Rezension zu Vom Menschen in der Medizin
Dr. med. Mabuse, Nr. 231, Jan./Feb. 2018, 43. Jahrgang
Rezension von Stephan Heinrich Nolte
In seinem Buch plädiert Volker Roelcke, Medizinhistoriker in
Gießen, für einen Perspektivenwechsel im medizinischen Denken und
Handeln. Vorgestellt wurde das Buch in einem Symposium mit dem
Titel »Zur Bedeutung der Kulturwissenschaften für die Medizin« am
25. Oktober 2017 in Gießen, auf dem die Thematik aus den
Blickwinkeln von Medizinhistorikern, Sprach- und
Kulturwissenschaftlern sowie Medizinjournalisten beleuchtet
wurde.
Das gegenwärtige Medizinsystem gibt Handlungsanreize, die meist
nicht dem Patientenwohl dienen. Von einer kurzsichtigen,
reduktionistischen und selbstüberschätzenden Medizin, die sich wie
ein unerzogenes Kind aufführt, war die Rede, und immer wieder
stellte sich die einfach erscheinende Frage, warum die Ärzte nicht
das Beste für ihre Patienten tun, deren Perspektive konsequent
ignoriert wird. Durch Überversorgung wird in Industrieländern heute
mehr Schaden angerichtet als durch Unterlassung, Kampagnen wie
»choosing wisely« können nur ansatzweise das Bewusstsein dafür
verändern und halten sich oft mit Marginalien auf.
Die Vermarktung medizinischer Erfolge wirft die Frage auf, was
eigentlich »Erfolg« in der Medizin ist – Lebensverlängerung um
jeden Preis, etwa Chemotherapie in einer Palliativsituation? Nur am
Rande existiert neben dem Patienten und seinen Diagnosen der kranke
Mensch, in seiner biografischen Einzigartigkeit, seinen Lebens- und
Krankheitskonzepten und seinen sozialen Bezügen. Der kulturelle
Lebenszusammenhang auf der einen Seite, auf der anderen Seite die
Paradigmen der Wissensentstehung, Vermittlung und Anwendung, also
auch deren kulturelle Bedingtheit, machen eine
kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise unumgänglich und
benötigen eine Erweiterung des biomedizinischen Paradigmas. Zwar
schafft die Biologie die Bedingungen von Kultur und ist ihre
Voraussetzung, jedoch können weder Natur und Biologie des Menschen
noch sein Leiden und seine Befindlichkeit kulturfrei betrachtet
werden. »Alle Konzepte von Natur und alle praktischen
Auseinandersetzungen mit ihr – inklusive der Naturwissenschaften –
sind ein Reflex geschichtlicher Kultur« – und damit kontinuierlich
im Wandel. »Wer die Subjektivität der Kranken, ihre Haltung zum
Kranksein und ihr konkretes krankheitsbezogenes Verhalten verstehen
möchte, ist darauf angewiesen, den kranken Menschen als kulturelles
Wesen zu betrachten«.
Roelcke möchte in seinen Überlegungen die Berücksichtigung
psychosozialer Faktoren und Bedeutungszuschreibungen nicht nur auf
den Patienten, sondern auch auf den Arzt und Forscher als
kulturelle Wesen erweitern: Auch Naturwissenschaften sind nicht
objektiv und kulturfrei. Der Wunsch nach einer in die Medizin
integrierten Selbstreflexion auf die kulturellen Prämissen, das
Denken und Handeln, die Art der Wissensgenerierung und nicht
zuletzt die Wertsetzungen gipfelte auf der Tagung in der Forderung,
Strukturen eines interdisziplinären kulturwissenschaftlichen
Konsils im klinischen Alltag zu etablieren. Denn, wie der
griechische Philosoph Epiktet es sinngemäß formuliert hat: Nicht
die Dinge an sich beunruhigen, sondern die Sicht der Dinge. Und
diese ist soziokulturell geprägt.