Rezension zu Raum und Psyche
Sozialpsychiatrische Informationen, 48. Jahrgang, 1/2018
Rezension von Samuel Thoma
Die vorliegende Veröffentlichung geht auf ein Symposium vom Juli
2015 anlässlich der Renovierung der Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie am Campus Charite Mitte zurück. Für den Band konnten
renommierte Vertreterinnen verschiedenster Disziplinen aus Politik,
Psychiatrie & Psychiatriegeschichte, Philosophie, Architektur und
schließlich auch der Kunst gewonnen werden.
Bezüglich des künstlerischen Aspekts sei als Erstes auf die
illustrierte Tanz- und Musik-Performance »Raumausloten«
eingegangen. Sie ist aus der Genderperspektive für die vorliegende
Info-Ausgabe von besonderem Interesse. Es handelte sich um eine vom
Ensemble »unitedberlin« begleitete und von der Compagnie »Sasha
Waltz & Guests« in den Räumen der alten Nervenklinik der Charite
dargestellte Choreografie des Künstlers Jifi Bartovanec. Ich
beschränke mich auf einige subjektive, ästhetische Eindrücke: Auf
dem ersten Foto werden drei Frauen mit langen Haaren gezeigt, die
leichte, weiße, am unteren Ende rot gefärbte Kleider tragen und
sich in ausladenden Bewegungen dem Wiesenboden entgegenzuneigen
scheinen, während ein Mann auf einer Trommel den Takt schlägt. Dazu
findet sich u.a. der Kommentar: »Man meets nature.« Dann
Szenenwechsel: Zwei Frauen in dunklen, luftigen Gewändern recken
sich lasziv-leidend einen Gang entlang und umgarnen dabei einen
ausdruckslos geradeaustrompetenden Mann mit weißem Hemd und Fliege.
Erneuter Szenenwechsel zum Erdgeschoss der Nervenklinik: Ein
weiteres Mal bewegen sich die Tänzerinnen in den weißen Kleidern
mit der rot eingefärbten Unterpartie schwungvoll, die langen Haare
durch die Luft wirbelnd in einem geometrischen Raum. Es folgt ein
gefüllter Vorlesungssaal: Diesmal tragen die Frauen – nun als Musen
benannt – graue und lilafarbene Kleider. Sie balancieren über die
Vorlesungsbänke, eine von ihnen schwingt ihren Rücken mit offenem
Mund und geschlossenen Augen neben dem Katheder ekstatisch in die
Höhe.
Diese Beschreibungen mögen genügen, um deutlich zu machen, dass
diese Performance einem eindeutigen und in meinen Augen
fragwürdigen Gendercode folgt. Dieser ist binär und eindeutig: Mann
= körperloser Geist, geordnete Ruhe, Selbstkontrolle, Vernunft.
Frau = körperliche Natur, bewegtes Chaos, Gefühl, Leid, Wahnsinn –
Wahnsinn, der, so suggeriert m.E. die Performance, sich zum
ordnenden, männlichen Takt bewegt, wild durch geometrische und
klare Räume tobt oder sich schließlich im Vorlesungssaal vor dem
Publikum entlädt (man denke an die eben hier vor einhundert Jahren
wohl zur Schau gestellten hysterischen Anfälle). Anstatt diese
dichotomen Kategorisierungen gerade für die heutige Psychiatrie zu
reflektieren oder in ihrer vermeintlichen Notwendigkeit zu
problematisieren – wie es das Ziel des vorliegenden Hefts ist –,
schreibt die Performance sie in einer in meinen Augen allzu naiven
und plumpen Weise fort. Es fällt angesichts dieser Eindeutigkeit
der geschlechtlichen Kategorien, die die Bilder derart dominieren,
schwer, irgendeine Form von »mystery« und »weirdness« (Kommentar
der Illustration), geschweige denn eine »Darstellung
verschiedenster innerseelischer Räume« (Haslinger) zu erkennen.
Fragen, die sich mir im Anschluss hieran stellen: Wieso begreift
der Künstler Natur, Gefühl und Wahnsinn als weiblich und Ordnung,
Klarheit und Kontrolle als männlich? Wie kommt es dazu, dass diese
kulturelle Unterscheidung derart selbstverständlich für ihn ist?
Was liegt jenseits (oder diesseits) dieser Dichotomisierungen?
Nach dieser kritischen (und freilich subjektiven) Analyse wird nun
auf die weiteren Beiträge des Buchs eingegangen. Die für den Band
leitende Frage stellt der Herausgeber Bernhard Haslinger in seiner
Einleitung: »Welche Bedeutung (...) haben in unserer Zeit, in der
Begriffe wie Effizienz, Evidenz und Gewinnmaximierung das
Gesundheitssystem dominieren, Freiräume für Unbewusstes,
Unberechenbares und Überraschendes? (...) Welche Räume hält eine
Gemeinschaft wie unsere Gesellschaft bereit für ihre Mitglieder in
seelischen Krisen und Grenzsituationen?« (S. 22)
Die Aufsatzreihe wird dann durch den Vortrag von Peter Sloterdijk
eröffnet, der eine gelungene Zusammenfassung
philosophisch-anthropologischer Debatten aus den 1920er-Jahren um
die Offenheit und Verletzlichkeit der menschlichen Welterfahrung
bildet und diese kulturtheoretisch einordnet.
Als Nächstes befasst sich der Psychiatriehistoriker Thomas Beddies
mit dem historischen Verhältnis von Psychiatrie und Anstaltsbau am
Beispiel der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charite auf dem
Campus in Berlin Mitte während des Übergangs vom 19. zum 20.
Jahrhundert. Beddies gibt Einblick in die Kriterien, nach denen
damals der psychiatrische Raum gestaltet wurde: So wurde etwa bei
der Planung eines neuen Hörsaals darauf geachtet, »dass die
Patienten nach Krankheitsart und Geschlecht getrennt in den Hörsaal
gebracht werden konnten« (S. 52). Die Präsentation von Patientinnen
zu Lehrzwecken spielte dabei insgesamt eine wichtige Rolle. Beddies
macht zudem deutlich, dass die damalige Psychiatrie immer auch
Wohnraum für Bedienstete war, die im Klinikum mietfrei
logierten.
Anschließend geht Thomas Bock auf die Beziehung von Raum und Psyche
aus sozialpsychiatrischer, anthropologischer und trialogischer
Sicht ein. Sein Vortrag stellt eine Synthese seiner bisherigen
Konzepte aus raumtheoretischer Sicht dar und schließt in Teilen an
Sloterdijks Ausführungen an.
Ein gesundheitsökonomisches Schlaglicht auf die Thematik wirft Hans
Joachim Salizes Beitrag. Der Autor unterstreicht zum einen, wie die
Psychiatriereform und Ambulantisierung der Versorgung den
öffentlichen Raum in den letzten Jahrzehnten verändert habe. Zum
anderen beklagt er, dass eben diese Versorgung heute vor allem von
ökonomischen Interessen geleitet sei, wobei die Gestaltung des
Behandlungsraums geografisch oder architektonisch kaum eine Rolle
spiele.
Wie die architektonische Ausgestaltung von Räumen konkret aussehen
könnte, analysiert daraufhin Christine Nickl-Weller. Die Autorin
befasst sich mit dem Raum der Stadt als »gebaute Umwelt«, die einen
negativen Effekt auf unsere psychische Gesundheit haben könne. Dem
folgt ein historischkritischer Blick auf die Architektur einstiger
»Tollhäuser und Irrenschlösser«, woraufhin die Autorin das Konzept
der ›healing architecture‹ für die Psychiatrie vorstellt. Wichtige
Bestandteile dieses Konzepts sind für sie u. a. eine hohe
Durchlässigkeit für Tageslicht, der Zugang zur Natur sowie die
Bereitstellung individueller Rückzugsbereiche.
Nach der bereits erwähnten Darstellung der Tanzperformance bildet
dann Eckart Rüthers und Angelica Gruber-Rüthers Collage der
Podiumsdiskussion einen gelungenen Abschluss des Aufsatzbandes.
Fazit: Abgesehen von einer aus gendertheoretischer Sicht
problematischen Kunstperformance stellt der Band eine gelungene
Zusammenstellung verschiedener Perspektiven auf das
Spannungsverhältnis von Raum, Psyche und Psychiatrie dar. Auch wenn
der Band dabei keine abschließenden Antworten auf die Frage danach
gibt, welche Räume unsere Gesellschaft »für ihre Mitglieder in
seelischen Krisen und Grenzsituationen« (Haslinger, S. 22)
bereithält und bereithalten sollte, regt er doch dazu an, dieser
Thematik theoretisch wie praktisch in Zukunft mehr Beachtung zu
schenken.