Rezension zu Zeitlose Erfahrung (PDF-E-Book)

www.socialnet.de vom 29. November 2017

Rezension von Hans-Peter Heekerens

Herausgeberin

Nancy Amendt-Lyon ist eine in New York geborene studierte Psychologin, die in Wien freiberuflich als Psychotherapeutin (Gestalttherapeutin und Gruppenpsychoanalytikerin) tätig ist. Ferner arbeitet sie national wie international als Lehrtherapeutin und Supervisorin, ist Redaktionsmitglied mehrerer Fachzeitschriften und berufspolitisch engagiert. Sie hat – auf Deutsch und auf Englisch – zahlreiche Artikel und Buchkapitel zur Gestalttherapie sowie über Gender und soziopolitisch relevante Fragen publiziert. Zusammen mit der italienischen Gestalttherapeutin Margherita Spagnuolo Lobb hat sie »Die Kunst der Gestalttherapie: Eine schöpferische Wechselbeziehung« (Wien – New York: Springer, 2006) herausgegeben.

Das vorliegende Buch erschien als englischsprachige Erstausgabe 2016 (cambridgescholars.com; deutschsprachige Rezension dazu Becker, 2017). Das damit verbundene Anliegen hat die Herausgeberin so formuliert: »Als Herausgeberin dieser Publikation habe ich versucht, durch die Präsentation ihrer bisher unveröffentlichten Schriften die weniger bekannten Seiten von Laura Perls zu beleuchten, Informationen zu Menschen zu geben, die bei ihr Anklang fanden, und etwas von dem reichen kulturellen Hintergrund bereitzustellen, der ihr ganzes Wesen inspirierte.« (S. 25)

Thema

Das beschreibt die Thematik des vorliegenden Buches recht genau. In gewissem Widerspruch dazu steht der Haupttitel »Zeitlose Erfahrung«. Das ist kein Willkürakt der Herausgeberin. Lore hat in einem kurzen Text von 1976, der im vorliegenden Buch als 1. Kapitel wiedergegeben ist, Gedanken über eine mögliche Autobiographie festgehalten. Die Notizen enden mit den Sätzen: »Wenn ich also damit fortfahre, meine eigene Geschichte zu schreiben, dann beabsichtige ich weder eine gradlinige Autobiographie noch eine sachliche Darstellung der Gestalttherapie zu verfassen. Wahrheit liegt nicht in den einzelnen zeitlichen Tatsachen, sondern in der zeitlosen Erfahrung eines ganzen Lebens, herauskristallisiert – wenn überhaupt – als eine persönliche Mythologie.« (S. 86)

Lore hat eine solche Autobiographie, ja überhaupt eine, nicht geschrieben. Und so lese ich denn mit einem historischen Blick die einzelnen Kapitel des vorliegenden Buches als Texte, die in einem bestimmten lebensgeschichtlichen, historischen und geographischen Kontext – Gestaltler(innen) mögen dies mit »Feld« übersetzen – entstanden sind. Und habe dabei obige Bemerkungen im Hinterkopf.

Laura / Lore Perls

Die Frau, deren Dokumente hier einsehbar sind, wurde 1905 als Lore Gerda Posner in der »Goldstadt« Pforzheim / Baden geboren, als erstes von drei Kindern eines deutsch-jüdischen Paares; der Vater war Unternehmer im Schmuckgeschäft. In Pforzheim ist sie 1990 als US-Bürgerin Dr. Laura Perls gestorben. Dazwischen liegt ein ereignisreiches und wechselvolles Leben (prägnante Kurzdarstellung bei Schneider, 1994). Ihre letzte Ruhe fand sie im Posnerschen Familiengrab auf dem jüdischen Friedhof an der Ostseite des großen städtischen Friedhofes; der wurde – im Gegensatz zum andernorts gelegenen alten jüdischen Friedhof – von den Nazis nicht angerührt und blieb beim Luftangriff vom 23. Februar 1945, als die Stadt fast vollständig und bis zur Unkenntlichkeit zerstört wurde, heil. Auf ihrer Grabplatte steht Dr. Lore Perls, und ich kann es mir nicht anders vorstellen, dass mit »Lore« ein letzter Wille der Verstorbenen erfüllt wurde. Ein anderer, den sie mit Hilfe Dritter allen bürokratischen Hindernissen zum Trotz durchgesetzt hat: Dort hat auch die Urne mit der Asche ihres 1970 verstorbenen Ehemannes »Dr. Fritz Perls« (so die Platteninschrift) ihre letzte Heimstatt gefunden; das war ihr letzter Liebes-Dienst für Fritz.

Seit der Zeit, da ich vor vier Jahrzehnten meine Gestalttherapie-Ausbildung am Fritz Perls Institut begann, hat sich mein Bild von der Gestalttherapie, ihrem Denken und Handeln, ihren Ursprüngen und wesentlichen Akteuren gewandelt. Am meisten verändert hat sich mein Bild von Lore, wie ich sie hier, altem und wohl legitimem Sprachgebrauch folgend, nennen will. Je fremder mir Fritz wurde, umso vertrauter Lore. Je länger, desto mehr gewann Lore Kontur als bedeutende Mitbegründerin der Gestalttherapie und als Gestalttherapeutin mit eigener unverwechselbarer Handschrift. Die Lektüre des vorliegenden Buches hat dieses Bild noch stärker konturiert.

Im Jahre 1994 brachte die Gestalt Journal Press die jüngste Ausgabe des erstmals 1951 erschienenen und als Gründungsdokument der Gestalttherapie bewerteten Buches »Gestalt Therapy« heraus (Perls, Hefferline & Goodman, 1994). Das völlig Neue: In der Reihenfolge vertauscht sind in der Neuauflage die beiden – recht verschiedenen – Buchteile, von dem wir früher meist nur den (damals) ersten, nicht aber den (damals) zweiten, den von Paul Goodman (mehr zu ihm unten), lasen. Damit, so Isadore From und Michael Vincent Miller in der Einleitung zur Neuausgabe (From & Miller, 1994), sei die Ordnung wieder hergestellt, die die Autoren der Erstausgabe beabsichtigt hätten, die sie aber den kommerziellen Interessen des Verlags opferten. Für die Entwicklung einer professionellen Identität der Gestalttherapie sei, so Isadore From und Michael Vincent Miller, dies im Verbund mit der weiteren Entwicklung von Fritz fatal gewesen.

Fakt ist jedenfalls: Es entwickelten sich in den USA zwei sehr verschiedene Spielarten von Gestalttherapie, die gemeinhin als West Coast- und East Coast-Variante bezeichnet werden; Fritz stand für die erste, Lore war eine bedeutende Vertreterin der zweiten. Isadore From und Michael Vincent Miller benutzen nicht diese Unterscheidung, die ja über eine bloße Etikettierung nicht hinauskommt, sondern eine – in der Sache analoge – andere: in Redskins und Palefaces. Die hatte Philip Rahv (1939) zur Kennzeichnung zweier, tief in der US-amerikanischen Tradition verwurzelter Prototypen US-amerikanischer Schriftsteller(innen) gemacht. Mit »Redskins« sind nun freilich nicht Angehörige indigener Völker Nordamerikas (»Indianer«, »Rothäute«) gemeint, sondern (weiße) Menschen (Männer vor allem), »Pioniere des wilden Westens«, für die der Westernfilm-Held John Wayne zur Illustration dienen mag. Und mit »Palefaces« sind nicht etwa alle »Bleichgesichter« (sprich »Weiße«) schlechthin gemeint, sondern – auch hier muss eine grobe Skizzierung genügen – die in den großen Städten (v.a. der US-amerikanischen Ostküste) lebenden und mit der europäischen Geistestradition vertrauten Intellektuellen.

Aufbau und Inhalt

Das Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe enthält v.a. Danksagungen an zahlreiche Personen und Institutionen, die bei der Publikation des vorliegenden Buches Unterstützung geleistet haben; die kam auch von der Jüdischen Gemeinde Pforzheim.

Die danach folgende Danksagung stammt bereits aus dem englischsprachigen Original. An erster Stelle gedankt wird Renate Perls, der Tochter von Lore und Fritz, die – einer Traumbotschaft folgend – der Herausgeberin Lores unveröffentlichte Arbeiten anvertraut hat.

In der darauf folgenden und mit über 70 Seiten sehr langen Einleitung der Herausgeberin, zu der auch eine anschließende Literaturliste mit Beiträgen zu oder von Lore auf Englisch und Deutsch gehört, erzählt sie zunächst von der Entstehungsgeschichte des Buches und berichtet von ihren persönlichen Begegnungen mit Lore, zu der sich hier einige biographische Notizen finden. Der danach folgende Abschnitt »Der Inhalt dieser Schatztruhe: Notizbücher und andere literarische Texte« ist der erste umfangreichere und hält, was die Abschnittüberschrift verspricht: eine orientierende Übersicht über die – hier kenntnisreich kommentierten – Texte, die in den Kapiteln I – XII dargeboten werden.

»Laura Perls im Gespräch mit Daniel Rosenblatt« ist die Überschrift des zweiten längeren Abschnitts, den man als Hinführung zu Lores Interview mit Daniel Rosenblatt (12. Kapitel) lesen sollte.

Die danach folgenden Abschnitte der Einleitung berichten von »Freude und Drangsal beim Lektorieren der unveröffentlichten Arbeiten von Laura Perls«, benennen »Herausforderungen während Laura Perls´ Jahre (sic!) in Johannesburg und New York«, bieten »›‚Zeitlose Erfahrung eines ganzen Lebens‹: Eine Miniaturskizze«, eine kurze Analyse unter dem Titel »Theoretische Beiträge zum Ursprung und zur Entwicklung der Gestalttherapie« sowie abschließend Überlegungen zu »Laura Perls´ Erbe«.

Der Inhalt des sich daran anschließenden Dokumentationsteils, dem noch ein vierseitiges Personenregister folgt, hat drei sachlich zu unterscheidende Teile.

Im 12. Kapitel, um von hinten zu beginnen, weil dies für die Darstellung einfacher ist, befindet sich ein Interview mit Daniel Rosenblatt, das hier im englischsprachigen Original abgedruckt ist; in deutscher Sprache ist das Interview an anderem Ort greifbar (Doubrawa & Doubrawa, 2005).

Man(n) und frau sollte dieses Interview unbedingt lesen. Nicht nur wegen Lore, der Befragten, sondern auch wegen des Interviewers Daniel Rosenblatt (1925–2009). Er gehörte zu Lores ersten Klient(inn)en und war später einer ihrer engsten Vertrauten (Doubrawa, 2009). Und er war dem Gestalttherapeuten Isadore From eng verbunden (ausf. Rosenblatt, 1995), demjenigen der Gestalttherapeut(inn)en der ersten Stunde, der das klarste Bewusstsein dafür hatte, dass es ohne Paul Goodman, der das Erbe Otto Ranks einbrachte (Heekerens, 2016), keine Gestalttherapie gegeben hätte. Zur Veranschaulichung eine Passage aus dem Rosenblattschen Nachruf:

»Während des ersten Trainingsjahres in dieser Gruppe arbeiteten wir hauptsächlich am zweiten Teil von Paul Goodmans Gestalt Therapie (Anm. d. Übers.: Gemeint ist das Gemeinschaftswerk von Perls, Hefferline und Goodman: Gestalt Therapy, 1951, dessen 2. Teil insbesondere Goodmans alleiniger Autorschaft zugeschrieben wird). Isadore war geradezu talmudisch in seiner Hingabe an den Text. Mitunter erarbeiteten wir den Stoff Zeile für Zeile, Wort für Wort. Diese Prosa war so dicht, daß es manchmal einfach notwendig war. Isadores Auffassung zufolge war sie so geschrieben, damit sie nicht so leicht introjiziert werden konnte, aber da ich Goodman weniger freundschaftlich verbunden war, glaubte ich, daß er einfach Schwierigkeiten mit der Abfassung wissenschaftlicher Texte hatte. Generationen von Trainees haben ohne Isadores kluge Interpretationen mit diesem Text herumgekämpft. Und sogar Fritz bemerkte in seiner späteren Zeit in Esalen, daß er das Buch in den Pazifik schmeißen wollte. Ich dachte immer, daß Isadore einfach zu gefesselt von Goodmans Theorie war, aber da er so hingebungsvoll und leidenschaftlich damit umging und derartig viel von seinem eigenen Verständnis einfließen ließ, hatte ich keine größeren Einwände dagegen.«

Vor dem eben betrachteten 12. Kapitel und nach dem 11. Kapitel, das den Abschluss der von Lore hinterlassenen Schriftdokumente bildet, befindet sich ein nicht paginierter, wohl aber in der nachfolgenden Seitenzählung berücksichtigter Block von 42 Seiten, der – in manchen Fällen mangelhaft – beschriftete 61 Abbildungen enthält. Die meisten davon sind Fotos, größtenteils von oder mit Lore. Daneben finden sich beispielsweise ein Familienstammbaum (nur mit der Lupe zu lesen), Abbildungen von einigen Notizbuchseiten Lores (wegen mangelnden Schwarzweißkontrastes sehr schwer zu entziffern) und anderes mehr. Dieser Block, mit Textteilen vorn und hinten nicht verbunden, mag dem einen als Sammelsurium erscheinen, anderen hingegen als Fundgrube.

Vor diesem Zwischenblock finden sich die von Lore hinterlassenen Schriftdokumente in 11 Kapiteln, die weitgehend chronologisch geordnet sind. Die Ausnahme bildet das »I. Kapitel: Die Zeitlose Erfahrung eines ganzen Lebens, datiert 1976«, Vorüberlegungen zu einer nie geschriebenen Autobiographie, die von der Herausgeberin wohl wegen ihrer (oben referierten) Schlusspassage entgegen der chronologischen Kapitelordnung an den Anfang gestellt wurde.

Im »II. Kapitel: Notizbuch Nummer 1, datiert 1946; 25, Raymond Street, Bellevue, Johannesburg, S.A.« findet sich ein »Klagegesang (Zum Gedenken an L…)«; L. ist höchstwahrscheinlich Lores um zwei Jahre jüngere Schwester Lieselotte, die am 11. Februar 1944 zu Tode kam. In Auschwitz, wo man in den Jahren 1943/44 auch ihren Mann Kurt Lisser und die gemeinsame Tochter Ruth umgebracht hat. Wo Lores Mutter, um das an dieser Stelle ergänzend anzuführen, starb, ist unbekannt. Wir wissen nur so viel: Am 4. Dezember 1941, wurde Toni Posner, geb. Eber, im Alter von 57 Jahren ins Ghetto Riga – mit einem der ersten Transporte »aus dem Reich« – deportiert, von wo sie nicht wieder kam. Seit September 2013 – erst seitdem! – erinnert ein »Stolperstein« in der Pforzheimer Friedenstraße 80 an sie.

Lores Klagegesang ist gleichsam ein Anti-Kaddisch und gibt uns einen Eindruck davon, was die Shoah für die Davongekommenen und Überlebenden bedeutet:

»Es gibt keine Stufe zum darauf Niederknien, kein Gebet zum Beten,
Kein Gott, der höret zu. Tot die Kindheit wie auch Gott.
Es gibt keine Gnade; die rasenden Jagdhunde des Verstands
Entfesselt erlegen sie den isolierten Erwachsenen.
Es gibt keine Verbindung. Vertraute Erinnerungen entschwinden
Ungeteilt in die Dunkelheit einer fremden Vergangenheit.
Der liebliche unhaltbare Mythos von der Kindheits-Zusammengehörigkeit
Ist zu Stein erstarrt, nichtssagende Hieroglyphen
Unvorstellbar hoch
An den desolaten Wänden der entweihten Existenz.« (S. 89)

In diesem Kapitel findet sich auch eine mit »Erwachen« überschriebene Kurzgeschichte, deren Anfangspassage einen Einblick gewährt in Lores Kindheit / Jugend, uns ihre gestaltpsychologische Kompetenz ahnen lässt und einen Eindruck vermittelt von ihrer poetischen Kraft:

»Als sich der Vorhang infantiler Unschuld öffnete, saß sie auf dem Fußboden. Um sie herum eine weite Fläche purpurrötlichen Teppichs, in der Ferne ein schimmernder Berg aus Mahagoni und Glas – der große Kleiderschrank, der in zehn Jahren die Vielfalt glamouröser Gewänder zum Verkleiden hervorbringen wird, während Mutter nicht zu Hause ist. Dann wird der Teppich ein eher ein kleines Viereck sein, an dessen Rändern die Füße hängen bleiben und man stolpert, wenn man es gerade eilig hat, Mutters schleppende Kleider vor dem schmalen Spiegel zu defilieren. Dann wird auch der Kleiderschrank eintönig und unwichtig aussehen; aber es wird doch derselbe Kleiderschrank sein, derselbe Teppich, dasselbe Zimmer.« (S. 97–98)

»Kapitel III: Zauberspiegel, Gedicht, datiert 1946« ist geschrieben in Erinnerung an den 13 Jahre älteren, in Karlsruhe – also »gleich nebenan« – geborenen deutsch-jüdischen Maler Hanns Ludwig Katz, einen bedeutenden Vertreter des deutschen Expressionismus. Im Katalog zur 1992er Katz-Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main anlässlich des 100. Geburtstags des Künstlers kann man lesen:

»Vier Jahre lang lebte Katz in Johannesburg. Am 17. November 1940 starb er an Krebs. Er trug die Krankheit lange in sich, ignorierte sie aber, bis es für eine Operation zu spät war. Er hatte einen schweren Tod. Der Psychotherapeutin Lore Perls, die ihn in den letzten Wochen betreute, schenkte Katz zum Dank und zur Erinnerung einige Bilder.« (Hofmann & Krohn, 1992, S. 87) Es war, dies zur Korrektur, nicht Hanns Ludwig Katz selbst, der Lore Bilder – drei an der Zahl – vermachte, sondern dessen Witwe Ruth, Hanns Ludwigs zweite Frau, wie einem Schreiben Lores zu entnehmen ist (s.u. zum 11. Kapitel).

Aus dem »IV. Kapitel: Ein Bad nehmen, Kurzgeschichte, datiert 1947« sei die Schlusspassage wiedergegeben, die mir die Therapeutin im Gewand der Poetin sichtbar macht:

»Völlig durchgefroren begann er, fast gegen seinen Willen, sich aufzurichten. Er zog den Stöpsel, um das Wasser abzulassen. Als ein weiterer Tropfen aus der Dusche tropfte und ihn auf dem Rücken platsch! traf, erschreckte er sich nicht einmal. Er war kaum kälter als das Badewasser. Zitternd beschaute er seine verschrumpelten Hände, seinen mit Gänsehaut überzogenen Körper, das schmutzige, um seine Füße herumwirbelnde Wasser. Seine Beine fühlten sich steif an, der Boden der Wanne war glitschig und als er sich zu dem rauen gräulich-weißen Handtuch hinstreckte, musste er sich am Wannenrand festhalten. Aber dennoch, er fühlte mit seltsamer Zuversicht, dass dies seine eigenen Hände und Füße waren, seine eigene Steifheit, seine eigene Unsicherheit, seine eigene Armut. Sich an der klapprigen Rückenlehne eines Stuhls festklammernd, hob er sein blauadriges Bein über die Wanne und stellte einen zaghaften Fuß auf den knarrenden Boden.« (S. 131)

Das »V. Kapitel: Notizbuch Nummer 2, datiert 1954 – 1956; 315 Central Park West, N.Y., NY 10025« reflektiert die neuen Verhältnisse: den neuen Wohnort und die neue Kultur des New York der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Zeit, in der die Gestalttherapie ihren Namen und ihre Kontur erhielt. In diesem Kapitel stecken viele Informationen über die jüdische Intellektuellenszene, die Frühzeit der Gestalttherapie, über das Verhältnis von Lore und Fritz und über den Schlaganfall Lores im Jahre 1955 sowie dessen Verarbeitung. Ich kann an dieser Stelle nur auf zwei Punkte näher eingehen.

Das ist zum einen die Frage, an wen der auf den Seiten 133–134 abgedruckte Brief vom 27.2.1954 gerichtet ist. Der beginnt mit »Mein lieber Paul«. Aber wer, so die von der Herausgeberin aufgeworfene Frage (S. 133 Anm. 2) ist dieser Paul: Paul Goodman oder Paul Weisz? Ich tippe aus zwei Gründen auf Paul Goodman. Zum einen passt zu ihm die doch sehr intime Anrede besser; Lore und Paul Goodman waren sehr eng befreundet und sie war auch seine Therapeutin. Wie stark die beiden verbunden waren und blieben, zeigt sich an dem Umstand, dass sie ihn 1970 die Rede auf der New Yorker Trauerfeier halten ließ – wohl wissend, dass er darin auch weniger Pietätvolles über den Verstorbenen sagen würde.

Zum anderen: Es geht ja hier um eine ganz bestimmte Sache. »Die Schwierigkeit«, so Lore, »rührt von dem willkürlichen Gebrauch des Begriffes ›Sprung‹ her. Du benutzt die Bezeichnung, als gäbe es nur eine Art von Sprung, als wären der künstlerische Sprung und der soziale, oder präziser: der therapeutische Sprung, in ihrer Struktur gleich.« (S. 133) Die hier kritisierte Anschauung konnte nur von einem Paul stammen, der Otto Ranks »Art and Artist« (1932 / 1943) studiert hatte – und das ist eben Goodman.

In diesem Kapitel findet sich ferner ein Text, der mich ebenso tief angerührt hat wie Lores »Klagegesang« (s.o. Kap. II). Auch hier führt sie Klage:

»Mein Liebling Fritz,-
ich schreibe dies, während Du in Cleveland [wo 1953/54 das zweite Gestalt-Institut nach dem New Yorker gegründet wurde] bist. Ich schreibe keinen Brief und ich schreibe nicht an Dich. Ich schreibe es hauptsächlich für mich selbst oder vielleicht ausschließlich für mich selbst. Ich weiß nicht, wo ich stehe oder, genauer, wo wir stehen – wenn es noch ein ›wir‹ gibt. Dafür gibt es nun kaum ein Anzeichen. Die Tränen strömen bereits an meinem Gesicht herunter – ich scheine heutzutage gar nichts mehr anderes zu tun, als zu weinen, wenn ich allein bin.

Ich bin immer alleine, selbst wenn ich mit Dir im gleichen Raum bin. Oder vielmehr: Du bist alleine und scheinst nicht wahrzunehmen, dass ich zugegen bin. Ich ›fühle‹ mich wie eine um Deine Füße herumschnurrende Katze, aber Du streichelst mich nicht einmal, so wie Du es sicherlich bei einer Katze tätest.

Was ist mit uns geschehen? Ich kann Dich nicht einmal direkt fragen. Ich kann Dich gar nichts fragen. Ich kann mit Dir nicht mehr sprechen, seit langer Zeit nicht mehr.« (S. 150)

Im »VI. Kapitel: Notizbuch Nummer 3, datiert 1957 – 1958« sich Texte, die von der Bürde, die Lore damals zu tragen hatte zeugen. Aber dort ist unter dem Datum vom 4.6.1958 auch zu lesen: »Ich fühle mich vielmehr dazu bewogen, ein psychologisches Buch zu Kontakt und Stütze zu schreiben, eine Reihe von Vorlesungen, die ich im Herbst zu halten beabsichtige.« »Kontakt und Stütze« – das war eine Horizonteröffnung, die Skizze eines Programms, das Lore von da an verfolgen würde, die erste Benennung der Merkmale, die Lores Gestaltarbeit unverwechselbar machten.

Das »VII. Kapitel: Notizbuch Nummer 4, datiert 1959 – 1960« enthält unterschiedliche Textstücke: Notizen zu Albert Camus »Pest«, die Lore wohl in der englischen Übersetzung »The plague« (London: Hamish Hamilton, 1948) las, ein Gedicht (»Lied der guten Menschen«), eine autobiographische Kurzgeschichte sowie ihre Notizen zur vierten Jahreskonferenz der American Academy of Psychotherapists 1959, wo führende Vertreter(inne)n fünf unterschiedlicher psychotherapeutischer Schulen, darunter Lore Perls und Carl Rogers, zu ihrer Praxis befragt wurden. Man liest die Notizen mit Gewinn, wenn man zumindest Lores Ansatz kennt, der in deutscher Übersetzung, der in ihrem »Leben an der Grenze« (Köln: EHP, 1989) zu finden ist.

»VIII. Kapitel: Notizbuch Nummer 5, undatiert; 7 West 96th Street, N.Y. 10025« enthält einen Text, der die ersten Seiten eines Kapitels – wohl ihrer geplanten Autobiographie – enthält. Hier der erste Absatz:

Hanns Ludwig Katz kennen wir schon. Karl Wilker, den Lore in eine Reihe mit Paul Geheb, den Begründer der Odenwaldschule, und den schottischen Reformpädagogen A. S. Neill stellt (S. 213), war ein deutscher Reformpädagoge, der 1933 in die Schweiz emigrierte und ab 1937 in Südafrika lebte; 1975 mit der Ehrendoktorwürde der Universität Frankfurt am Main geehrt.

Im »IX. Kapitel: Notizbuch Nummer 6, datiert 1972; 7 West 96th Street, N.Y. 10025« findet sich nur ein Textstück (datiert auf den 22.10.72; gut zwei Jahre nach Fritz´ Tod). Aber dieses vervollständigt das Bild von der Entstehung der Gestalttherapie und festigt die Vorstellung von Lores Wertschätzung Paul Goodmans. Ich zitiere die beiden ersten Absätze:

»Genau vor 20 Jahren fingen wir – d.h. Fritz Perls, Paul Goodman, Elliot Shapiro, Paul Weisz und ich – mit dem New York Institute for Gestalt Therapy an. Paul Goodman, der New Yorker, stellte Fritz und mich, die Neuankömmlinge, einer Gruppe von Leuten vor, die hauptsächlich ›seine‹ Freunde oder ›unsere‹ Patienten waren. Damals bedurfte es entweder eines hohen Grades an Ignoranz oder einer Menge an ›Schneid‹, sich entweder Pauls ›oder‹ uns anzuschließen. Über viele Jahre hinweg waren wir ›Außenseiter‹, wurden mal als Amateure, mal als Unruhestifter oder als Quacksalber betrachtet. Paul hatte über 20 Bücher verfasst, wir hatten hier 15 Jahre lang praktiziert, bevor wir von den Professionen oder Verlegern ernst genommen wurden. Wir schöpften aneinander Mut. Ich glaube heute, dass ich wohl ohne Pauls Beispiel an Durchhaltevermögen, Integrität und unbeeinträchtigter Kreativität nicht in der Lage gewesen wäre, mich in New York zu behaupten.

Tatsächlich war Paul eine Quelle an Mut für mehrere Generationen junger Leute. Von vielen von ihnen erspähe ich hier im Raum deren inzwischen nicht mehr ganz so junge Gesichter. Ich bin überzeugt, dass Paul der größte ›einzelne‹ Vermittler von fortwährend kreativer Entwicklung in Pädagogik, Sozialpolitik und humanistischer Psychologie war – auf einer wahrhaft ›immensen‹ Skala ein Gestalttherapeut.« (S. 219)

Das »X. Kapitel: Endfall: Ein Psychedelikathooliganismus, Gedicht, undatiert« enthält ein Gedicht, das hier in englischsprachigem Original und in deutscher Übersetzung zu finden ist. Man kann dieses Gedicht nicht beschreiben, man muss es lesen – am besten in seiner englischsprachigen Originalfassung.

Im »XI. Kapitel: Brief an Hans Wongtschowski, datiert 1985; 7 West 96th Street, N.Y. 10025« findet sich ein Antwortschreiben an den Sammler von Bildern des schon genannten deutsch-jüdischen Malers Hanns Ludwig Katz, den er seit Anfang der Nazi-Zeit kannte. Dessen Werk hat er eine umfangreiche Studie gewidmet, die – aus dem Katzschen Nachlass kommend – heute im Stadtarchiv Karlsruhe (Archivaliensignatur: Stadtarchiv Karlsruhe, 7/Nl Katz / 73) zu finden ist. Hans Wongtschowski wusste, dass Lore Katz-Bilder geschenkt bekommen hatte (s.o. Kapitel III). Er war ebenfalls nach Südafrika ins Exil gegangen; in Johannesburg lebten die Ehepaare Katz und Wongtschowski ab 1937 in häuslicher Gemeinschaft (Wongtschowski, 1992) und beide kannten die Perls´.

Diskussion

Nancy Amendt-Lyon wurde die Fügung zuteil, ein wertvolles Vermächtnis zu erhalten; sie hat sich mit diesem Buch als Lores gute Erbwalterin in die Annalen der Gestalttherapie eingeschrieben. Dem Psychosozial-Verlag sei Dank dafür, dass er das mit vorliegendem Buch verbundene unternehmerische Risiko nicht gescheut hat. Jede(r) wird dieses Buch je nach Vorkenntnis und Interesse anders lesen – aber jede(r) mit Gewinn.

Fazit

Wem ist das Buch zur Lektüre empfohlen? Allen Gestaltberater(inne)n, -pädagog(inn)en und -therapeut(inn)en sowie an der (Geschichte der) Gestalttherapie Interessierten im deutschsprachigen Raum. Insbesondere den Frauen und den unbedingten Fritz-Anhänger(inne)n unter ihnen. Den ersten könnte Lore bei der Vervollkommnung einer genuin weiblichen therapeutischen Identität helfen, und die zweiten dürften lernen, dass der West Coast- oder Redskin-Variante bestenfalls die halbe Wahrheit der Gestalttherapie ist.

Literatur

Becker, U. (2017). Rezension zu Zeitlose Erfahrung. Zeitschrift für Gestaltpädagogik 1/2017. Online verfügbar unter www.psychosozial-verlag.de/catalog/rezensionen.php?id=3332&return=2702 (letzter Aufruf am 13.11.2017).

Doubrawa, A. & Doubrawa, E. (Hrsg.) (2005). Meine Wildnis ist die Seele des Anderen. Wuppertal: Peter Hammer.

Doubrawa, E. (2009). Daniel Rosenblatt (1925 – 2009). Ein Nachruf. Gestaltkritik 2/2009. Online verfügbar unter www.gestalt.de/rosenblatt-nachruf.html (letzter Aufruf am 13.11.2017).

From, I. & Miller, M.V. (1994). Introduction to The Gestalt Journal edition of Gestalt Therapy. In Perls, F.S., Hefferline, R. & Goodman, P. (1994), Gestalt Therapy (pp. vii – xxii). Gouldsboro, ME: The Gestalt Journal Press.

Heekerens, H.-P. (2016). Otto Rank und sein Einfluss auf Sozialarbeit und humanistisch-experienzielle Therapie. In H.-P. Heekerens, Psychotherapie und Soziale Arbeit (S. 13 – 46). Coburg: ZKS-Verlag. Online verfügbar unter www.zks-verlag.de/files/s620_e2325_o25918/0?size=o (letzter Aufruf am 15.11.2017).

Hofmann, K.-L. & Krohn, H. (1992). Hanns Ludwig Katz, Leben und Werk. In Jüdisches Museum Frankfurt am Main (Hrsg.), Hanns Ludwig Katz (Ausstellungskatalog) (S. 11-93). Köln: Wienand.

Rank, O. (1932; 2. Aufl. 1943). Art and artist. New York: Knopf. Die deutschsprachige Ausgabe erfolgte im Jahr 2000 – erst dann! – im Gießener Psychosozial-Verlag.

Rahv, P. (1939). Paleface and redskin. The Kenyon Review, 1(3), 251-256

Rosenblatt, D. (1995). »Wie wenig wir wissen! – Wie viel wir zu lernen haben!« Erinnerungen an den Gestalttherapeuten Isadore From. Gestaltkritik 2/1995. Online verfügbar unter (letzter Aufruf am 13.11.2017).

Perls, F.S., Hefferline, R. & Goodman, P. (1994). Gestalt Therapy. Gouldsboro, ME: The Gestalt Journal Press (Erstauflage 1951bei Julian Press, New York).

Schneider, K. (1994). »Meine Wildnis ist die Seele des anderen«. Erinnerungen an Lore Perls (1905-1990), die Mitbegründerin der Gestalttherapie. Gestaltkritik 2/1994. Online verfügbar unter www.gestalt.de/schneider_laura-perls.html (letzter Aufruf am 16.11.2017).

Wongtschowski, H. (1992). Meine Erinnerungen an Hanns Ludwig Katz. In Jüdisches Museum Frankfurt am Main (Hrsg.), Hanns Ludwig Katz (Ausstellungskatalog) (S. 93-97). Köln: Wienand.

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