Rezension zu Vom Menschen in der Medizin
niedersächsisches ärzteblatt, 90. Jahrgang, Dezember 2017
Rezension von Paul Kokott
Medizin als Kulturelement
Psychosoziale Faktoren sind zwar nicht identisch mit Kultur, ihre
Wirkung ist aber ein wichtiger Indikator für deren Präsenz auch in
der körperlichen Verfassung von Menschen. Dass psychische und
soziale Faktoren signifikante und reproduzierbare Auswirkungen auf
Krankheitsentstehung und Prognose auch bei gravierenden
körperlichen Zuständen haben, kann als gesichert gelten. Die
konkrete psychische Verfassung eines Menschen ist Resultat davon,
wie der Betroffene die jeweilige Situation wahrnimmt und deutet.
Für den Arzt geht es um die überlegte Auswahl aus vorhandenen
Wissensbeständen in Abhängigkeit von der konkreten Situation und in
Abstimmung mit den subjektiven Bedürfnissen des Patienten. Das
vorliegende Werk diskutiert Problemwahrnehmungen, Fragestellungen
und Bewertungskategorien auf der Grundlage kulturwissenschaftlicher
Einsichten und Wissensbestände. Das Kapitel »Schmerz« etwa
betrachtet die Wichtigkeit der subjektiven Dimension für die
Schmerzwahrnehmung, für Bedeutungszuschreibungen und auch für das
Schmerzverhalten von kranken Menschen. Das Kapitel »Der ›gute‹ Tod«
setzt sich u.a. mit dem Hirntodkonzept aus einer
kulturwissenschaftlichen Perspektive auseinander. Im Kapitel
»Ärzteschaft und Professionalität« befasst sich der Verfasser mit
dem Selbstverständnis der Ärzteschaft als Berufsgruppe und
resümiert: »Die Ärzteschaft kann erheblich gewinnen, wenn sie nicht
die ärztliche Autonomie und Standesehre, sondern glaubhaft das Wohl
des kranken Menschen zur obersten Maxime von professionellem
Handeln macht.« Die Betrachtungen im Kapitel »Medizin – eine
(Kultur-) Wissenschaft« gelangen zu der These, dass die Medizin als
Wissenschaft heute neben der »Natur« des Menschen gerade auch die
Kultur im Sinne der Weltdeutungen und Bedeutungszuschreibungen zum
menschlichen Körper wie zu menschlichen Verhaltensweisen zum
Gegenstand hat und dass sie gleichzeitig selbst ein konstitutiver
Teil der Kultur ist. Ein spannendes, informatives und
anspruchsvolles Sachbuch, das Patienten wie Ärzte in einen
kulturhistorischen Gesamtzusammenhang stellt und die vordergründig
naturwissenschaftliche Akzentuierung medizinischen Wirkens
hinterfragt.