Rezension zu Der andere Mann
www.socialnet.de vom 24. November 2017
Rezension von Helmwart Hierdeis
Herausgeber
Josef Christian Aigner, Dr. phil., Psychoanalytiker, war bis
Oktober 2017 Professor für Psychosoziale Arbeit und
Psychoanalytische Pädagogik am Institut für Psychosoziale
Intervention und Kommunikationsforschung der Universität Innsbruck.
Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind Sexualität als
psychosoziales Phänomen, Genderfragen, Vaterforschung sowie Männer
in erzieherischen und sozialen Berufen unter besonderer
Berücksichtigung frühpädagogischer Einrichtungen.
Thema
Den Einband des Buchs beherrscht eine Fotomontage mit dem Titel
»Wasserspiegel«: Ein Mann beugt sich über eine befestigte Uferkante
und taucht sein Gesicht ins Wasser. Gespiegelt wird offenbar nicht
er selbst, sondern ein anderer. Ihre Gesichter verschmelzen. Beide
können sich nicht gegenseitig anschauen. So jedenfalls sähe das
Original aus. Wer das Buch in die Hand nimmt, blickt auf eine um 90
Grad gedrehte Version. Der Horizont wird zur vertikalen Hauskante,
und die Wasseroberfläche verwandelt sich in eine Glasfassade. In
ihr steckt das Gesicht des einen, der gespiegelte Andere ist mit
ihm über den Kopf verwachsen. Kaum vorstellbar, dass die beiden
voneinander loskommen oder dass sie ohne Risiko getrennt werden
können. Der eine ist für den anderen – so lese ich das Bild – »der
andere Mann«. Allerdings fehlt ihnen der Abstand, um sich
wahrnehmen und erkennen zu können. Der Leser als Bildbetrachter hat
die Distanz, aber er müsste den Mann, dessen Gesicht in der
gläsernen Wand steckt, erst einmal dazu bringen, zurückzutreten und
sich anschauen zu lassen.
Vielleicht ist das alles überinterpretiert, und die »Buchmacher«
wollten nur einen Blickfang im Sinne von »Was soll das denn sein!«
schaffen. Aber wie auch immer: Ich stelle mir vor: Der Mann, der
mich jetzt ansieht, ist das egoistische, rücksichtslose,
ausbeuterische, unempathische, gewalttätige, sexistische … Subjekt,
das durch eigenes Verschulden, durch »die Geschichte« oder durch
»die Umstände« so geworden ist und das durch die negativen
Generalisierungen von Gender-Theoretikerinnen und Medien
gebrandmarkt wird. In ihm soll, so lesen wir auf der Rückseite des
Covers, noch ein anderer Mann verborgen sein: sensibel, voller
Verständnis für seine Mitmenschen, fürsorglich, partnerschaftlich,
frauen- und kinderfreundlich und dennoch emanzipiert.
Aigner und seinen zwölf Mitautoren geht es im vorliegenden Buch um
eine Abkehr vom herrschenden Klischee. Mit den Worten des
Herausgebers »(...) ›Der andere Mann‹ soll neugierig machen auf
einen anderen, positiv gefärbten, unterstützenden und
vertrauensvollen Blick auf Männer, wie er uns in Feuilleton,
Alltagsdiskussionen und auch in der Sozialwissenschaft schon
weitgehend abhandengekommen zu sein scheint. Es sollen alternative
Sichtweisen auf Männer und Männlichkeit, auf ihr Werden, auf ihre
Widersprüche und Schwierigkeiten, auf ihr Anderssein, auf ihre
Möglichkeiten und Grenzen – und somit auch auf eine andere
Geschlechterpolitik (Markus Theunert) angeregt werden« (S. 8).
Aufbau und Inhalt
»Vom schwierigen Umgang mit Unterschieden« handelt der einleitende
Beitrag des Herausgebers (S. 11–35). Dass die öffentliche Meinung
zu Typisierungen neigt, ist nichts Neues. Aber dass sich die
Sozialwissenschaften schwer tun, ein differenziertes Bild vom Mann
zu zeichnen und ihn eher von seinen Defiziten her erfassen (wobei
der »Negativdiskurs« vor allem auf die Sexualität abzielt), ist
wenig hilfreich. Der überwiegend soziologischen, auf
Geschlechterverteilung in gesellschaftlich relevanten Bereichen
fokussierten Forschung hält Aigner das Konzept einer
bio-psychosozialen Sichtweise entgegen. Die Männer, die in den
Augen Vieler »so« sind, haben eine Geschichte hinter sich und leben
in einer Gegenwart, die durch diese drei (kulturell überformten)
Determinanten bestimmt wird: Sie sind vom Körper her anders, haben
eine von anderen für sie konstruierte Kindheit und Jugend
durchlaufen und sind in eine Gesellschaft hineingewachsen, die sie
nicht gemacht haben. In ihr dominieren bestimmte Verständnisse vom
Mann-sein – und das eher zum Nachteil der Heranwachsenden, was
Leistungsanforderungen, Erwerbsbiografien und Gesundheitsrisiken
angeht. Bei Männern entwickelt sich daraus eine spezielle
»Bedürftigkeit«, verstanden als »innere Befindlichkeit (...), in
der man sich nach etwas sehnt, das aber gleichzeitig verwehrt ist
(...)« (Böhnisch, 2015, S. 28). Das bei Männern Ersehnte und
Verwehrte kann nicht gegen die weibliche »Bedürftigkeit«
ausgespielt werden.
Den Entwicklungsaspekt greift Reinhard Winter in »Der werdende
Mann. Jungen und ihre Problemlagen heute« (S. 23–58) auf. Auch er
kritisiert die Blindheit großer Teile der Sozialwissenschaften im
Hinblick auf die Wechselwirkungen soziokultureller Determinanten,
psychologischer Einflüsse und biologischer Tatsachen. Hinzu kommen
Defizite in der elterlichen und der institutionalisierten
Erziehung. Sie ist daran beteiligt, dass männliche Heranwachsende
ihren Körper (insbesondere den Urogenitalbereich) kaum kennen, dass
sie – im Gegensatz zu den Mädchen – wenig Gelegenheit haben, über
Körpererfahrungen und sexuelle Erwartungen zu sprechen und dass sie
Sexualität weniger mit Lust als mit Vorsorge verbinden. Die mediale
Welt bietet ihnen eine Fülle von widersprüchlichen Männerbildern,
mit denen sie sich selbst zurechtfinden müssen. Der Mangel an
Männern in der Erziehung führt, wiederum anders als bei den
Mädchen, zu unkorrigierten Idealisierungen. Kein Wunder also, so
der Autor, dass sich die Unsicherheiten hinsichtlich des Mannseins
bis ins Erwachsenenalter fortsetzen.
Ivo Knill weist in seinem Essay »Der erzählte Mann« (S. 59–75) auf
das Konglomerat von Erzählungen über den Mann hin, die unsere
Kultur bereit hält und gelegentlich aufdringlich präsentiert. Sie
reichen von biographischen Erinnerungen, Belletristik und
Schlagzeilen bis hin zu Stereotypen, die in der Gesellschaft
herumschwirren. Er selbst wählt ein autobiographisches Narrativ, in
dem es um seinen Vater, die Entfernung von ihm, um die Erfahrung
eines bestimmten Männlichkeitsbildes beim Militär und um
Gegenentwürfe einer mit Frauen ausbalancierten und dennoch
emanzipierten Männlichkeit geht. Zwei wichtige Erkenntnisse leitet
er aus seiner Revue ab. Die eine: Wer von Mann und Männlichkeit
erzählt, übt Macht aus über die Bilder, die in anderen entstehen.
Die andere: Was Männlichkeit ist, kann immer nur für den
historischen Augenblick bestimmt werden. Jede Verabsolutierung wäre
Ideologie.
An die Thematik »Narrativ« knüpft Helmut de Waal mit einer
Betrachtung über den »Vater-Mann« (S. 77–94) an. Im Rückblick auf
die eigene defizitäre Vater-Geschichte kommt er zu dem Schluss:
»Wenn wir ›neue Väter‹ haben wollen, bekommen wir sie nicht durch
Bildung, durch Aufklärung über politisch Zusammenhänge (…) oder gar
durch professionelle Schulung, sondern zuerst müssen wir uns
unserer Trauer um die nicht vorhandenen Väter unserer Vergangenheit
stellen« (S. 80). Aus der Geschichte mit seinem Vater entwickelt er
eine »Landkarte« für seine eigene Vaterrolle. Er unterstellt sie
den Forderungen nach aufmerksamer Präsenz (Bindung), nach
»Versorgung« und »Fürsorge« (S. 81 ff.), wobei »Sorge« für ihn über
das Vatersein hinaus ein angemessener »Weltzugang« (S. 85) ist,
besonders dann, wenn sie sich (im Sinne des Verständnisses von
»Handwerk« bei Sennet) als »Kennerschaft, Könnerschaft und
Reflexion« (S. 88) äußert.
In »Der strukturierte Mann. Die Bedeutung von Aggression und
Autorität in der Vaterschaft« (S. 95–108) plädiert Hans-Geert
Metzger dafür, bei allen als Fortschritt angepriesenen
»Grenzüberschreitungen« im gesellschaftlichen Kontext genau darauf
zu achten, wer davon profitiert und wer nicht. Das gilt zum
Beispiel für die Familie allgemein wie insbesondere für die
Vaterschaft. An der desolaten Vatergeschichte des Bluesgitarristen
Eric Clapton arbeitet er als wichtigste väterliche Funktionen
Begrenzung und Bindung heraus. Ihr Gelingen ist bedroht durch die
»männliche Unsicherheit gegenüber der Akzeptanz der eigenen
›Aggression‹« (S. 100). Daran hat auch deren negative Konnotation
durch die Gesellschaft ihren Anteil. Anhand von Fallbeispielen
erläutert der Autor die für die Strukturbildung der männlichen
Heranwachsenden destruktiven Folgen defensiver Rückzüge von Vätern,
ihrer mangelnden Widerstandsfähigkeit, ihrer Bindungslosigkeit oder
ihrer Gewalttätigkeit, die dann auch noch als Ausweis von Autorität
ausgegeben wird. »›Der andere Mann‹ hingegen, dem die Möglichkeiten
des Erlebens einer väterlich zugewandten Autorität und der
Integration dieser Auseinandersetzung in Form von inneren
Strukturen gegeben war, geht mit sich selbst bewusst um. Er kann
seine Verletzlichkeit tolerieren und seine Stärke einsetzen (…)«
(S. 107 f.).
Mannsein in der heutigen Welt zu analysieren ist das eine, die
wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Veränderung von
tradierten Rollenbildern zu schaffen, das andere. Josef Christian
Aigner und Gerald Poscheschnik haben schon vor Jahren damit
begonnen, Möglichkeiten zu erkunden, wie sich der frühpädagogische
Raum für Männer öffnen ließe. In »Der andere Job. Männer in
Kindergärten« (S. 109–126) stellen sie die wichtigsten Ergebnisse
ihrer biografisch-tiefenhermeneutischen Studie zur Berufsmotivation
und zum beruflichen Selbstverständnis von Männern im Kindergarten
dar. Dabei entdecken sie eine altruistische Komponente (als
Kompensation für erfahrene Defizite) und ein Schwanken zwischen als
ausgesprochen männlich geltenden und semifemininen Einstellungen
und Verhaltensweisen, praktiziert in einem Raum, den viele als
einen Ort ansehen, in dem noch »Menschlichkeit« gefragt ist. Die
Untersuchung widerlegt die Annahme, positive Vatererfahrungen
hätten die Berufswahl begünstigt, wie überhaupt von einer
eindeutigen Motivlage nicht die Rede sein kann. Aber den Männern,
die sich für diesen Beruf entschieden haben, bringt er »ein großes
Maß an befriedigender Gegenseitigkeit von Geben und Nehmen und
damit etwas, das vielen Menschen in unserer Gesellschaft
schmerzlich fehlt, mit sich: Anerkennung« (S. 125).
Über »Erfahrungen in der Männerberatung« (S. 127–137) berichten
Gotthard Bertsch und Martin Christandl. Dabei sprechen sie offen
über die Schwierigkeit, den Ratsuchenden ohne Typisierungen, rasche
theoretische und diagnostische Zuordnungen und ideologisch
bestimmte Vorurteile gegenüberzutreten. Was ihnen in den Gesprächen
begegnet, wirkt sich ihrer Beobachtung nach auch auf ihre eigenen
Selbstverständnisse und Lebensentwürfe aus. Für ihre Arbeit
bekennen sie sich zu sechs Grundhaltungen (S. 133 ff.): »Jeder
Mensch ist wertvoll«. – »Das Verhalten des Mannes ist nicht gleich
der Mann selbst«. – »Kinder sind immer ›mit‹ dabei«. – »Männer
können fühlen und Gefühle auch ausdrücken«. – »Männersolidarität
macht es leichter«. – »Es geht um die ganzen Männer«. Gerade das
letzte Prinzip soll ständig daran erinnern, dass die an die Berater
herangetragenen Probleme aus komplexen Lebenslagen und
Persönlichkeitsstrukturen stammen.
Eduard Waidhofer eröffnet seinen Beitrag »Männer leiden anders.
Erfahrungen mit Männern in Therapie und Beratung« (S. 139–164) mit
dem gendertheoretisch begründeten Hinweis auf die verbreiteten
Schwierigkeiten von Männern, »Gefühle bei sich selbst wahrzunehmen,
zu unterscheiden und zu benennen« (S. 140) und Unterstützung durch
andere in Anspruch zu nehmen. Auch er betont die Notwendigkeit,
dass Berater und Therapeuten ihre eigenen Männer- und Frauenbilder
reflektieren. Die von ihm ausgemachten, speziell Männer belastenden
Stressoren rühren häufig aus der Arbeitswelt (Konkurrenzdruck,
Autonomieverlust, geringe Wertschätzung …) und äußern sich in
besonderen Problemstellungen wie defizitären Vaterrollen, Blindheit
gegenüber gesundheitlichen Risiken, Depressionen,
Gewaltbereitschaft und von ihnen herbeigeführte Beziehungskrisen.
Den erlernten Selbstentlastungsformen der Männer (z.B.
Schuldzuweisungen) begegnet die Therapie mit Versuchen, die
Selbstvertretung der Betroffenen zu stärken und den Zugang zu ihren
Gefühlen freizulegen. Waidhofer stützt sich dabei auf die von der
»Schematherapie« herausgearbeiteten »Modi«, in denen frühe
Kindergefühle, Erfahrungen mit den Eltern, untaugliche
Bewältigungsstrategien etc. vereint sind.
Ausgehend vom männlichen »Überdruss gegenüber
gleichstellungspolitischen Forderungen« (S. 165) unterscheidet
Markus Theunert in seinem Beitrag »Die andere Geschlechterpolitik«
(S. 155–187) zwischen den Extremen Pro- und Antifeminismus
verschiedene Abstufungen. Als ernstzunehmende Mitspieler im Diskurs
gelten für ihn, wie er mit Blick auf zahlreiche Vorarbeiten
ausführlich begründet, nur »profeministische« Männer, die von der
Gleichstellung überzeugt sind und die entsprechende feministische
Agenden unterstützen, und »emanzipatorische« Männer, die sich
gleichfalls für die Gleichstellung einsetzen, aber den
gleichstellungsfeministischen Ansatz nicht für allein seligmachend
halten. In seinen Augen muss eine »relationale
Gleichstellungspolitik« (S. 179) »Solidarität und Eigenständigkeit«
miteinander vereinbaren. »Sie fragt dabei nicht nur, was Männer zur
Gleichstellung beitragen sollen, sondern auch, was sie ›brauchen‹«
(S. 183) – zum Beispiel Bedingungen in der Arbeitswelt, die es
ihnen erlauben, Beruf, Familie und darüber hinausgehende Interessen
miteinander zu verbinden.
»Vom Glück, ein Anderer zu sein«, spricht Hans Prömper in seinem
Beitrag (S. 189–211). Sein theoretisches Interesse gilt Fragen des
Lebenslaufs von Männern, in Sonderheit ihrer lebenslangen
Entwicklung und der Art und Weise, wie sie das Leben im Rahmen von
sozialen Beziehungen als gestaltbaren Prozess begreifen und
handhaben. Sein praktisches Interesse richtet sich – illustriert an
Fallbeispielen – auf Arrangements, in denen Männer das suchen und
empfangen dürfen, was ihnen das Leben sonst kaum bietet:
Anerkennung, Authentizität, Trost, Nähe, Sicherheit etc. (S. 191).
Seine Erfahrungen beleuchtet Prömper anschließend unter
neurobiologisch-bindungstheoretischen,
religionswissenschaftlich-spirituellen und
pädagogisch-erwachsenenbildnerischen Aspekten. Angesichts der
eingangs dargestellten empirischen Befunde zur Modularisierung und
Fragmentierung von Männlichkeit scheint »das Glück, ein anderer zu
sein« nur im »Anders-Raum« (S. 208) erfahrbar zu sein. Was davon
auf welche Weise in die Konformitätsräume zurückwirkt, bleibt
ungesagt.
Prömpers Annäherung ans Spirituelle weitet Peter Stöger in »Geist
und Geistin. Gender-Mainstreaming aus
anthropologisch-theologisch-historischer Sicht« (S. 213–235) noch
aus, nur dass er sich damit nicht nur auf den Mann, sondern auf das
Geschlechterverhältnis insgesamt bezieht. Erkundungen in der
jüdisch-christlichen Theologie führen ihn zu Zeugnissen gleichsam
göttlich versiegelter Aufeinanderbezogenheit und Gleichwertigkeit
des Männlichen und des Weiblichen. Sie lassen heutige, biologische
Vorgaben ignorierende Geschlechterkonstruktionen defizitär
erscheinen. Der Autor spricht den Genderdiskursen nicht die
Berechtigung ab, vor allem die soziale und politische Situation von
Frauen verbessern zu wollen, vermutet aber, dass es ihnen auch »um
die prinzipiellen Negierung des biologischen Geschlechts und um die
Abschaffung von ›Natur‹«“ geht (S. 232). Für ihn sind »Mann und
Frau (…) auch epochal-geschichtlich als Gravuren von Prinzipien
feststellbar, unabhängig vom medizinisch-biologischen Geschlecht,
das zwar auch Erfindung, aber nicht nur Erfindung, das zwar auch
Konstruktion, aber nicht nur Konstruktion ist (…)« (S. 234).
Beruft sich Stöger zur Begründung des »Gemeinsam anders« (S. 232)
auf jüdisch-christliche Denktraditionen, so wählt Johannes
Berchtold für »Das Andere in uns« (S. 237–250) die aus dem Taoismus
stammenden Begriffe Yin und Yang, um das Zusammengehörende und
Trennende der Geschlechter zu markieren. Sie verweisen für ihn auch
abseits des Geschlechterverhältnisses auf eine Dialektik, die allen
Erkenntnisprozessen innewohnt und sich – Berchtold zitiert Georg
Simmel – in den »großen Relationspaaren des Geistes: Ich und Welt,
Subjekt und Objekt (…)« (S. 242; Simmel, 1996, S. 219)
wiederfindet. Vor diesem Hintergrund kritisiert er die Reduzierung
von Männlich und Weiblich auf die biologischen und sozialen
Aspekte, weil sie es ungemein erschwert, synthetisch zu denken.
Einen Bundesgenossen findet er in der Kritik von Papst Franziskus
an der Gender-Theorie. Sie sei unfähig oder unwillens, komplementär
zu denken: Die »Verdrängung der Unterschiede ist das Problem«, so
der Papst, »nicht die Lösung« (S. 250).
Diskussion
Wenn ich die Beiträge Revue passieren lasse, stelle ich fest: »Der
andere Mann« ist nicht der empfindsame, engagiert-vitale,
fürsorgliche, »dem ein anderes Geschlechterverhältnis wichtig ist«,
sondern der unsichere, bedürftige, gefährdete, defizitäre, seine
physischen und psychischen Leiden verleugnende Mann, der darum
kämpft, mit den von außen an ihn herangetragenen Forderungen, seine
Rolle zu überdenken, irgendwie zurecht zu kommen. Deutlich werden
die Folgen unbefriedigender Beziehungen zu den eigenen Vätern und
vor allem die Überforderungen durch die Arbeitswelt. Die Berichte
aus Beratung und Therapie machen eine erschreckende soziale
Hilflosigkeit, Vereinsamung, Entfremdung, Sprachlosigkeit und
untaugliche Kompensationen (Flucht, Gewalt) sichtbar. Das immer
wieder aufflackernde Aufbegehren gegen einen ideologienahen,
unhistorischen, anthropologisch verkürzten und philosophiefernen
Gender-Diskurs scheint mir, bei aller inhaltlichen Berechtigung,
nur in wenigen Fällen ein Problem des konkreten Mannes zu sein, der
das Bedürfnis hat, »anders« zu sein. Er hat in der Arbeitswelt in
der Regel ganz andere Kontrahenten in Form von Arbeits- und
Zeitnormen und Gefährdung des Arbeitsplatzes. Und dass er die
Anforderungen an Flexibilität und sein Bedürfnis nach Innehalten so
schwer vereinbaren kann und darunter leidet, daran tragen Biografie
und Sozialisation eher Schuld als gendertheoretische
Konstruktionen. Es gibt ermutigende Versuche, Männern Räume zu
verschaffen, in denen sie das Gefühl haben, vergleichbaren
Erfahrungen und Gefühlen zu begegnen, dazu Initiativen, die ihnen
neue Berufsmöglichkeiten in bisher weiblich definierten Bereichen
erschließen. Das sind konkrete Möglichkeiten des »Andersseins« und
vielleicht Annäherungen an eine als »Glück« empfundene Erweiterung
des Selbstverständnisses von Männern.
Fazit
Aigners Buch »Der andere Mann« umfasst eine Reihe von an- und
aufregenden Texten zur Lebenslage und zu Problemen von Männern
heute. Gegenüber den Analysen treten die Entwicklungsprojekte etwas
zurück. Dass der als Ausdruck eines sozialen Problems zu
verstehende und als solcher legitime Genderdiskurs neben seinen
wissenschaftlichen Engführungen eher zulasten von männlichen
Heranwachsenden und Männern geht, wird erklärt, aber nicht
polemisch beantwortet. Ich sehe in der Sammlung einen informativen,
sachlichen und daher empfehlenswerten Beitrag zur Debatte.
Literatur
Böhnisch, L. (2015). Pädagogik und Männlichkeit. Weinheim, Basel:
Juventa.
Simmel, G. (1996). Zur Philosophie der Geschlechter. In G. Simmel:
Hauptprobleme der Philosophie – Philosophische Kultur.
Gesamtausgabe Bd. 14. Frankfurt: Suhrkamp
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