Rezension zu Migration im Jugendalter
www.socialnet.de vom 1. Dezember 2017
Rezension von Nausikaa Schirilla
Thema
Forschungen zu Migration und Jugendlichen thematisieren eher
einerseits Fragen der Identität und Mehrkulturalität sowie
Ausgrenzungsprozesse im Kontext von Bildungsintegration und
gesellschaftlicher Anerkennung von länger hier lebenden
Jugendlichen. Die besonderen Herausforderungen neu zugewanderter
Jugendlicher sind weniger erforscht. Der Band von Christine Bär ist
dieser Zielgruppe gewidmet. Christine Bär betrachtet die Thematik
aber aus einer relativ neuen Perspektive. In ihrer Studie geht es
um einen subjektorientierten Zugang zu Verarbeitungsmöglichkeiten
von Migration im Jugendalter. Bär fragt danach, welche Bedingungen
müssen vorliegen, damit die Bildungsintegration neu zugewanderter
Jugendlicher erfolgreich verläuft. Dabei geht es ihr sowohl um
geflüchtete Jugendliche als auch um Jugendliche, die ihren Eltern
in die Arbeitsmigration nachgefolgt sind. Bär betrachtet sowohl die
psychischen Ressourcen der Jugendlichen als auch gesellschaftliche
Widerstände.
Die Forschungsperspektive erfolgt auf dem Hintergrund eines
psychoanalytischen Ansatzes, daher stehen neben den subjektiven
Aspirationen der Jugendlichen (vor allem sehr hohe
Bildungsmotivationen) die Frage nach der Verarbeitung von
Trennungserfahrungen und Trennungsschmerz im Vordergrund. Die
psychoanalytische Perspektive führt bei Bär aber nicht zu einer
Individualisierung von Problemkonstellationen. Bär fragt eher nach
institutionellen Bedingungen und notwendiger psychosozialer
Unterstützung für die Bildungswege der neu zugewanderten
Jugendlichen, die bisher im deutschen Bildungssystem kaum
existiert.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die Autorin ist Erziehungswissenschaftlerin. Die vorliegende Studie
stellt ihre Dissertation dar, mit der sie am Fachbereich
Erziehungswissenschaften an der Universität Marburg promoviert
wurde. Daher werden der aktuelle Forschungsstand zu Migration im
Jugendalter, Forschungslücken, die Begründung und Vertiefung des
psychoanalytischen Zugangs sowie die Forschungsmethodik ausführlich
dargestellt. Schlussfolgerungen der Studie sind wiederum aber eher
anwendungsorientiert, es geht hier um einen Perspektivwechsel in
der Organisation des Bildungszugangs für Seiteneinsteiger(innen),
um Kompetenzen der Lehrer(inn)en und um psychosoziale Angebote.
Aufbau
Die Arbeit ist in zehn Teile unterteilt.
Nach einer Einleitung, in der Forschungslage, Untersuchungsgruppe
und Fragestellung expliziert werden, werden unterschiedliche
soziologische Erklärungsmodelle zu globalen Migrationsbewegungen
dargestellt, dabei werden insbesondere das Konzept der
Transmigration und die Entstehung transnationaler Familien
hervorgehoben.
Im dritten Teil werden diese Ansätze auf migrierende Jugendliche
angewandt. Dabei unterscheidet Bär drei Gruppen:
1. nachgeholte Jugendliche im Kontext von Arbeitsmigration,
2. eigenständig migrierte Jugendliche, die sie als ›verschickte‹
Jugendliche oder als ›Parachute Kids‹ bezeichnet und
3. mit der Familie geflüchtete Jugendliche.
Die Lebens- und Aufenthaltsbedingungen von diesen Gruppen werden im
vierten Teil dargestellt, auf diese politischen Bedingungen wird im
Folgenden immer wieder zurückverwiesen.
Bär hat bereits im dritten Teil auf Unzulänglichkeiten
soziologischer Ansätze hingewiesen und stellt im fünften Teil
psychoanalytische Perspektiven auf Trennungs-und Verlusterfahrungen
sowie Verarbeitungsprozesse in der Migration dar.
Nach einem darauf aufbauenden Teil zu Möglichkeiten der
Identitätsentwicklung und zu den Bedingungen der schulischen
Integration neu immigrierter Jugendlicher entwickelt Bär ihre
Fragestellung und stellt die Forschungsmethode vor.
Im achten Teil präsentiert sie die empirischen Ergebnisse, drei
ausführliche Fallananalysen zu drei Jugendlichen aus jeder der oben
erwähnten Gruppen.
Im Fazit entwickelt sie Empfehlungen für die Bildungsintegration
sowie psychosoziale Begleitung.
Inhalt
Bärs zentrale Frage lautet, welche inneren Ressourcen und welche
äußeren Rahmenbedingungen müssen gegeben sein damit die Integration
neu zugewanderter Jugendlicher ins Schulsystem und damit in die
Gesellschaft gelingt. Da sie sich mit den drei von ihr ausgesuchten
Migrationsformen auf Jugendliche konzentriert, die relativ schnell
oder unvorbereitet migrieren, stellt sich ihrer Meinung nach
insbesondere die Frage nach Trennungs- und Verlusterfahrungen und
danach, was diese im Kontext transnationaler Familien und hoher
Bildungsaspirationen für die psychosoziale Entwicklung der
Jugendlichen bedeuten. Wie verarbeiten Jugendliche in diesem
Kontext neue Bildungsanforderungen und die Begegnung mit einer
neuen Gesellschaft? Neben den inneren Prozessen spielen zugleich
auch die Bedingungen im Aufnahmeland – hier insbesondere das
viergliedrige Schulsystem und die dauernden Kämpfe um Recht und
Aufenthalt ebenso eine Rolle.
Die Autorin hat im Vorfeld eine breite Sondierung bei
Intensivklassen bzw. vorbereitenden Klassen in Hessen vorgenommen
und hat dabei die diesem Schulsystem innewohnende institutionelle
Diskriminierung kennengelernt.
Theoretisch orientiert sich Bär einerseits am Konzept der
Transmigration, um zu zeigen, dass die Jugendlichen auch in der
Migration Teil ihrer transnational operierenden Familien waren oder
bleiben. Verbundenheit mit und Zugehörigkeit zur Familie sowie
Kommunikation mit der Familie sind hier wichtig. Aber zugleich
kritisiert Bär diesen Ansatz, da Erfahrungen wie Verlust, Trennung
und Trauer hier keinen Platz haben und der transnationale Ansatz
die psychosozialen Kosten nicht erfasse. Daher ergänzt Bär diese
soziologische Perspektive um die psychoanalytische, um die inneren
Prozesse kritisch thematisieren zu können. Dabei bezieht sich sie
auf das psychoanalytische Konzept von Migration als Trauma von
Grinberg und Grinberg und fragt nach Trauer, Trennung und
Übergangsräumen für Jugendliche, die gesellschaftlich anerkannte
Möglichkeiten zur Verarbeitung dieser Erfahrungen darstellen
könnten. Diese Erfahrungen und Potenziale sieht sie als zentral für
adoleszenztypische Identitätsentwicklungen in der Migration. Aber
nicht nur die psychischen Prozesse sondern auch die auch
aufnehmende Umwelt und soziopolitische Faktoren sind wichtig für
die Identitiätsentwicklung, also ob diese eher feindlich oder
anerkennend sind, ebenso wie die Reaktionen der zurückgebliebenen
Teile der Familie.
Die sich in der Migration entwickelnden Identitäten sind meist
hybride Identitäten, dafür braucht es wiederum Entwicklungsräume,
es braucht ein Experimentierfeld für die Such- und
Verarbeitungsbewegungen und diese gibt es Bär zufolge nicht. Weder
die Familien noch die Aufnahmegesellschaft können derartige freie
Räume bieten – dieses Fazit zieht Bär sowohl aus ihrer
Sondierungsarbeit als auch in ihren Fallanalysen. Die schulische
Eingliederung ist nicht optimal, sie wird der Heterogenität und den
Suchprozessen der Jugendlichen nicht gerecht. Obwohl Lehrerinnen
wichtige Bezugspersonen darstellen, können sie diesen Übergangsraum
nicht bieten und die besonderen psychosozialen Leistungen der
Zielgruppe nicht wertschätzen. Die schulische Eingliederung erfolgt
nach einem linearen Modell, die Bildungs- und psychosoziale
Entwicklung der Jugendlichen ist Bär zufolge aber eben
nicht-linear, so gibt es beispielsweise große Diskrepanzen zwischen
Deutschniveau und Bildungsniveau, auf die das aktuelle
Vorbereitungssystem nicht adäquat reagieren kann.
Der eigentliche empirische Teil – die drei Fallanalysen – beruht
auf einem zweiphasigen Interviewmodell mit leitfadengestützten
Interviews. Die ursprünglich fünf Probanden wurden zunächst in
einem Erstinterview und dann zwei Jahre später befragt. Das
Erstinterview war sehr ausführlich, eher narrativ orientiert und
zielte auf die Lebensgeschichte und Identitätsaspekte, das
Zweitinterview auf die Bildungsintegration. Aus der größeren
Probandengruppe wurden dann drei Fälle für die jeweilige
Migrationsgruppe ausgewählt. Die Datenauswertung erfolgte nach dem
tiefenhermeneutischen Ansatz des szenischen Verstehens, die
Bedeutung der Interviews wird von Bär als in einem intersubjektivem
Produktionsverhältnis kreiert verstanden und durch einen Wechsel
von individueller Datenauswertung; Supervision; und Diskussion der
Ergebnisse in einer Resonanzgruppe realisiert. Zu den verwendeten
Daten gehörten daher auch eigene Notizen und Reflexionsprozesse in
der Forschergruppe. Abschließend wurden alle Auswertungselemente
systematisiert und verschriftlicht.
Diskussion und Fazit
Bär kommt abschließend zu dem Fazit, die psychoanalytische Theorie
stelle eine gute Ergänzung zu Migrationstheorien dar. Sie biete
einen Blick auf die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der
Verarbeitung von Trennungserfahrungen. Deren Verarbeitung werde
durch die Anforderungen der Gesellschaft erschwert. Die starke
Bildungsorientierung der von ihr untersuchten Jugendlichen deutet
Bär teilweise auch als eine Strategie, Trennungsschmerz abzuwehren.
Von den verschiedenen Richtungen her kommt sie immer wieder zu dem
Fazit, dass jugendliche Migranten Räume für Verarbeitung ihrer
spezifischen Erfahrungen brauchen und dass die Schule mit
differenzierten Angeboten auf die hohen Bildungsaspirationen dieser
Zielgruppe reagieren müsse, um die Bildungsintegration besser zu
bewerkstelligen.
Die Leserin fragt sich während der Lektüre immer wieder, ob mit den
Hinweisen auf die Bedeutung von Verlusterfahrungen und
Trennungsschmerz die psychoanalytische Argumentation vorausgesetzt
oder ob die Notwendigkeit des psychoanalytischen Zugangs durch die
empirische Studie entwickelt wird. Auch wird das Verhältnis des
Fokus auf Gesellschaft und des Fokus auf die Psyche nicht weiter
ausgeführt, es heißt immer nur, soziologische Theorien bräuchten
eine psychoanalytische Ergänzung.
Fazit: So bleiben einige theoretische Fragen in der Arbeit offen.
Aber die Perspektive, nämlich einen Blick auf subjektive
Verarbeitungsstrategien zu werfen und einer psychischen Eigenlogik
der jugendlichen Migrant(inn)en zu folgen ist sehr wertvoll und
macht das Buch für Theoretiker(inn)en wie für Fachkräfte unbedingt
lesenswert.
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