Rezension zu Fit für die Katastrophe?
Soziale Psychiatrie, 41. Jahrgang, Heft 4/2017
Rezension von Martin Osinski
Spätestens mit Aaron Antonovskys grundlegenden Arbeiten zur
Salutogenese hat ein Begriff aus der Physik in Psychologie und
Psychiatrie Einzug gehalten: »Resilienz« (von lat. ›resilire‹ –
zurückspringen, abprallen). Die deutsche Wikipedia unterscheidet
gegenwärtig fast ein Dutzend Anwendungsgebiete des
Resilienzbegriffs, von den Ingenieurwissenschaften bis zur
Zahnmedizin. Auch das Recoverykonzept nutzt ihn: Wie entdecke,
verwende, verbessere ich meine Widerstandskraft, wie gehe ich
gestärkt aus Krisen hervor?
Der Resilienzbegriff ist nicht unumstritten. In einem treffenden
Kommentar stellte Claudia Keller vom Tagesspiegel fest: »Gegen
unzumutbare Arbeitsverhältnisse und wachsenden Leistungsdruck
können starke Gewerkschaften mehr ausrichten als private
Resilienztrainer.« (Der Tagesspiegel, »Resilienz ist das falsche
Mittel gegen Krisen« am 20.11.2016)
Die renommierte Hilfsorganisation medico international verfolgt mit
ihren Hilfsprogrammen den Anspruch, nicht nur Brände zu löschen,
sondern Brandursachen zu bekämpfen. Diesem Selbstverständnis läuft
ein Resilienzbegriff zuwider, der auf bestmögliche Reaktionen der
Betroffenen (Systeme, Gesellschaften, Individuen ...) fokussiert,
ohne die ursächliche Krise zu hinterfragen. Dürren, Epidemien,
Kriege oder Terrorattacken werden als gegeben hingenommen; das
Nachdenken richtet sich vornehmlich darauf, wie die Betroffenen
gegen die Auswirkungen unempfindlicher (gemacht) werden können.
Mit der vorliegenden Textsammlung setzt medico international eine
kritische Würdigung des Resilienzdiskurses fort, der bereits im
Juni 2015 Thema des Symposiums »Fit für die Katastrophe? Der
Resilienzdiskurs in Politik und Hilfe« war. Insgesamt acht Beiträge
untersuchen Resilienzkonzepte aus entwicklungspolitischer,
pädagogischer und psychotherapeutischer Perspektive, aber auch aus
Sicht der Migrationsforschung, der Ökologie und nicht zuletzt der
Ökonomie.
Beispielhaft seien Thomas von Freybergs Thesen, Antithesen und
Synthesen zu Resilienz in der Pädagogik genannt: Das
Resilienzkonzept sei, so von Freyberg, in den letzten Jahren an die
Seite des Ressourcenansatzes in der Pädagogik getreten, habe diesen
»begründet, verstärkt und justiert« (S. 25). Der ursprünglich
reformpädagogische Ressourcenansatz habe aber seine kritische
Frontstellung in den letzten Jahrzehnten aufgegeben – heute handele
es sich eher um ein »affirmatives Konzept der Konfliktvermeidung
oder Konfliktverharmlosung« (S. 27). Mit anderen Worten: Die
Betonung der individuellen Ressourcen und Widerstandsfähigkeit
entbindet Politik und pädagogische Praxis von der Benennung und
Bekämpfung gesellschaftlich verursachter Defizite und Störungen.
Von Freyberg resümiert: »Wer nicht über die Notwendigkeit,
Bedingungen und Möglichkeiten des Widerstands gegen die
gesellschaftlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse reden will,
sollte über Resilienz und Ressourcen der Individuen schweigen.« (S.
33)
Wem das zu klassenkämpferisch ist, der wird vielleicht etwas Mühe
mit der Lektüre haben. Vielleicht leuchten ihm oder ihr aber die
Analysen von Methmann und Oels (S. 57 ff.) ein, die sich mit den
Auswirkungen des Klimawandels befassen: Das Ziel der Begrenzung der
globalen Erwärmung werde aufgegeben. Stattdessen richte sich das
Augenmerk auf die Anpassung an die Folgen. Nicht zuletzt werde
neoliberal längst die »Resilienz-Dividende« (Rodin 2014) geplant.
Dazu gehöre auch, frühzeitig die Entschädigungsforderungen
derjenigen Staaten abzuwehren, deren Territorien demnächst unter
den Meeresspiegel fallen ... Gute Arbeit, Pflichtlektüre für
Angehörige, Sympathisanten und Kritikerinnen der Soltauer
Initiative.
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