Rezension zu Nur die Bodenhaftung nicht verlieren
Psychotherapie Aktuell, 9. Jahrgang, Heft 4.2017
Rezension von Assja Metzger
Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts hat die emotional-instabile
Persönlichkeitsstörung, bekannter unter dem Namen »Borderline«,
einen deutlichen Zuwachs an Aufmerksamkeit erfahren. Inmitten der
zahlreichen Werke findet sich seit dem letzten Jahr auch ein
schmaler Band aus dem Psychosozial-Verlag, verfasst von der
Schweizerin Miriam Sarnecki, die als Psychoanalytikerin in Zürich
tätig ist.
Warum noch ein Buch zu diesem Thema? Wird nicht schon alles in den
ausführlicheren Standardwerken erwähnt? Offensichtlich nicht! Der
besondere Verdienst dieses Buches liegt in der Fokussierung auf die
Nähe zur psychotischen Symptomatik, die nach Ansicht der Autorin in
der vorhandenen Literatur – und damit auch in der Behandlung –
nicht genügend Beachtung findet. Nach einer Einleitung in die
Ätiologie der Störung aus heutiger psychoanalytischer Sicht (die
treffend und kompakt dargestellt ist) folgt das zentrale Kapitel
des Buches, welches Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der
psychotischen und der Borderline-Störung, aber auch den Vergleich
zu den neurotisch bedingten Störungen herausarbeitet. Die Autorin
geht hier auch auf die typischen Abwehrmechanismen, insbesondere
die projektive Identifizierung und die damit verbundenen
Herausforderungen für den Therapeuten, ein. Eine weitere zentrale
Aussage besteht in der spannenden Hypothese, dass die heutige
westliche Gesellschaft Eigenschaften, die einer Borderline-Störung
entsprechen, als wünschenswert betrachtet und mit ihrem Wertesystem
die Entstehung dieser Störung vielleicht sogar fördert. Im letzten
Teil des Buches gibt die Verfasserin einen kurzen Abriss zu den
drei gängigen psychodynamischen Therapieformen, die bei der
Borderline-Störung Anwendung finden – der MBT nach Fonagy und
Bateman, der TFP nach Kernberg und der Therapiemethode nach Volkan,
die miteinander verglichen und durch eigene Erfahrungswerte ergänzt
werden.
Die Besonderheit des Buches liegt zum einen in der Herausarbeitung
der Psychosenähe, die in der Tat in der Praxis oft »vergessen«
wird, zum anderen im äußerst interessanten Bezug zu den
Umweltfaktoren, die zu dieser Störung beitragen, was meines Wissens
bislang keine ausreichende Beachtung in der Literatur erfahren hat.
Sehr zu bedauern ist allerdings, dass diese Themen doch insgesamt
nur angetippt werden. Man bleibt als Leser mit dem unbefriedigenden
Gefühl zurück, ein »Appetithäppchen« ohne den darauffolgenden
Hauptgang bekommen zu haben. Auch werden beim Leser gute Kenntnisse
des psychodynamischen Vokabulars vorausgesetzt, für Kollegen aus
anderen Fachrichtungen dürfte das Buch nicht immer leicht zu
verstehen sein. Dies wird zudem dadurch erschwert, dass die
Argumente nur an wenigen, kurz dargestellten Fallbeispielen
verdeutlicht werden.
Insgesamt handelt es sich um ein interessantes Buch mit wertvollen
und neuen Ansatzpunkten, das auf einen weiteren Ausbau der
angesprochenen Themen in den Folgeauflagen hoffen lässt.