Rezension zu Kritik der Neuropsychologie
Theologie und Philosophie, Vierteljahresschrift, 92. Jahrgang, Heft 3, 2017
Rezension von Bernhard Grom
Mit den Fortschritten der Neurowissenschaften entwickelte sich seit
den 1990er Jahren eine Neuro-Euphorie, die nicht nur die Medien,
sondern auch Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen erfasst
und utopische Erwartungen geweckt hat. Durch »Neurodidaktik« wollte
man gehirngerechtes Lehren und Lernen, durch »Neuropsychotherapie«
eine wissenschaftlich begründete Behandlung von psychischen
Störungen, durch pharmakologisches »Neuroenhancement« eine
Steigerung von Gedächtnisleistung und Konzentration und durch
»Neurotheologie« ein naturwissenschaftlich fundiertes Verständnis
von Religion erzielen. In dem vorliegenden Bändchen setzen sich H.
Werbik, emeritierter Professor für Psychologie an der Universität
Erlangen-Nürnberg und aktuell Universitätslektor an der Sigmund
Freud Privatuniversität in Wien, sowie G. Benetka,
Psychologieprofessor an derselben Hochschule, kritisch mit den
Ansprüchen und Auswirkungen der zur Leitwissenschaft erhobenen
Hirnforschung auseinander.
Sie nennen ihren Diskussionsbeitrag eine »Streitschrift«.
Tatsächlich ist darin von der »Krudität mancher Äußerungen« (34),
von »philosophischen Entgleisungen in die Bahnen eines
Vulgärmaterialismus« (35), vom »Verbiegen und Erfinden von Fakten«
(55) und einer »kräftigen Aufmischung durch plausibel und halbwegs
gelehrt klingende Rhetorik« zum Zweck der Feuilletontauglichkeit
(86) die Rede. Hauptgegner sind medienwirksame Neurowissenschaftler
wie Gerhard Roth, Wolf Singer und die Autoren eines Manifests, das
2004 in der Zeitschrift »Gehirn und Geist« veröffentlicht wurde.
Doch der Streit wird mit wohlüberlegten sachlichen Argumenten
geführt, wobei die Autoren Einwände von Wissenschaftlern wie M. R.
Bennett/P. M. S. Hacker (2012), S. Schleim (2011) und das
Memorandum »Reflexive Neurowissenschaft« von F. Tretter/B.
Kotchoubey (2014) aufgreifen und weiterführen.
Sie leugnen keineswegs die Verdienste der Neurowissenschaften
(benennen sie allerdings auch nicht) und wollen diese auch nicht
bekämpfen. Ihre Kritik gilt vielmehr den Grenzüberschreitungen
prominenter Hirnforscher und deren Bestreben, mit dem Pochen auf
naturwissenschaftliche Exaktheit die Psychologie auf
neurowissenschaftliche Forschung, auf »Neuro«psychologie zu
reduzieren. In ihrer Diskussionsstrategie lassen sich drei Ziele
erkennen: Sie wollen zeigen, dass alle Versuche, Psychologie in
Hirnforschung umzuwandeln, bisher (1) wenig zur Lösung
psychologischer Fragen beigetragen haben, dass sie (2) mit der
Reduzierung des Psychischen auf Gehirnvorgänge ein falsches
Verständnis vom Menschen fördern und (3) die Selbständigkeit der
Psychologie bedrohen.
In einem ersten Schritt untersuchen die Autoren die Grundannahme
der Neuropsychologen. Es sei nicht zu leugnen, dass menschliches
Erleben mit Gehirnprozessen zusammenhängt. Doch die Hirnforschung
gehe von dem psychophysischen Axiom aus, dass bestimmte Erlebnisse
ganz bestimmten physiologischen Prozessen zugeordnet und damit
erklärt werden können. Das sei aber eine apriorische Setzung, die
empirisch nicht zu überprüfen, sondern philosophisch zu diskutieren
sei. Hier mangele es dieser Argumentation an
»kritisch-philosophischer Vernunft« (20).
Will man Aussagen über Willensfreiheit, Moralvorstellungen und
andere Themen der Psychologie formulieren, so kommen auch
philosophische Grundannahmen zum Leib-Seele-Problem bzw. moderner:
zum Körper-Geist-Problem ins Spiel, die zu klären sind. Die Autoren
referieren und kommentieren dazu zwölf Lösungsversuche und optieren
für einen Aspektdualismus, der lediglich voraussetzt, dass
körperliche und seelische Prozesse miteinander korrelieren. So kann
auch der Begriff der Seele ohne Descartes Substanzen-Dualismus
wieder als Attribut des lebenden Menschen in die Psychologie
eingeführt werden.
Ausführlich gehen Werbik und Benetka auf jenen »erklärenden
Reduktionismus« ein, der psychische Vorgänge als naturgesetzliches
Geschehen beschreiben will und psychische Entitäten wie Gründe,
Absichten, Hoffnungen und Ängste als alltagssprachliche Fiktionen
zu entlarven und durch naturwissenschaftliche Konzepte zu ersetzen
versucht. Wogegen die Autoren einwenden, dass damit nichts erklärt
werde und ein solcher Reduktionismus mit sich selbst in Widerspruch
gerate, da er sein eigenes Erklären und Wissen auch als Fiktion
werten müsste. In der Praxis würde diese reduktionistische Tendenz
dazu führen, dass man Menschen in Beratung und Therapie nur noch
technisch untersucht und auf Selbstauskünfte verzichtet sowie
Mitmenschen (und sich selbst) nicht mehr als Personen mit
Verantwortung und einer individuellen Lebensgeschichte versteht.
Mit Bennett und Hacker kritisieren sie den »mereologischen
Fehlschluss«, der einem konstituierenden Teil eines Lebewesens,
hier dem Gehirn, Attribute zuschreibt, die nur auf das ganze
Lebewesen zutreffen. So kommt es zu Aussagen mit Kategorienfehlern
wie: »Unser Gehirn denkt und empfindet«, und Kommunikation wird zum
»Dialog zwischen Gehirnen«. Überzeugte materialistische Monisten
schreiben u. U. dem Gehirn Personalität und andere Eigenschaften
zu, die dualistische Cartesianer einst dem Geist vorbehalten haben.
Die Psychologie, die mit der Aufgabe des Seelenbegriffs den Blick
für das empfindende und handelnde Subjekt verloren habe, komme
dieser Begriffsverwirrung und reduktionistischen Tendenz willig
entgegen.
Doch welchen Grad an Genauigkeit erlauben bei der Zuordnung von
bestimmten psychischen Akten zu voneinander abgrenzbaren
Hirnregionen die Forschungsmethoden, die die Hirnforschung
anwendet? Die Autoren erörtern Leistung und Grenzen von
EEG-Forschung, Funktionaler Magnetresonanztomografie (sie
ermöglicht nur ungenaue Angaben, weshalb es z. T zu
widersprüchlichen Zuschreibungen kommt) und Läsionsforschung.
Letztere zieht ihre Schlüsse aus Beobachtungen an Patienten mit
Hirnschädigungen. Sie sind schwer generalisierbar, ganz abgesehen
davon, dass manche Forscher mit dem biographischen Material
ausgesprochen fantasievoll umgegangen sind und Hirnerkrankungen
ohne Persönlichkeitsveränderung nicht berücksichtigt haben.
Weit über ihren Fachbereich hinaus sorgte die Behauptung vieler
Hirnforscher für Diskussionen, die Willensfreiheit habe sich
wissenschaftlich als Illusion erwiesen: Unsere psychische Aktivität
sei zuvor durch Vorgänge im Gehirn determiniert und diese durch
Umweltbedingungen und -wahrnehmungen festgelegt, so dass der Wille
nur ein kausal bedeutungsloses Epiphänomen darstelle. Doch, so
meinen Werbik und Benetka, haben gerade die Fortschritte bei
Neuroimplantaten u. Ä. bewiesen, dass freies Wollen möglich ist:
Ein Arm- oder Beinamputierter kann durch eine Bewegungsvorstellung,
die mittels EEG aufgezeichnet und in Computersignale umgewandelt
wird, eine Prothese bewegen. Um die Frage grundsätzlich anzugehen,
sichten die Autoren philosophische Positionen zum Thema Freiheit
und Determinismus. Sie plädieren für einen schwachen Begriff von
Determination im Sinne der »inclinationes naturales« des Thomas von
Aquin, der offenlässt, ob es zu einer der Inklination
entsprechenden Handlung kommt, so dass Wahlfreiheit mit
Naturkausalität vereinbar ist. Die Psychologie macht demnach –
anders als die Naturwissenschaften – keine
naturgesetzlich-deterministischen Vorhersagen, sondern stellt nur
Inklinationen fest.
Eine kritische Prüfung des bekannten Libet-Experiments und seiner
Abwandlungen führt zu dem Einwand, dass die Interpreten, die daraus
die Nichtexistenz der Willensfreiheit ableiten, übersehen, dass
Introspektion immer Retrospektion (F. Brentano) bedeutet und die
Entstehung einer Absicht und ihre gleichzeitige Wahrnehmung nicht
möglich ist. Die Instruktion an die Versuchsperson löse auch eine
determinierende Tendenz (N. Ach) aus, die unbewusst bleibe. Die
Mainstream-Neurowissenschaft nehme experimentelle
Forschungsergebnisse, die ihrem Mythos widersprechen, nicht zur
Kenntnis. Fazit: »Weder freier noch unfreier Wille lässt sich
beobachten, da wir kein neuronales Korrelat von Freiheit kennen«
(N. Birbaumer 2004). Was Wille ist, werde durch einen sozialen
Interaktionsprozess erzeugt: »Ich bin frei in meinen Handlungen und
Entscheidungen, weil mich der andere und damit ich mich selbst als
frei anerkenne« (80). Diese kulturpsychologische Konzeption
begründen die Autoren nicht näher, obwohl sie Fragen aufwirft.
Können die Neurowissenschaften der Psychotherapie eine exakte
empirische Grundlage verschaffen, wie es G. Roth u. a. der
Psychoanalyse in Aussicht gestellt haben? Die bisher vorgelegten
Studien zu einer »Neuropsychoanalyse«, meinen die Autoren, konnten
psychoanalytische Konzepte wie Verdrängung nicht
operationalisieren. Deren Gültigkeit sei grundsätzlich durch
Hirnforschung nicht festzustellen, weil Psychoanalyse weitgehend
aus der Perspektive der ersten und zweiten Person und nicht – wie
Naturwissenschaften – aus der dritten Person entwickelt wird. Hier
hätte sich auch eine Auseinandersetzung mit K. Grawes Versuch einer
»Neuropsychotherapie« gelohnt.
Problematische gesellschaftliche Wirkungen der Neurowissenschaften
sehen Werbik und Benetka dann, wenn ihre Vertreter ein extrem
einfaches Menschenbild ohne Willensfreiheit und Schuldfähigkeit
verbreiten und durch »Omnipräsenz in den Medien« bei permanenter
Überscheitung der eigenen Kompetenz Meinungsführerschaft in
sozialen, pädagogischen, gesundheitspolitischen und anderen Fragen
suggerieren. Das habe auch zu einer Bevorzugung von
neurowissenschaftlichen Projekten bei der öffentlichen
Forschungsförderung und zu einer Vernachlässigung der Allgemeinen
Psychologie an den Hochschulen geführt.
In einem Ausblick plädieren die Autoren als Alternative zu einer
Psychologie, die sich als Naturwissenschaft versteht, für eine
Kulturpsychologie, die sich mit Bedeutungen und Sinngehalten
beschäftigt, indem sie vorhandenes Leben beobachtet und expliziert.
Dazu referieren sie kulturpsychologische Ansätze und beschreiben
als grundlegende Methode das autobiografische Erinnern und
Erzählen. Die Grenzen einer solchen Kulturpsychologie werden ebenso
wenig erörtert wie die Frage, ob nicht auch die
quantitativ-statistisch arbeitende Psychologie eine Alternative zu
einer Allzuständigkeit beanspruchenden Neuropsychologie
darstellt.
Die Streitschrift von Werbik und Benetka zeichnet sich sowohl durch
ihre Fachkenntnisse als auch durch ihre grundsätzlichen
Perspektiven aus und verdient eine gründliche
Auseinandersetzung.
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