Rezension zu Migration im Jugendalter

psychosozial, Nr. 150, 40. Jahrgang, Heft 4, 2017

Rezension von Emilio Modena

... und es kamen Menschen

Es war der Schweizer Schriftsteller Max Frisch, der angesichts der italophoben Bewegung in den 1960er Jahren treffend bemerkte: Wir haben Arbeitskräfte gerufen – und es kamen Menschen! Die Pädagogin Christine Bär untersucht in ihrer Dissertation »Migration im Jugendalter. Psychosoziale Herausforderungen zwischen Trennung, Trauma und Bildungsaufstieg im deutschen Schulsystem« in diesem Sinn und Geist.

Angesichts der zigtausenden schlimmeren Schicksale von Kindern und Jugendlichen aus dem Süden und Osten, die versuchen, in Europa neue Wurzeln zu schlagen, mag zwar die persönliche Geschichte des Rezensenten nebensächlich erscheinen, ich bin der Wissenschaftlerin aber doch dankbar dafür, in ihrer sorgfältigen Untersuchung alle Elemente wiedergefunden zu haben, die ich auch selbst erlebte. Ich kam mit neun Jahren aufgrund der zweiten Heirat meiner Mutter, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, nach Zürich und kann mich noch heute lebhaft an den Kulturschock erinnern, den ich damals durchmachte. Ich wurde stark übergewichtig und hatte auch andere psychosomatische Beschwerden. Ab der vierten Klasse der Primarschule musste ich verbissen und in mich gekehrt um Anerkennung ringen – nach innen mit Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen und nach außen mit einer fremden und übermächtigen Umwelt. Es war wie ein Marathonlauf bis zum Abitur und der Universität, dessen Kosten ich erst sehr viel später realisierte, als ich schon die hybride Identität eines Italoschweizers erworben hatte. Die Entfremdung von der Mutter und den Verlust der Großeltern begann ich erst als Erwachsener zu betrauern, da während des atemlosen Integrationsprozesses kein Raum für Trauerarbeit war.

Christine Bär gliedert ihre Arbeit in zehn Kapitel, indem sie in einem ersten Teil mit der Beschreibung der Makrosozietät mit ihren politökonomischen Gegebenheiten beginnt, anschließend die verschiedenen Kategorien von Migrationskindern und -jugendlichen auseinanderhält und nach ihren Lebens- und Aufenthaltsbedingungen in der real existierenden deutschen Gesellschaft mit ihrer spezifischen Flüchtlingsgesetzgebung und ihren schulischen Angeboten fragt. Sie entfaltet dabei ein fast enzyklopädisches Wissen in Verbindung mit der Emotionalität der teilnehmenden Beobachterin im Feld der auf Migrantinnen zugeschnittenen pädagogischen Möglichkeiten. In einem zweiten Teil überrascht die Autorin den Leser, indem sie sich tief auf die Subjektivität der immigrierten Jugendlichen einlässt und eine mustergültige Rezeption der psychoanalytischen Theorie der Migration vorlegt. Dazu gehört nicht nur die Erklärung des Kulturschocks und der Integrationsschwierigkeiten, die sich aus dem Zusammenwirken von prämigratorischer Persönlichkeit und den Reaktionen der aufnehmenden Umwelt auf der einen und der Zurückgebliebenen auf der anderen Seite ergeben, sondern auch das Verständnis von Adoleszenz, von männlicher und weiblicher Identitätsentwicklung und der Traumatheorie.

Nach einem auf die schulischen Eingliederungsmaßnahmen für neu zugewanderte Jugendliche zugeschnittenen Zwischenkapitel wendet sich die Forscherin vertieft der Subjektivität der bis dahin in erster Linie theoretisch und rational verstandenen Menschen zu. In diesem dritten Teil erweist sich Christine Bär sowohl als sensible, emotional engagierte Ethnologin als auch als versierte Kulturanalytikerin, indem sie zuerst mit dem Instrumentarium der Ethnopsychoanalyse Jugendliche sucht, die bereit sind, sich auf zwei Interviews mit ihr einzulassen, und anschließend diese Gespräche – welche sie auf Band aufnimmt und verschriftet – nach der Methode des szenischen Verstehens von Alfred Lorenzer interpretiert (tiefenhermeneutische Textinterpretation), wobei sie in einem ersten Schritt eine eigene Deutung erarbeitet (die sie psychoanalytisch supervidieren lässt) und in einem zweiten Schritt eine Auswertung in einer Interpretationsgruppe vornimmt.

Was will man mehr? Die Pädagogin wandelt sich zur Soziologin, Ethnologin und Kulturanalytikerin, um sich zuletzt – im zehnten Kapitel – wieder in die Pädagogin zurückzuverwandeln, die konkrete Verbesserungsmöglichkeiten im deutschen Schulsystem ortet: »Die Aufgabe von Lehrkräften liegt (...) nicht allein in der Wissensvermittlung, sondern auch im Anstoßen und Begleiten von Bildungs- und Entwicklungsprozessen. Folglich haben die Schule allgemein und die Interaktion zwischen Lehrperson und Schülerinnen im Besonderen einen klaren Erziehungs- und ›Beziehungsauftrag‹« (im Original gesperrt). Die Schule und die ganze Gesellschaft muss entsprechend Zeit und Raum zur Verfügung stellen.

Die drei Fallanalysen stehen exemplarisch für die drei Kategorien von jugendlichen Emigrationsschicksalen: Die Kinder, die im Ursprungsland der Eltern bei Verwandten (meist bei Großeltern) zurückgelassen worden sind und eines Tages in die BRD nachgeholt werden; diejenigen, die im Emigrationsland aufgewachsen sind und von den Eltern nach Europa als sogenannte »parachute kids« geschickt werden, um durch ihren sozialen Aufstieg die Zukunft der Familie zu sichern; schließlich diejenigen, die zusammen mit den Eltern ausgewandert sind. In allen drei Fällen ist die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Fluchtemigration obsolet, weil sich beide Motive in der Regel vermischen. Es wird deutlich, wie man angesichts von kollektiv eingestellten Kulturen mit ausgeprägtem Gruppen-Ich und Clan-Gewissen nicht einfach von Einzelschicksalen sprechen kann. Die Familie ist stets ein transnationales Geflecht.

Alle drei Jugendliche erleben einschneidende Trennungserlebnisse, nicht nur von wichtigen Bezugspersonen, sondern auch von ihrer vertrauten Umgebung, von ihrem Freundeskreis, von den gewohnten kulturellen Gepflogenheiten und von ihrer Sprache. Der Integrationsdruck im Immigrationsland mit seiner individualisierten Leistungsorientierung und dem damit verbundenen psychischen Überlebenskampf – es geht um die Überwindung der Identitätsdiffusion und die Verarbeitung von kumulativen Traumata – lässt weder Zeit noch Raum für die notwendige Trauerarbeit zu, sodass die Trauer abgekapselt oder eingefroren werden muss. Sie wird erst viel später bei mehr oder weniger gelungener Anpassung an die neuen Verhältnisse auftauen können und kann dann allerdings zu dissoziativen, depressiven oder aggressiven Verhaltensstörungen führen.

Ein weiterer Befund der Fall-Analysen erscheint mir von besonderer Bedeutung: die Hinwendung zur Religion. Christine Bär thematisiert diese in einem eigenen Unterabschnitt unter dem Titel »Religion als Stabilisierungsfaktor und als Schutz vor sexuellen Gefühlen in der Adoleszenz«. Jugendliche Migranten fühlen sich – so Bär – oft »ohne Halt, Orientierung und Sinn« (S. 244). Zudem bedroht der sexuelle Triebdruck die Bündelung aller Kräfte für den schulischen und sozialen Aufstieg. Die Identifikation mit einer Religionsgemeinschaft, sei es die katholische oder reformierte Kirche oder der Islam, hilft zur Identitätsfindung und wirkt als Triebabwehr.

Die drei Falldarstellungen stehen stellvertretend für eine riesige Zahl von Betroffenen. Global gesehen geht es um millionenfache Transmigration, für welche die Länder der Ersten Welt sowohl historische als auch aktuelle Verantwortung tragen. Es sind die kriegerischen Auseinandersetzungen und der weltweite Waffenhandel, insbesondere der Krieg im Nahen Osten und in Afrika auf der einen Seite und die hemmungslose Ausbeutung der Rohstoffe und der Menschen in der Dritten Welt auf der anderen Seite, welche die Flüchtlingsströme produzieren. Heute geht es um rund 60 Millionen Menschen, von denen 80 Prozent Zuflucht in anderen Entwicklungsländern gefunden haben. Laut Thomas Gebauer werden »bis zum Jahr 2025 zwei Drittel der afrikanischen Agrarfläche verschwunden (...) und (...) weitere 135 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sein« (Gebauer, 2015, zit.n. Bär, S. 14). Vor diesem Hintergrund erscheint mir das Buch von Christine Bär nicht nur für alle sehr aufschlussreich und unbedingt lesenswert, sondern eigentlich als eine Pflichtlektüre für Pädagogen, Psychologen und insbesondere für Politiker.

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