emotionale
Beziehungen verschieben konnte und damit, wie er annimmt, an der
basalen Psychosexualität des Menschen vorbeigeht. Dieser
Perspektivenwechsel spiegelt damit gewissermaßen die Verleugnung
des sexuellen Moments in der frühen elterlichen Affektregulation,
und dem Heranwachsenden bleibt nichts anderes übrig, als Begehren
und genitale Erregung erst später in der Adoleszenz zu formen – mit
möglicherweise fragwürdigen Folgen.
(10) Heribert Blass stößt in der analytischen Praxis auf Männer,
die fantasierte bzw. virtuelle Sexualität zu brauchen glauben, weil
ihnen die mit Frauen praktizierten sexuellen Beziehungen Angst
machen. In »Wenn Sex Angst macht« (221–238) nimmt er die
Fallvignetten zum Anlass, über die Funktion des »Cybersex« zu
reflektieren. Bei den Betroffenen stößt er auf »eine Mischung aus
Flucht und Kontrolle gegenüber Frauen und dem weiblichen Körper«
(225). Begleitender Pornographiekonsum hat für einige Männer
stabilisierende Wirkungen, weil sie das Gefühl haben, das Geschehen
in der Hand zu haben, bei anderen löst er Ich/Über-Ich-Konflikte
aus. Der Erfahrung des Analytikers nach kann »Cybersex« die
»sexuelle Identitätsbildung« (237) fördern. Wo er zwanghaft wird,
ist in der Analyse seine »reparative Funktion zu beachten, um den
Weg für eine weniger stereotype (...) Sexualität zu eröffnen«
(237).
(11) Ihre Überlegungen und Erfahrungen zum Thema
»Reproduktionsmedizin als neuer Einstieg in die Elternschaft«
(239–259) hat Ute Auhagen-Stephanos schon an anderer Stelle
ausführlich dargelegt (vgl.
www.sozialnet.de/rezensionen/22530.php). Hier verweist sie auf die
zunehmende Aktualität des Themas (2 % aller Kinder sich »technisch
erzeugt«). Die Reproduktionsmedizin gehöre inzwischen »zur heutigen
Lebenskultur« (241). Eine der Ursachen für diese Entwicklung sieht
sie darin, dass viele Frauen sich ihrem Körper entfremdet haben.
Ihnen versucht sie mit dem von ihr theoretisch begründeten und
inzwischen vielfach erprobten »pränatalen Mutter-Kind-Dialog« dabei
zu helfen, Vorstellungen von Empfängnis und Schwangerschaft
zuzulassen. Wie dieser Dialog vor sich geht, demonstriert sie an
einem Fallbeispiel. Welche Folgen das beide Eltern belastende
technische Procedere für das Kind hat, ist noch zu wenig erforscht.
Erste Untersuchungen verweisen auf psychopathologische
Auffälligkeiten in den ersten Lebensjahren.
(12) An diese Diskussion schließt der zweite Beitrag von Hans-Geert
Metzger in diesem Band an. In »Künstliche Befruchtungen, neue
Sexualitäten und die Bedeutung der heterosexuellen Urszene«
(261–276) stellt er die Reproduktionsthematik in den Zusammenhang
einer Ideologie der Verfügbarkeit. Sie macht aus »dem Kind ein
rational geplantes Projekt mit zahlreichen Beteiligten« (262) – und
das mit einer gewissen moralischen Überheblichkeit, die Kritik
rasch zur konservativen Bedenkenträgerei macht. Metzger sieht mit
der künstlichen Befruchtung eine Steigerung der Komplexität auf die
familiäre Konstellation zukommen, weil das Moment der Fremdheit nur
schwer aufzulösen ist. Im Grunde sind (weibliche und männliche)
Phantasien über die heterosexuelle Urszene der unbewusste
Bezugspunkt für die Einschätzung technisch vermittelter
Befruchtung. Abgesehen von den noch nicht ausreichend bekannten
Folgen für den Nachwuchs steht der Autor gendertheoretischen
Annahmen skeptisch gegenüber, die »künstliche Befruchtungen als
eine Möglichkeit der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit« (273)
betrachten. Die Delegation des Kinderwunschs an die
Reproduktionsmedizin löse keine Machtstrukturen auf, sondern Macht
werde nur verschoben.
Fazit
Im Rückblick auf die Beiträge ist zunächst festzuhalten, dass den
beiden Herausgebern eine Zusammenstellung von Texten gelungen ist,
die sich bei allem Engagement für ein bio-psycho-soziales
Verständnis von Geschlecht und Geschlechterbeziehungen durch eine
nüchterne Argumentation auszeichnen und auf jede Polemik
verzichten. Gleichgültig, von welchen theoretischen oder klinischen
Ausgangspunkten her die Diskussion eröffnet wird, sie macht für
mich deutlich, dass, entgegen patriarchalischen Ideologien und
gendertheoretischen Verkürzungen,
1. Männlichkeit immer noch ein »dunkler Kontinent« ist, über den
gerade wegen seiner Mehrdimensionalität nur hypothetisch gesprochen
werden kann;
2. eine Annäherung an das Verständnis von Männlichkeit ohne das
Verständnis von Weiblichkeit unmöglich ist;
3. in der vorgeburtlichen wie in der nachgeburtlichen Entwicklung
die virtuelle oder reale Triade eine zentrale Rolle für die
Herausbildung der männlichen Identität spielt.
Die zahlreichen Fallvignetten sind in ihrer Funktion als
Ausgangspunkte für die Theoriebildung wie als plausible
Bestätigungen für theoretische Annahmen gleichermaßen wertvoll.
Fazit: Das Buch ist eine Bereicherung für die psychoanalytische
Theoriebildung und ein lesenswerter Band für alle, die an
Geschlechterfragen interessiert sind, Männer wie Frauen.
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