Rezension zu Migration im Jugendalter
psychosozial, Nr. 150, 40. Jahrgang, Heft 4, 2017
Rezension von Frank Winter
Der Psychosozial-Verlag ergänzt die Herausgabe von Büchern und
Schriften zum Thema Migration durch einen Band von Christine Bär
über erziehungswissenschaftliche Forschung zur Migration im
Jugendalter. Das Thema Migration hat an Aktualität nichts
eingebüßt. Bezog sich der wunderbar gelungene, von Hediaty
Utari-Witt und Ilany Kogan (2015) herausgegebene Band »Unterwegs in
der Fremde – Psychoanalytische Erkundungen zur Migration« eher auf
die Fallstricke und den Sog extremer Destruktionen und Spaltungen
in den Psychotherapien und Psychoanalysen erwachsener Geflüchteter
(s. dazu Tömmel, 2016), so widmet sich Bär den »psychosoziale(n)
Herausforderungen zwischen Trennung, Trauma und Bildungsaufstieg im
deutschen Schulsystem«. Bär begann ihre Forschungen 2009, als
»immigrierte Jugendliche (...) ein exotisches Randthema« (S. 13) an
deutschen Schulen und in unserer Gesellschaft waren. Heute sind
»neu zugewanderte (Flüchtlings)Kinder und Jugendliche vermehrt (im)
Fokus öffentlicher Wahrnehmung« (ebd.). Anders als in den vielen
hervorragenden Beiträgen zu psychoanalytischen Behandlungen und
ethnopsychoanalytischen Fragestellungen (vgl. Bohleber, 2016) oder
geschlechtsspezifischen Fragestellungen der Migration (vgl. Rohr,
2002) rückt Bär in ihren Untersuchungen zunächst soziologische und
politikwissenschaftliche Fragen in den Fokus: Sie erklärt
Migrationsbewegungen (S. 31ff.), betrachtet unterschiedliche
Bedingungen für »nachgeholte Kinder von Arbeitsmigranten« (S.
53ff.) bzw. »das ›Verschicken‹ von Kindern (in ein fernes Land) als
Möglichkeit des familiären Aufstiegs« (S. 57ff.) und äußert sich zu
speziellen »Lebens- und Aufenthaltsbedingungen von
Flüchtlingskindern und -jugendlichen« (S. 73–78). Nicht Leid,
Trauer und Schmerz der Migrant*innen oder die Behandlung extremer
Schicksale sind Gegenstand ihrer Untersuchungen, sondern die
Bildungsschicksale der jungen Menschen. Bär nähert sich der
»Heterogenität der Untersuchungsgruppe« (S. 23) und den Problemen,
die jungen Geflüchteten »in das viergliedrige bundesdeutsche
Schulsystem einzugliedern« (ebd.), über unterschiedliche
psychoanalytische Zugänge wie das szenische Verstehen und
analytische Migrations- und Traumatheorien (S. 107ff.). Besonderen
Raum widmet sie dem Trauerprozess der Geflüchteten – einerseits
bezüglich deren individuellen Fähigkeiten zu trauern, andererseits
aber auch vor dem institutionellen Rahmen unserer Schulen und den
gesellschaftlichen Bedingungen, die innere und äußere
Übergangsräume zur Trauerarbeit eher nicht vorsehen. Das
zwangsläufige Wechselspiel zwischen »inneren Ressourcen« (S. 24)
und den komplexen äußeren Rahmenbedingungen (S. 64, 70ff.), die
nützlich und hilfreich sein können, junge Immigrierte in unserem
Bildungssystem zu halten, entfaltet bei jeder individuellen
Bewältigung von Flucht- und Migrationserfahrungen eine große
Wirkung (S. 162ff.). So diskutiert Bär folgerichtig auch äußere
Widerstände und institutionelle Hemmnisse, die bisweilen den
erheblichen aufzubringenden Integrationsleistungen entgegenstehen
und zu einer »strukturellen Ungleichbehandlung (...)
zugewanderte(r) Jugendliche(r)« führen (S. 163). Sie kritisiert
besonders die im Feld Schule allgegenwärtige »Vorausannahme, dass
Sprachschwierigkeiten mit Leistungsschwierigkeiten gleichzusetzen
sind« (ebd).
Aus ihren Einzelfall- und Feldforschungen leitet Bär im letzten
Kapitel ihres Bandes Folgerungen für das deutsche Schulsystem und
die Lehrerbildung bzw. -fortbildung ab und konstatiert einerseits,
»dass der Unterricht und die Beziehungsarbeit (mit Immigrantinnen)
in den Intensivklassen« an Lehrkräfte »mehrfach hohe Anforderungen
stellen« (S. 167) und dass diese mit ihrer üblichen Universitäts-
und Referendariatsausbildung damit oft überfordert sind. Aber auch
die Geflüchteten sind immer wieder von Überforderungen bedroht –
insbesondere wenn traumatisierende Erlebnisse sie im wahrsten
Wortsinn sprachlos gemacht haben (S. 298).
Hatte Kudritzki 2015 in seinem Kapitel »Home sweet home?« (S.
113ff.) in »Unterwegs in der Fremde« eindringlich die
Schwierigkeiten in der psychoanalytischen Behandlung minderjähriger
unbegleiteter Geflüchteter beschrieben, öffnet Bär ihren Lesern mit
drei sehr unterschiedlichen Fallstudien den Blick für die
Schwierigkeiten junger Immigrierter im schulischen Alltag:
»Yasemin« (S. 191ff.) wuchs bei ihren Großeltern in der Türkei auf,
bis sie zehn war, und blieb bis zuletzt mit dem Leid ihrer nach
Deutschland emigrierten türkischen Mutter projektiv identifiziert,
obwohl diese Mutter sie für die eigene Migration bei ihrer
Großmutter zurückgelassen hatte. Yasemin hält bedingungslos zu
ihrer Mutter und wird durch die unbewusste Erfüllung der
elterlichen Wünsche »zu Leistung (...) und zum Durchhalten
angetrieben« (S. 299). Ihre schulische »Leistungserbringung im
Stillen« (S. 216) und ihr »passives Erleiden der Trennungs(- und
Zusammenführungs)erfahrungen« (S. 220) wendet Yasemin in eine
»aktive transnationale Zukunftsgestaltung« (ebd.). Dies geht
zulasten eigener Lebensimpulse und Lebensträume.
»Linus«, geb. 1988, der »von seinen Eltern von Vietnam nach
Deutschland ›verschickt‹ wurde« (S. 225ff.), hatte eine recht alte
Mutter von fast 50 Jahren aus »adeligem Hause« (ebd.), die in
Nordvietnam verarmt war. Linus schafft »Leistung und Aufstieg um
den Preis der Einsamkeit« (S. 230) dank seiner starken
Willenskraft. Seine Triebkraft ist der unbewusste Auftrag, den
durch den Kommunismus in Nordvietnam beschädigten Bildungsweg der
Eltern fortzuführen (S. 236ff.). Umso größer ist Linus/' und des
Vaters doppelte Enttäuschung, als der eigene Vater den 23-jährigen
Linus bei dessen Reise in die Heimat gar nicht wiedererkennt: Der
eigene Vater hatte einen erfolgreichen und damit großen und starken
Sohn erwartet, der ihn aus Deutschland besuchen würde, und einem
fremden jungen Mann zugewinkt, der »dick, groß und stark« war, aber
eben nicht der eigene Sohn (S. 240). Linus fand, die Eltern seien
»beide sehr alt« geworden (ebd.), und die gegenseitigen Erwartungen
aneinander werden bei diesem Heimatbesuch gründlich und gegenseitig
desillusioniert und führen in völlige Entfremdung.
»Jamila« (S. 20ff.) flüchtete mit ihrer Familie als 14-Jährige aus
dem Irak nach Deutschland. Sie hat eine »offizielle« Version ihrer
Flucht wegen der prekären Nachkriegslage und einer vermeintlichen
Bedrohung ihres Bruders im Irak (S. 264f.) und eine »inoffizielle«
(ebd.), in der es um Bildungschancen und ein besseres Leben geht,
das ihre Eltern sich und den Kindern wünschen. Diese Lebenschancen
haben den Preis etlicher Verluste und Beziehungsabbrüche, die für
Jamila schwer wiegen. Es bleibt eine »eingefrorene Trauer um den
Verlust der Oma« (S. 272), die unvorhergesehen kurz nach der
Migration der Familie im Irak starb. Trennung und Tod kann Jamila
wie viele andere Beziehungsabbrüche seelisch nicht integrieren. Sie
kompensiert sie mit einer »narzisstische(n) Symbiose« zum Vater (S.
287), den sie unbewusst für die erlittenen Verluste verantwortlich
macht. Ihre eigenen Berufsziele und Aufstiegswünsche werden immer
wieder zerstört oder gestört, sodass es Jamila nicht gelingt, ihren
Traumberuf als Ärztin in einer Hilfsorganisation in ihrem
Heimatland umzusetzen.
Im letzten Kapitel »Fazit und Ausblick« (S. 291ff.) gelingt Bär auf
schöne Weise der Blick auf die besonderen Probleme adoleszenter
Migrant*innen: Während für Nichtmigrant*innen die Adoleszenz aus
einem Ablösungs- und Individualisierungsprozess besteht, bleiben
jugendliche und adoleszente Migrant*innen unbewusst stark an ihre
Familien und deren Lebens- oder Aufstiegsträume gebunden. Die durch
Migration entstehenden hybriden bzw. polyvalenten Identitäten (vgl.
Bhabba, 2011; Rohr, 2002) schaffen bei günstiger Prognose
Möglichkeiten, Werte und Identifizierungen, Perspektiven und
Sprachsysteme aus Herkunfts- und Einwanderungsland zu verbinden. Im
ungünstigen Fall bleiben sie unverbunden nebeneinander oder stehen
gar gegeneinander. Elterliche Delegationen eigener Wünsche und das
westlich-individualistische Autonomiegebot verschärfen die Gefahr
innerer Spaltungen ebenso wie die Tatsache, dass junge
Migrant*innen an den deutschen Schulen zumeist keine Lehrkräfte
vorfinden, die durch ihre Anerkennung der Migrationsidentitäten als
außerfamiliäres Vorbild und damit als Bezugsperson taugen, der man
sich mit seiner inneren Zerrissenheit anvertrauen kann und die
behilflich ist, eigene innere Räume zu explorieren: Lehrkräfte, die
Bildungsprozesse steuern, statt über Beziehungsangebote
Entwicklungsprozesse zu begleiten und Möglichkeitsräume zu
schaffen, sind nicht nur für junge Migrant*innen besonders
ungeeignet.
Literatur
Bhabba, H. K. (2011). Die Verortung der Kultur. Tübingen:
Stauffenburg.
Bohleber, W. (Hrsg.). (2016). Heimat, Fremdheit, Migration,
Doppelheft Psyche, 9-10. Stuttgart: Klett-Cotta.
Kudritzki, S. (2015). Home sweet home? Therapeutisches Arbeiten mit
minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen. In H. Utari-Witt & I.
Kogan (Hrsg.), Unterwegs in der Fremde. Psychoanalytische
Erkundungen zur Migration (S. 113-134). Gießen:
Psychosozial-Verlag.
Rohr, E. (2002). Frauen auf der Flucht, im Exil und in der
Migration. In E. Rohr & M. Jansen (Hrsg.), Grenzgängerinnen. Frauen
auf der Flucht, im Exil und in der Migration (S. 11-39). Gießen:
Psychosozial-Verlag.
Törnmel, S.E. (2016). Rezension: Unterwegs in der Fremde. Psyche,
70, 1005-1008.
Utari-Witt, H. & Kogan, I. (Hrsg.). (2015). Unterwegs in der
Fremde. Psychoanalytische Erkundungen zur Migration. Gießen:
Psychosozial-Verlag.