Rezension zu Neue Lebensenergie (PDF-E-Book)
Psychotherapie-Wissenschaft, 7. Jahrgang, 2017, Heft 2
Rezension von Theodor Itten
Auf dem Umschlagfoto sehen wir, wie eine junge Frau und ein etwas
grösserer Mann an einem Meeresstrand ihre Lebendigkeit dadurch
ausdrücken, dass beide, bis in die Fingerspitzen ausgestreckt, hoch
und aufeinander zu springen. Dazwischen leuchtet die Sonne vor
einem morgenroten Hintergrund. Zufällig verbindet ein schlanker
umbilikaler Wolkenstrang die Becken der beiden. Das Lustprinzip als
Modell der Libido und Psyches Odem, das Qi der elementaren, allen
Menschenwesen innenwohnenden Kraft, griechisch «energeia», wird
verzaubernd dargestellt. Die Aktivierung des Lebendigen im Leib ist
auf die Quelle gerichtet, die sich, wie alles Natürliche, erneuert.
In der Bioenergetik, die als «Aktualisierung des Lebendigen»
übersetzt werden könnte, werden wir als Wesen gesehen, die
gleichzeitig von Natur und Kultur geprägt werden. Bioenergetik hat
verschiedene eigene operative Definitionen dessen, was sie als
«Energie» versteht. Ihre vier Hauptprinzipien jedoch sind: Erdung,
Atmung, Bewegung und Ausdruck. Ziel, soweit ich es verstehe, ist,
die uns innewohnende Lebensenergie, falls sie durch schwierige bzw.
verletzende Erlebnisse in der Kindheit, der Jugend oder im
Erwachsenalter irgendwo im Leib blockiert wurde, wieder zum
unbehinderten Fliessen zu bringen.
Das Cover ist ein stimmiges Sinnbild für das Thema dieses neuen
Buches der promovierten Theologin und Bioenergetischen Analytikerin
Irmhild Liebau, die bis 2016 die Zeitschrift ›Forum Bioenergetische
Analyse‹ herausgab und das Seelsorgeinstitut Bethel in Bielefeld
seit sieben Jahren leitet. Das Lied «Summertime» fällt mir ein, in
dem Fische, die hochspringen, von dem einfacher und leichter
werdenden Leben singen, da die kommende Ernte wächst. So wie jede/r
von uns die/der geworden ist, die/der sie/er heute ist, können wir
jeweils, von innen her kommend, unser Wohlbefinden
aufrechterhalten. Falls wir damit unzufrieden sind, lässt sich
dieser Zustand verändern, wenn wir wollen, können und dürfen. Sich
erneut an die aktuelle Lebensenergie wenden, damit das Einstimmen
ins eigene Wohlbefinden wieder gelingen kann, lautet dann das Ziel.
Dieses Buch ist ein hervorragendes Beispiel, wie lebendig die
Bioenergetik und köperorientierte Psychotherapie geworden ist und
bleibt. Liebaus witziger Vorschlag, innerhalb von nur einem
Mondzyklus, sich in die neue Lebensfrische einzuüben, ist
verblüffend elegant. Die verschiedenen Gebrauchsanweisungen liegen
vor und müssen – in Zukunft – nicht mehr mühsam aus verschiedenen
Büchern und Videos zusammengesucht werden. Liebau arrangierte ihre
Übungen über 28 Tage, gegliedert in zwei Teile. Erst kommt der
Körper als Ressource: «Arbeiten an der eigenen Persönlichkeit».
Teil zwei widmet sich dem Entfalten neuer Lebensenergie: «Mit Leib
und Seele leben und arbeiten». Da wir von nirgends nicht
irgendwohin gehen können, kommen wir zuerst einmal im eigenen
Körper an. Dazu hat sie vier Übungen vorbereitet, die im Sitzen und
im Gehen praktiziert werden. Wie bei allen
körperpsychotherapeutischen Verfahren ist der Atem, der Odem des
Lebens, im Zentrum des Seins. Zuerst sich selber spüren, erden,
zentrieren, den Atem kommen und gehen lassen. Zufrieden sein, mit
dem, was kommt, und zufrieden sein, mit dem, was geht. Da wir
gerade am Sitzen sind, lesen sich die beiden Theorieteile angenehm
ruhig. Erst gibt die Autorin brauchbare Hintergrundinformationen
zur Geschichte der Bioenergetischen Analyse (BA). Dann kommen wir
ganz in die Gegenwart hinein, mit ihren ausgiebigen Schilderungen
neuer Weiterentwicklungen, wo die Autorin sich erfreulicherweise
auch auf unsere Redaktionskollegin, Psychotherapieforscherin,
Bioenergetische Analytikerin und Autorin, Margit Koemeda-Lutz,
beruft. Am zweiten Tag wenden wir uns der eigenen Leiblichkeit als
Quelle der Kraft zu. Durch die erste Woche folgen dann lockere
Übungen zum Bodenkontakt, Aufrichten und Sich-Beugen, den Blick zum
Himmel und zur Erde-Richten und dem Dazwischensein des Menschen.
Der Selbstausdruck folgt der notwendigen Zuwendung zum eigenen
Selbst. Jeder Tag endet mit einer kleinen würzigen Brise Theorie.
Modellhaft erzählt Liebau kleine Vignetten aus ihrer Praxis. Am
achten Tag gibt es spielerische Körperübungen für Frau
beziehungsweise Mann. Was wäre ein Leben ohne Freude an den eigenen
Aspekten des Weiblich- und/oder Männlich-Seins? Diese
Yin/Yang-Kräfte wieder zu aktivieren zu einer neuen Frische, das
lockt sie uns zu tun. Just zum vierzehnten Tag ermuntert sie uns,
frei zu nehmen, das bisher Getane zu feiern.
Der zweite Teil beginnt wieder mit der Körperwahrnehmung, um nach
der gewährten Freizeit wieder zu einer genügend guten Erdung und
Atmung zu finden. Die Qualität des eigenen Boden- und
Körperkontakts ist wichtig, da wir dadurch die neue Lebensenergie,
die Liebau uns wünscht, erleben können. Sie erzählt von einer
depressiven Klientin, die mithilfe dieser Übungen aus den
trübsinnigen Stimmungen herauskam. Ab dem 18. Tag werden die sieben
Trauma/Tension Releasing Exercises (TRE) eingeführt. Trauma (zur
Erinnerung) ist das griechische Wort für «grosse Wunde». Bis zum
Schluss des Monats können wir diese jeweils in verschiedenen
Kombinationen wiederholen, was der notwendigen Vertiefung hilft –
l/'education c/'est Part de la repetition. Für die Tänzerinnen
unter den kommenden Leserinnen, sind Trommeltänze im Programm. Da
wir als Kinder alle durch den Tag tanzen konnten, verbinden wir
dadurch das innere Kind mit der heutigen Person. Sie lachen? Prima,
denn das innere Lächeln darf wieder eingeübt werden, fünfzehn
Minuten lang, mindestens. Schlussendlich dürfen wir uns räkeln,
recken und strecken sowie zur Ruhe kommen, verweilen im Nichts-Tun.
Aktive Imagination wird öfters vorgeschlagen, ganz ohne
theoretische und methodenspezifische Fixierung. Wozu auch, da
dieses Übungsprogramm dem Entfalten der eigenen Selbstkräfte gilt.
Die Selbstwahrnehmung, die Selbstsicherheit, das Selbstvertrauen
und das Horchen auf die innere Stimme sind gleichzeitig die
Voraussetzung und der heilende Weg zur frischen Ganzheit.
Das ganze Programm hat Liebau in den vergangenen vier Jahrzehnten,
aus einem grossen Fundus heraus, konzipiert, selber mit sich und
Klientinnen eingeübt. Es funktioniert, leider (Spass). Somit: Auf
und dran bleiben!