Rezension zu Das lebendige Gefüge der Gruppe
BASYS – Berichte des Arbeitskreises für Systemische Sozialarbeit, Beratung und Supervision, Nr. 43, Heft 2/2017
Rezension von Michaela Judy
Das Rangdynamik-Modell von Raoul Schindler, so beschied mir vor
einigen Jahren eine bekannte Beraterin, sei ja nun wirklich
veraltet. Auf meine Nachfrage zeigte sich, dass das
Rangdynamik-Modell als weitenteils statisch verstanden wurde, die
dynamischen Positionen in Gruppen als eher personenbezogene
Zuschreibungen. Die immer noch durch die Literatur geisternden
»Alpha-, Gamma-und Omega-Typen« haben hier ihre Quelle.
Raoul Schindler selbst schreibt schon 1957 anderes: »... Die Gruppe
ist primär ein psychologisches Phänomen. Es entsteht, wenn sich
einzelne Menschen aus einer unverbundenen Menge gegenüber einem
gemeinsamen Ziel in einer Aktion zusammenschließen. ... Es
erlischt, wenn die verbindende Dynamik aufhört, gleichgültig ob die
Menschen selbst nun auch räumlich auseinandergehen oder
beisammenbleiben.« (S. 105)
D.h. nur in der funktionalen Positionierung gegenüber dem
Ziel/Gegenüber der Gruppe sind die Positionen identifizierbar.
Es handelt sich nicht um Rollen in, sondern um Funktionen der
Gruppe, die Dynamik entfaltet sich nach Schindler im Dienste der
Affektregulierung und Angstabwehr der Gruppe.
Dass das Rangdynamik-Modell auch von Profis immer wieder so ungenau
verwendet wurde und wird, liegt nicht zuletzt an Raoul Schindler
selbst, der zwar mehrere Artikel zu seinem Modell, aber keine
zusammenhängende Publikation hinterlassen hat.
Diese Lücke haben nun die Herausgeberinnen Christina Spalier,
Konrad Wirnschimmel, Andrea Tippe, Judith Lamatsch, Ursula
Margreiter, Ingrid Krafft-Ebing und Michael Ertl gefüllt. »Das
lebendige Gefüge der Gruppe« ist weit mehr als eine Sammlung
ausgewählter Schriften, wie der Untertitel verspricht. Es bietet
darüber hinaus eine kritische Würdigung des Lebenswerks von Raoul
Schindler. Sie wird eingefügt in die historische Entwicklung der
Persönlichkeit Schindler in den gesellschaftlichen Kontext der Zeit
vor, während und nach dem 2. Weltkrieg, in das Experimentieren mit
zunächst Psychotherapie in der Psychiatrie, dann neuen Konzepten –
zunächst der Gruppentherapie in der Psychiatrie, dann der bifokalen
Gruppentherapie, in der erstmals parallel zur Krankenbehandlung
auch mit Angehörigengruppen gearbeitet wurde.
Die Erfahrungen aus diesen Versuchen schufen die Basis sowohl für
die Schindler/'schen Ansätze der Psychiatriereform wie auch für die
Entwicklung des Rangdynamik-Modells, und in weiterer Folge für die
Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Dynamiken von Ausgrenzung
und Macht. Mit der Gründung des ÖAGG hat Raoul Schindler eine
Plattform geschaffen, die sich nach seiner Vorstellung der
Untersuchung und dem Verständnis von Gruppen- und
Gesellschaftsdynamiken im Innen wie im Außen widmen sollte. All
diese Themen finden in der vorliegenden Publikation ihren
Platz.