Rezension zu Schwule Sichtbarkeit - schwule Identität
www.fixpoetry.com vom 7. Dezember 2017
Rezension von Kevin Junk
Minderheiten gegen Minderheiten?
Kritische Perspektiven
Kritische Perspektiven verspricht der Band »Schwule Sichtbarkeit –
schwule Identität« von Heinz-Jürgen Voß und Zülfukar Çetin.
Dabei nehmen die beiden Autoren das Thema »schwul« aus der
Perspektive ihrer jeweiligen Forschung auseinander und legen zwei
Perspektiven auf das gleiche Phänomen vor. So geht der
Sexualwissenschaftler Voß kritisch in die historische Perspektive
auf Homosexualität als Phänomen der Moderne ein. Çetin dagegen geht
wesentlich soziologischer vor und betrachtet die jüngere Geschichte
der BRD und insbesondere urbane Prozesse in Berlin. Beide
Perspektiven werden locker von Vor- und Nachwort zusammengehalten.
So locker, dass man sich wünscht, es hätte mehr Synthese zwischen
den beiden Perspektiven gegeben, die so bezugsfrei zueinander im
Raum stehen. Kritisch und akribisch sind beide durchaus, wenn sie
zeigen, wie die Befreiungsbewegung der Homosexuellen zum Stillstand
gekommen ist und anstatt Einschlüsse nur noch Ausschlüsse
produziert. In dieser kritischen Perspektive liegt der große
Mehrwert des Bands.
Voß steigt mit einem sehr breiten Wurf ein, denn er skizziert einen
von ihm aufgefächerten Paradigmenwechsel in den
Naturwissenschaften, der sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert
ereignete. Starre Definitionen lösten sich auf, aus Materie wurde
Energie und aus Gewissheiten wurden Wahrscheinlichkeiten. Zur
gleichen Zeit wurde aus einem relativ fluiden Gebiet, der
Sexualität, Schritt für Schritt ein ganze Gesellschaften prägendes
Gebilde. Die Homosexualität wurde installiert und damit auch ihr
Gegenbild, die Heterosexualität. Aus dem »Sodomiten« wurde der
»Homosexuelle«, aus einer Vorliebe wurde eine Sexualität, oder wie
Foucault sagt: aus dem Gestrauchelten wurde eine Spezies. Die
Festschreibung dieser Begrifflichkeiten als Identitätskategorie
teilte die Menschen plötzlich in zwei Richtungen ein, die als
einzige Zwischentendenz die Bisexualität zuließ.
Voß’ Perspektive auf den Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld
bedient sich einer besonders engen Lesart. Der als intellektueller
Mit-Begründer der Homosexuellenbewegung gewürdigte Wissenschaftler
kommt hier im Detail zu Wort. Voß zeigt, wie auch Hirschfelds Blick
auf die menschliche Sexualität erst zu einer neuen Sichtbarkeit
führt. Diese Sichtbarkeit widerspricht zugleich paradoxerweise den
Errungenschaften anderer wissenschaftlicher Perspektiven, die
fluidere Weltbilder entwerfen. Die Sexualität und mit ihr auch
Geschlechtlichkeit wird auf starre Stereotypen heruntergebrochen,
die Hirschfeld in Bildbänden und Schriften dokumentiert. Dabei
bewegt sich Hirschfeld in einem neuen Deutungskontext: War es zuvor
die Justiz, die den Sodomiten verurteilte, ist es jetzt die
Biologie und die Medizin, die den Homosexuellen untersucht. Diese
Untersuchungen, der Gerichtsmedizin entliehen, verlassen dabei die
Suche nach konkreten Beweisen für den Akt zwischen zwei Männern
(denn nur die männliche Homosexualität stand zumeist unter Strafe),
und richten den Blick auf den Menschen als Ganzes. Der Homosexuelle
als Spezies unterscheidet sich nicht nur in seinem Verhalten vom
normalisierten Heterosexuellen, er wird zugleich auch einen anderen
Körper haben müssen und diesen gilt es zu beschreiben. Hirschfeld
tappt in genau diese Falle, die ihm die Geschichte stellt und geht
noch einen Schritt weiter. Er spricht von einer sogenannten »echten
Homosexualität«, einer inneren Einstellung, die er von der
sexuellen Handlung als solche komplett abkoppelt. Diese innere,
echte Homosexualität wird bei Hirschfeld, wie Voß zeigt, zum Medium
für einen latenten Rassismus. Hirschfeld berichtet von Reisen in
»den Süden«, damit meint er Italien, wo er einen »orientalischen
Einfluss« ausmacht. Diese Einfluss führt dazu, dass Männer sich
zwar anderen Männern hingeben, aber zugleich fehlt es ihnen an
einer authentischen Homosexualität, die Hirschfeld in nördlichen
Ländern verortet.
Aus heutiger Sicht sind solche Diskurse nur schwer
nachzuvollziehen. Der Abriss über Hirschfeld zeigt,
welcher Mittel sich die Wissenschaft in der Beschreibung
eines von ihr selbst geschaffenen Phänomens bediente. Voß zeigt
weiter auf, wie die Homosexualität als natürliches Phänomen in
immer wieder anderen Bereichen verortet wird, seit sie erfunden
wurde. Von der äußerlichen Beschreibung bei Hirschfeld, über
Hormondrüsen bis hin zur Genetik und derzeit bei der Epigenetik –
Homosexualität lässt sich nicht festmachen. Dennoch versucht die
Wissenschaft es weiter mit der Biologisierung von sexuellen
Ausdrucksformen.
Çetin macht den Sprung in die Gegenwart und beschäftigt sich mit
der Situation in der BRD und vor allem in Berlin. Was besonders
betroffen macht, ist wie respektlos der Umgang von politischen
Gruppierungen wie dem LSVD gegenüber anderen Gruppen vonstatten zu
gehen scheint. So zeigt Çetin in einem Beispiel, wie eine geplante
Veranstaltung in einer Moschee, die aus Platz- und logistischen
Gründen verlegt werden sollte, seitens des LSVD zu einem Skandal
aufgebauscht wird. Die Schwulen auf der einen, die Muslime auf der
anderen Seite – so einfach ist das Feld aufgeteilt. Auf dieser
simplen Ebene werden in der Hauptstadt Debatten geführt. Dabei
werden Stimmen, die gegenüber Mehrfachdiskriminierung und
Machtkonstruktionen innerhalb von Minderheiten laut werden,
ausgemerzt. Es ist nicht schwer zu sehen, dass eine Debatte, auf
solch starken Vereinfachungen basierend, nicht fruchtbar geführt
werden kann. Die anderen, das sind die Homophoben. In dieser Logik
wird die mehrheitsdeutsche Gesellschaft zu einem Hort der Toleranz
und selbst konservative Politiker erheben das Wort für
Gleichberechtigung von anderen Sexualitäten, wenn sie dafür ihrem
Rassismus freien Lauf lassen dürfen. Çetins Analyse bohrt den
Finger tief in die zerrüttete Situation einer Bewegung, die an ihr
Ende gekommen scheint.
An anderer Stelle wurde dem Band vorgeworfen, er wäre
anti-homosexuell (vor allem eine Rezension im Sammelband
»Beißreflexe« (http://www.querverlag.de/books/beissreflexe.html),
erschienen im Querverlag, erregte Aufsehen). Diese Lesart verkennt
das Potenzial aktueller historischer, soziologischer und
sexualwissenschaftlicher Forschung. Was der Band zeigt, ist, und
das ist keine Neuigkeit, wie Homosexualität als Kategorie
konstruiert ist und welche Gefahren damit einhergehen. Wenn sich
Menschen auf einfache Labels reduzieren lassen, dann steht auf der
einen Seite der Homosexuelle und auf der anderen Seite der Muslim.
Beide schließen sich aus, beide hassen sich und beide lassen sich
gegeneinander ausspielen. Nur gut, dass der Homosexuelle per se ein
weißer Mann ist und damit in einer besseren Position als der Muslim
als solcher. Solange Debatten auf diesem Niveau geführt werden,
solange die Begrifflichkeiten so minderkomplex bleiben, bleibt auch
die Debatte eine minderkomplexe und geht zu Lasten aller
Beteiligten. Vor allem verhindert eine solche Debatte die
Solidarisierung und den Austausch. Voß und Çetin fordern auf dieser
Grundlage ein, die Einteilungen, die uns ein- und ausschließen, die
Minder- und Mehrheiten, die wir angeblich sein sollen, endlich
aufzuheben. Leider gelingt ihnen zwar nicht die Brücke zwischen
Kritik und einem pragmatischen Ansatz, aber ihre theoretischen
Ansätze und ihre kritischen Perspektiven sind ein satter Beitrag zu
einer wichtigen Debatte. Dass diese Argumente gerade denen nicht
gefallen, die sich mit den kritisierten Konzepten
überidentifizieren, kann nicht überraschen.
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