Rezension zu Die fremde Seele ist ein dunkler Wald (PDF-E-Book)

www.socialnet.de vom 6. Dezember 2017

Rezension von Annemarie Jost

Thema und Zielgruppe

17 Millionen Menschen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund, viele von ihnen leben bereits seit Langem in der Bundesrepublik und werden hier älter. Die in diesem Buch publizierte Interview-Studie wirft einen fragenden Blick auf »Migration und Demenz«:

• Wie wird das Phänomen Demenz in Familien mit Migrationshintergrund verstanden?

• Welche Rolle spielen traditionelle Orientierungen?

• Werden Dienstleistungen in Anspruch genommen? Gibt es besondere Notlagen?

Um diesen Fragen nachzugehen, haben die AutorInnen Gespräche mit Angehörigen von Betroffenen und ExpertInnen in Deutschland und in der Türkei geführt. Ausgehend von diesen Erhebungen und deren Auswertung möchten die AutorInnen Ideen und Anregungen liefern, wie Kultursensibilität in Praxis und Theorie stärker verankert werden kann. So richtet sich das Buch sowohl an WissenschaftlerInnen als auch an PraktikerInnen, die mit Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen aus Familien mit Migrationshintergrund arbeiten.

Autorin und Autoren

• Reimer Gronemeyer ist Theologe und Soziologe und im emeritierter Professor am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen.

• Jonas Metzger promoviert am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen.

• Verena Rothe ist Soziologin und Leiterin der Aktion Demenz e.V. mit Sitz in Gießen.

• Oliver Schulz ist bildender Künstler und Germanist und leitet künstlerische Gruppen für Menschen mit Demenz.

Aufbau

Das Buch führt kurz in die Fragestellung, die wissenschaftliche Ausgangslage und den Forschungsprozess ein, um dann die Ergebnisse des Projektes mit acht Fragen zu strukturieren:

1. Wie wird über Demenz gesprochen?
2. Wie wichtig ist die Familie?
3. Welche Bedeutung haben Dienstleistungen?
4. Welche Chance hat Prävention?
5. Welche Aufgaben übernehmen Frauen, welche Männer?
6. Welche Rolle spielt Religion für den Umgang mit Demenz?
7. Wie wird die persönliche Sorge durch Institutionelle Versorgung verändert?
8. Wie wird Demenz verstanden?

Abgerundet wird die Darstellung durch vier Vorschläge: Was wird gebraucht?

Im Anhang finden sich Interviewausschnitte.

Inhalt

Ein wichtiges Ergebnis aus der Studie betrifft die sprachliche Verständigung zwischen Dienstleistern und Menschen mit Migrationshintergrund: »Es fällt Patienten mit Migrationsgeschichte schwer, ihre Bedürfnisse so zu äußern, wie unsere Hilfeeinrichtungen – nach ihrem direkten Kommunikationsstil – es erwarten, um ihre Hilfe auszurichten. … Das professionelle Vokabular des Versorgungssystem bewirkt das Gegenteil seines Auftrags.« Dies macht sich besonders bei der Begutachtung bemerkbar, sodass die Gefahr besteht, dass Menschen mit Migrationshintergrund von Hilfen ausgeschlossen werden.

Im Kapitel über die Familie wird deutlich, dass es hier natürlich große Unterschiede zwischen den Migrantengruppen gibt. Während es in traditionell ausgerichteten Familien noch stärker den Anspruch gibt, es erst einmal selbst zu schaffen, zeigt sich auch in Familien mit Migrationshintergrund – insbesondere in der zweiten Generation – dass der Stellenwert von Religion und kultureller Verpflichtung zum Respekt vor dem Alter und der Familie mit klaren Rollen zunehmend sinkt und die Frage nach der Beziehungsbeschaffenheit stärker in den Vordergrund tritt. Ungeklärt bleibt die Frage, wieweit das Angebot von Dienstleistungen in Migrantenfamilien Modernisierungsprozesse in Gang setzt. Im siebten Kapitel werden zudem potenzielle Missverständnisse thematisiert: Die Empfehlung, die Mutter ins Altenheim zu geben kann nicht nur als Unterstützungsangebot, sondern auch als Kritik verstanden werden.

Bei Menschen mit Migrationshintergrund gilt noch stärker die Devise: Pflege ist weiblich. Aus manchen Interviews wird deutlich, dass pflegende Frauen aus bestimmten Migrantengruppen eine tatsächliche Unterstützung durch Männer gar nicht unbedingt erwarten, geschweige denn einfordern. Hieraus können hohe Druck- und Notsituationen entstehen. Zu berücksichtigen sind auch besondere Scham- oder auch Kontaktgrenzen zwischen den Geschlechtern bei der körperlichen Pflege. Die Bedeutung des Glaubens ist vielfältig: so kann das biomedizinisch geprägte Erklärungsmodell von der Demenz als einer Krankheit von der bedrückenden Vorstellung einer Strafe entlasten. Andererseits wird wiederholt betont, wie sehr der Glaube eine wichtige Kraftquelle für Angehörige darstellt.

Das achte Kapitel ist nicht ganz so inhaltsreich, wie der Titel des Buches erwarten ließ. Manche Angehörige richten sich stark am biomedizinischen Krankheitsmodell aus, andere betonen die Bedeutung emotionaler Verbundenheit, die Bedeutung von Lebenskrisen für die Entstehung der Demenz oder sie thematisieren einen besonderen kulturell geprägten Umgang mit der Entfremdung im Zuge der Demenzentwicklung. Letzteres wird jedoch leider nicht vertieft.

Die vier Vorschläge: Was wird gebraucht? regen partizipative weitere Forschung und Fokusgruppen an und betonen den Bedarf, Kultursensibilität an der Basis des Versorgungssystems anzusiedeln und »Empathie-Schleusen« zu öffnen.

Diskussion

Der Buchtitel suggeriert, dass die Erfahrungen der MigrantInnen tiefe Einblicke in andersartige Demenzkonzepte vermitteln können. Derartige Einblicke finden sich jedoch nur ganz vereinzelt, da in den Interviews zum Ausdruck kommt, dass die Angehörigen aus anderen Kulturen sich häufig auf den biomedizinisch-diagnostischen Kontext beziehen, wenn sie zur Demenz befragt werden.

Die Studie stützt sich auf 22 problemzentrierte, biografische Interviews mit pflegenden Angehörigen, 4 Interviews mit ExpertInnen und auf 8 in der Türkei geführte Interviews mit pflegenden Angehörigen. Zur Kontrastierung fanden noch 5 Interviews mit Angehörigen und einer Expertin ohne Migrationshintergrund statt. Angesichts der großen Heterogenität konnten allerdings keine Spezifika für bestimmte Gruppen herausgearbeitet werden. Das Projekt versteht sich als explorativ.

Fazit

Es handelt sich um eine explorative Interviewstudie aus soziologischer Sicht zum Umgang mit Demenz in Familien mit Migrationshintergrund, die Anregungen liefern möchte, wie Kultursensibilität in Praxis und Theorie stärker verankert werden kann. Sie liefert wertvolle Hinweise zur Verringerung von Zugangsbarrieren im Hilfesystem, bleibt aber bei den kulturspezifischen Deutungsmustern und Demenzkonzepten hinter den im Titel geweckten Erwartungen zurück.

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