Rezension zu Achtsam und vital
Psychotherapie-Wissenschaft, 7. Jahrgang, 2017, Heft 2
Rezension von Theodor Itten
Die ewige Wiederkehr der gleichen Aufgabe: sich tagtäglich selber
um die Aufrechterhaltung des eigenen Wohlbefindens zu kümmern.
Warum es nicht wieder einmal sagen und zeigen, wie es uns ergeht,
wenn wir unsere verkörperten Seelen achtsam pflegen und hegen? Was
dann geschieht für Körper, Geist und Seele, darf immer wieder neu
geschildert und frisch reflektiert werden. Diese vortreffliche
Neuauflage des vor 30 Jahren erschienen Bestsellers »Bioenergetik
in der Praxis« fokussiert auf die vom Autor selbsterfahrene und
praktizierte körperpsychotherapeutische Methode. Dieses Buch ist
ein gutes Pendant, zum oben besprochen Buch von Liebau (2017). In
seinem auf neue Forschungsergebnisse fokussierten, dicht
geschriebenen 35 Seite langen Vorwort zu dieser Neuauflage
überzeugt der Autor und gestandene Psychotherapeut, Ulrich
Sollmann, den kritischen Leser, vom Sinn dieses Umfüllens alten
Weins in neue Flaschen. Dieses Selbsthilfebuch, das zur Zeit der
Selbsterfahrungs-, Encounter- und Sensitivity-Trainingsgruppen
gerade richtig und wichtig war für die gesuchte Selbstbefähigung,
wird nun einer neuen Generation von Patientinnen und ihren
Psychotherapeutinnen dienen. Der damalige sozial- und
humanwissenschaftlich kontextualisierte Erklärungsansatz wird
selbstverständlich, nach 30 Jahren mit neuen Erkenntnissen
angereichert. Die Hirnforschung hat inzwischen immense Fortschritte
erzielt, die als neuropsychologische Erkenntnisse, für
Praktikerinnen anwendbar werden. Sollmann geht als Bioenergetiker
und Gestalttherapeut, wie in seinen Publikationen üblich,
erlebniszentriert vor. Damit wir den Sinn und Zweck der
vorgeschlagenen Körperübungen verstehend einordnen können,
präsentiert und erklärt er, positiv einfach, ohne intellektuellen
Jargon, die notwendigen bioenergetischen Konzepte. Zuerst werden
die eigene Wahrnehmung und das persönliche Gewahrsein als
unerlässliche Erfahrung beschrieben. Danach betrachten und spüren
wir Inhalt und Kontext des eigenen Zeit- und Raumsinns. Die heute
wieder in Mode gekommene Praxis der Achtsamkeit in der
Psychotherapie, propagiert durch die humanistische und positive
Psychologie, platziert Sollmann, ganz der Nüchterne, zurück in die
uralte Tradition des Buddhismus, die Erneuerungsbewegung des noch
älteren Hinduismus. Nach wie vor ist die eigene Erfahrung dessen,
was mir selber hilft, die bestimmende Indikation für das
anzuwendende Behandlungsmittel – unabhängig vom jeweiligen Trend in
der methodisch technisierten Psychotherapie oder den hochtrabenden
theoretischen Diskursen. Sollmann schreibt: «Man muss also die
Phänomene immer wieder aufs Neue in Augenschein nehmen und sich
nicht (nur) an bewährten Rezepten ausrichten» (xv). Er tut dies
ganz gewissenhaft. So werden, zum Beispiel, die unwillkürlichen
Körperreaktionen, welche sich während oder nach bioenergetischen
Übungen einstellen, als wichtige Phänomene der Selbstregulation des
Leibes erläutert. Dies nimmt einem die Angst, dass etwas
Unerwartetes passieren könnte, mit dem eine oder einer noch nicht
umzugehen wüsste. Mut tut gut. Das fördert die Fähigkeit,
wesensmässig sein ganzes, verkörpertes Menschsein anzunehmen. Die
Illustration des Wechsels von Anspannung und Entspannung durch
neurogenes Zittern zeigt, wie sich die heilende Wirkung von
Selbstregulation im ganzen Organismus auswirkt. «Hier & Jetzt» als
Konzept und als Momentum der Erfahrung ist hilfreich, da es immer
schon um die Gegenwart geht, in der sich das somatisch Erfahrene
und das zukünftig Erwünschte spürbar treffen. Die Arbeit mit
Vibrationen im Körper werden «en detail»
neurophysiologisch-funktional erläutert. Dies ermöglicht es dem
belesenen Autor, die neusten Einsichten ins Nervensystem und dessen
interne Kommunikation, darzustellen. Überhaupt, neben all den
unvermeidlichen Wiederholungen (im Positiven und Negativen) eines
Vielschreibers, wie Sollmann einer ist, geht es ihm um die wichtige
Einsicht, dass die Kontextualisierung der eigenen leiblichen
Erfahrung die Basis für jegliche theoretische Reflexion darstellt.
Es ist eine grosse persönliche Herausforderung, die eigenen
Projektionen nicht nur zu erkennen, sondern in der Betrachtung der
Wirklichkeit, wie sie ist, hinter uns zu lassen. Ganz der kritische
Geist, warnt uns Sollmann vor der Verlockung der Kommerzialisierung
unserer Heilkunst. Psychotherapie ist kein Fetisch der
konsumorientierten Kultur der propagierten Selbstoptimierung. Was
tun? Das einfachste zuerst.
Die nun seit über 30 Jahren erprobten, empirisch als nützlich
validierten Körperübungen dürfen selber mit dem Risiko ausprobiert
werden, dass es einem danach wieder besser geht. Die angestrebte
Wirkung ist die eigene Lebendigkeit, Wachheit und Klarheit. Für
diejenigen, welche die erste oder zweite Ausgabe von »Bioenergetik
in der Praxis« in der eigenen Praxis-Bibliothek nicht mehr finden
oder bei denen das eine Exemplar durch vielen Gebrauch aus dem Leim
gegangen ist sowie für all jene jüngeren Kolleginnen und
Studierenden der Psychotherapie ist diese Neuausgabe griffbereit.
In den sechs Kapiteln des alt-neuen Buches geht es um die Gymnastik
der Seele, die Bioenergetik, das Stressgeschehen, den
Körperausdruck und die Persönlichkeitsstruktur. Der uns allen
bekannten Körpersprache, den verschiedenen, von A. Löwen
beschriebenen Charakterstilen, werden viel Denk- und Übungsraum
gewidmet. Viele Bilder dienen als Anleitungsvorlage, was angenehm
hilfreich ist. Der Schluss dieses fast zeitlosen Praxisbuches ist
dem eigenen Körper-Management gewidmet. Die Hebamme kann, im
erwachsenen Alter, nicht mehr verantwortlich gemacht werden, sagt
ein altes Sprichwort. Wer ist somit heute für das leibliche,
seelische und geistige Wohlbefinden verantwortlich? Genau! Richtige
Antwort. Ein alter, weiser Psychotherapeut wurde mal von einem
Freund gefragt, ob er sich selber vertraue? Nur wenn ich muss,
antwortete der Gefragte verheissungsvoll.