Rezension zu Religion(en) im 21. Jahrhundert
Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Hildesheim, Köln und Osnabrück, Dezember 12/2017
Rezension von Andreas Heek
Was die Zukunft der christlichen Religion angeht, hört man in
kirchlichen Kreisen ziemlich oft ein trotziges Selbstmitleid: dass
der christliche Glaube eh verdunste und man doch nur noch auf die
»überzeugt« Glaubenden setzen könne, Und so setzt die Kirche in
weiten Teilen auf ein »mehr vom Selben«, d.h. mehr religiöse
Bildung, mehr Katechese und mehr Verkündigung, neuerdings
methodisch ergänzt durch »Bibel teilen«. Wer wirklich mehr möchte,
als dieses Kreisen um den eigenen Kirchturm, der sollte Bücher wie
das vorliegende lesen.
Entstanden ist die Aufsatzsammlung aus einem KHG-Symposium der
Universität Gießen im Jahr 2015, in dem Jahr, in dem die
Flüchtlingskrise ihren Höhepunkt erreichen sollte. Die Frage des
Symposiums nach den Religionen im 21. Jahrhundert geht dabei weit
über das hinaus, was gemeinhin immer im Zusammenhang mit der
Pluralität der Gesellschaft gefordert wird, nämlich dass man
Geflüchtete integrieren und Migrant(inn)en auf den
»Verfassungspatriotismus« verpflichten müsse.
Einige Beiträge stellen zum einen die Frage nach dem Zustand der
christlichen Religion, um die es in ihrer hergebrachten Form nicht
besonders gut zu stehen scheint (z.B. Thomas Petersens Beitrag
»Religiöse Bindungen in der Gesellschaft«). Zwar bezeichne sich
immer noch eine Mehrheit der Bundesbürger als religiös, aber einer
Kirche oder Pfarrgemeinde fühlten sich viele nicht mehr zugehörig.
Wie könne in dieser Lage die christliche eine Leitkultur sein?
Auf der anderen Seite wird die virulente Frage behandelt, ob »der
Islam« zu unserem pluralen Gemeinwesen passt. Er habe schließlich,
so eine gängige These, die Aufklärung nie erlebt und sei deshalb in
der Vormoderne steckengeblieben. Damit setzt sich z.B. der
hervorragende Aufsatz von Dirk Ansorge »Christentum – Islam –
Aufklärung: ein vielschichtiges Verhältnis« auseinander und
zeichnet ein spannendes und vielschichtiges Bild der theologischen
Tradition des Islams.
Über eine Zukunftsprognose von einigen Religionssoziologen gibt es
heutzutage Einigkeit: Vom Verschwinden der Religionen spricht heute
niemand mehr. Die interessante Frage aber ist: Wie sind Religionen
da? Und: Wie wollen sie sich untereinander und zueinander in
Zukunft verhalten?
Für das Christentum kann gesagt werden, dass es selbst nicht so
bleiben kann, wie es ist, wenn es in der Pluralität der
Sinnangebote bestehen will. Es hat kein Monopol in Sachen
Religiosität und es muss noch stärker als bisher dialogisch werden
– vor allem mit der Lebenswirklichkeit der Menschen, die die
Leitkultur einer Gesellschaft ist.
Der Islam steht, um in der Pluralität dieser Gesellschaft bestehen
zu können, vor der Herausforderung, stärker als bisher Anschluss zu
finden an seine eigene Tradition der »Ambiguitätstoleranz«, d.h
einer Toleranz der Mehrdeutigkeit der heiligen Texte, die auch
impliziert, dass es in der Geschichte des Islams durchaus eine
Phase der »Aufklärung« im 9.–11. Jahrhundert christlicher
Zeitrechnung gegeben hat, in der rationalistische
Erklärungsversuche des Korans unternommen wurden, also an die
Vernunft anschlussfähige Interpretationen.
Seit wir aber spätestens in der Spätmoderne wissen, dass mit der
Ratio nicht das gesamte Wesen des Menschen erfasst werden kann, ist
die Frage nach der Bedeutung des Religiösen und der Religion
durchaus wieder relevant. Dies mögen Atheisten und Agnostiker nicht
gern hören, aber auch sie sind herausgefordert, die Pluralität
menschlicher Suchbewegungen zu akzeptieren.
Der Staat hingegen, dies betont der ehemalige Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse in seinem Beitrag, ist zwar zur religiösen
Neutralität verpflichtet, erkennt aber den Wert und den Einfluss
der Religionen an, weil sie die sinnhaften Voraussetzungen für ein
Gemeinwesen begründen können, die der Staat aus sich heraus nicht
garantieren könne.
Auch wenn die Conclusio des Sammelbandes nicht besonders neu
klingen, so ist sie doch wahr: Toleranz und Dialog, kluge Nähe- und
Distanzwahrung von Kirche/Religion und Staat sind die
Voraussetzungen für ein friedliches Gemeinwesen mit Religionen und
religiösen Gemeinschaften, die wiederum den Staat als
übergeordnetes Ordnungssystem einer Gesellschaft akzeptieren und
unterstützen.
Am Ende dieses vielfältigen und reichhaltigen Buches bleibt
allerdings die sorgenvolle Frage vom Anfang erhalten: wie nämlich
die christliche Religion im Speziellen den Herausforderungen von
Ambiguität in ihren internen theologischen und gesellschaftlichen
Debatten gerecht werden kann und wie sie aus der Falle der
Selbstbespiegelung und des Selbstmitleids herausfinden kann.
Vielleicht liegt die Antwort in der Nähe der These von Michael
Hochschild in seinem Aufsatz »Eindeutig mehrdeutig – Religion in
Bewegung«. Er erahnt zumindest das Christentum in Zukunft als eine
Art »Epireligion«, die nicht als »Große« Erzählung auftrete,
sondern »als ›Kleine‹ Erzählung, die aus und für die jeweiligen
Kontexte konkrete, narrative Verbindungen schafft. (...) Das heißt:
es kommen aus den jeweiligen Kontexten eigene, zusätzliche Faktoren
ins Spiel, die von außen auf Religion Einfluss nehmen und sie im
Innern im Sinne des Kontextes verändern (63)«.
Die Akzeptanz von Ambiguität und das Einüben in eine entsprechende
Diskurskultur kann Religionen zu Epireligionen machen. Aber wie die
derzeitige Kirche die Angst vor solch epochalen Veränderungen ihrer
zugrundeliegenden Theologien überwinden kann, darauf gibt das Buch
leider keine Antwort. Aber ein Symposium ist ja keine Therapie,
sondern bestenfalls Anamnese. Dieser beste Fall ist dem Sammelband
allerdings in hervorragender Weise gelungen.