Rezension zu Verschleierte Wirklichkeit
Zeitschrift für Transaktionsanalyse, Heft 4, 2017
Rezension von Sylvia Schachner
Christina von Braun ist Co-Direktorin des Zentrums Jüdische Studien
Berlin-Brandenburg und Bettina Mathes ist Psychoanalytikerin und
Kulturhistorikerin, wohnhaft in Madrid. Ihre Schwerpunkte sind
Psychoanalyse, islamische Kunst, Film und
Geschlechtergeschichte.
Der Titel und das breite Spektrum an Expertise und Interessen der
Autorinnen und der gewählte Titel machen neugierig und regen zum
Denken an.
Das Buch ist eine Veröffentlichung, die die Debatte um die Rolle
des Islams in Europa auf eine an historischen Fakten und
kulturpsychologischen Deutungsmustern orientierte Grundlage stellen
möchte. Es bietet ein reichhaltiges und informatives Gegengewicht
zu derzeit allzu oft populistisch und oberflächlich verallgemeinert
geführten Diskussionen über Migrationsbewegungen,
Flüchtlingsströme, Gefahren des Islams, die Kopftuchdebatte und
Ängste vor dem Unbekannten. Auf über 400 Seiten werden historische
und aktuelle Zusammenhänge erläutert, wird die über Jahrhunderte
andauernde enge Verbindung zwischen Judentum, Christentum und Islam
aufgezeigt und die kulturelle und soziale Verknüpfung zwischen
Okzident und Orient aus unterschiedlichsten Blickwinkeln
beleuchtet.
Die Autorinnen konzentrieren sich auf die Beziehung zwischen den
Kulturen, auf die Stereotypien, Generalisierungen und Abwertungen,
die derzeit – und in den Jahrhunderten davor – stattfinden und
stattgefunden haben, sowie auf die Bilder und Vorstellungen, die im
Okzident über den Orient und umgekehrt vorhanden sind. Die
Intention ist, diesen »Raum dazwischen«, diesen Beziehungsraum
aufzuzeigen und die Annahmen des einen mit denen der anderen zu
durchleuchten und aufzuzeigen, wo Fehldeutungen und Unwissen zu
Abgrenzung und Konflikten führen.
Leitthemen des Buchs sind:
• Die Geschlechterordnung, die mehr ist, als Frauenbilder zu
erkunden. Sie muss auch herrschende Vorstellungen über Männlichkeit
berücksichtigen. Die Geschlechterordnung zeigt das Unbewusste einer
Kultur und ist stark emotional besetzt. Sie beinhaltet kulturelle,
mediale, soziale, politische und ökonomische Aspekte.
• Die aktuelle Kopftuchdebatte, die dazu dienen kann, ein
Selbstbild des Westens als aufgeklärt und freiheitsliebend zu
etablieren, im Westen vorhandene Fragestellungen und Problemfelder
zu diesen Themen zu »verschleiern« und die Bedeutung des Islam für
die westlichen Gesellschaften in vergangenen geschichtlichen
Epochen rückgängig zu machen und auszublenden.
• Ein großer Teil der Flüchtlinge, die als Muslime in westliche
Länder kommen, tun dies, um Krieg und Terror zu entfliehen. Diese
Menschen hoffen hier auf ein friedliches zivilisiertes Leben und
haben keinerlei Ambition, den Westen zu islamisieren.
• Gewalt und Terror sind heute und in der Vergangenheit real und
bringen Leid und Zerstörung in die Welt – und viele Länder, in
denen Terror und keine Meinungsfreiheit herrscht, sind muslimisch
regiert. Mit diesen Fakten müssen wir uns als Gesellschaft
auseinandersetzen. Einerseits, indem wir klare Statements gegen
Terror und Unterdrückung abgeben und diesen verurteilen, unabhängig
davon, was die ideologischen Grundlagen dafür sind. Und
andererseits, indem wir uns mit der Rolle der westlichen
Kolonialmächte in der islamischen Welt und ihren widersprüchlichen
Verstrickungen auseinandersetzen, Verantwortung übernehmen und
diese so weit wie möglich auflösen.
• Gerade in Zeiten der Globalisierung ist es notwendig, sich mit
eigenen Einstellungen dem Fremden, ungewohnten Gegenüber, mit der
Angst vor dem Überwältigt-Werden durch das andere,
Unkontrollierbare auseinanderzusetzen und die eigenen Werte und
Einstellungen laufend zu überprüfen.
Auf alle diese Fragen und noch mehr gibt das Buch in acht
ausführlichen und in Unterkapitel gegliederten Themenfeldern Ideen,
Anregungen und teils Antworten und es bietet Informationsmaterial,
das zu intensiver Auseinandersetzung und neuen Fragen einlädt.
Behandelt werden die Bedeutung von Kreuz und Kopftuch als
religiöse, historische und kulturelle Symbole, die symbolische
Geschlechterordnung in den drei monotheistischen Weltreligionen,
die Bedeutung des Frauenkörpers und des Harems in den
unterschiedlichen Kulturen, die Wissensordnung in Orient und
Okzident, Säkularisierung, Globalisierung und Geschlecht in
diversen Kulturen und abschließend die Bedeutung von Geld und
Wirtschaft.
Das Buch ist dicht und komplex geschrieben mit vielen Bezügen zu
Geschichte und wissenschaftlicher Forschung. Es ist bestimmt kein
Buch, das in einem Atemzug durchgelesen werden kann oder
zwischendurch als Entspannung dient. Es ist eines, das Zeit
braucht, das abschnittsweise gelesen und »verdaut« werden muss, aus
dem einzelne Kapitel herausgenommen werden können, um vertiefte
Information zu erhalten, und das als Basis für viele Diskussionen
dienen kann.
Es ist eine Fundgrube für alle diejenigen, die an vertieftem
Wissen, Zusammenhängen und Informationen interessiert sind, die
über Simplifizierungen und Generalisierungen hinausgehen.