Rezension zu Männlichkeit, Sexualität, Aggression
Psychoanalyse Aktuell – Online-Zeitung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung DPV vom 20. November 2017
Rezension von Arne Burchartz
Von der Krise und der Neudefinition von Männlichkeit und
Väterlichkeit, von der konflikthaften und chancenreichen
Identitätsfindung männlicher Kinder und Jugendlicher ist im
psychoanalytischen Diskurs schon seit längerer Zeit die Rede. Das
ist in der Psychoanalyse nichts Neues, kam doch dem Vater seit
ihren Anfängen eine entscheidende Funktion für die Strukturierung
der Psyche zu. Doch diese Sichtweise ist zunehmend verblasst, die
Triebtheorie wurde ergänzt, teils ins Abseits gedrängt oder gar
gänzlich verabschiedet durch die Ich-Psychologie, die
Objektbeziehungstheorien, die Selbstpsychologie und neuere
intersubjektive Ansätze. In den Triangulierungskonzepten finden
sich – zunächst zaghaft, inzwischen in breitem Konsens - neuere
Positionsbestimmungen des Vaters. Was hat zu der neuerlichen
Hinwendung zu Männlichkeit und Väterlichkeit geführt?
Im vorliegenden Buch stößt man auf vielfältige und vielschichtige
Gründe: Zum einen führt die Erosion patriarchalischer Ordnungen und
Leitvorstellungen im 20. Jahrhundert zu einer Neuorientierung in
der Frage der männlichen und väterlichen Identität. Spätestens mit
der Katastrophe zweier Weltkriege im 20. Jhd. ist die Herrschaft
des Patriarchats fragwürdig geworden. Sowohl der kritische Aufbruch
der »Studentenbewegung« als auch die erstarkende Frauenemanzipation
und schließlich die Genderdebatte, in der die
Zweigeschlechtlichkeit als soziologisches Konstrukt in Frage
gestellt wird, veränderten die Prozesse männlicher
Identitätsbildung. Zudem stellt die Reproduktionsmedizin die
Väterlichkeit in völlig neue Horizonte: Was ist ein Vater
angesichts von Samenspende und Leihmutterschaft? Gleichzeitig
gewinnen archaische (heterosexuelle) Männlichkeitsvorstellungen,
die sich an Autoritarismus, an phallischer Grandiosität, Macht,
Gewalt und teils religiös gerechtfertigtem Sexismus orientieren,
individuell und weltweit politisch an Bedeutung. Diese Hinwendung
zu autoritären Leitbildern können als Identitätsstützen sich
auflösender Männlichkeit verstanden werden, als Abwehr von erlebter
Ohnmacht und Hilflosigkeit, oder als Versuche der
Unübersichtlichkeit der Geschlechterpositionen in der Postmoderne
zu entkommen. »In der Moderne (wird)... Männlichkeit sozusagen von
zwei Seiten in die Zange genommen« (S. 10). Im Spannungsfeld dieser
psychischen, soziologischen und politischen Entwicklungen bewegen
sich die Beiträge dieses Bandes. Sie beschreiben einen weiten
Bogen:
Josef Christian Aigner hinterfragt die Gendertheorien kritisch. Die
Verleugnung von Geschlechterdifferenzen scheint einem angstbetonten
Motiv zu entstammen. Wird doch im Genderdiskurs allzu leicht und
unkritisch Differenz mit männlichem Herrschaftsstreben
gleichgesetzt: Männlichkeit wird unter Generalverdacht gestellt.
Dem begegnet Aigner, indem er das Konzept der
Zweigeschlechtlichkeit auf psychophysische Erfahrungen gründet.
Michael Diamond geht von einer grundlegenden Vulnerabilität des
Jungen aus, die in ihrer phallischen Verarbeitung eine dauerhafte,
nicht auflösbare Spannung in der Psyche hinterlässt. Er beschreibt,
dass männliche Identität immer aus frühen, präödipalen
Identifizierungen mit beiden Eltern hervor geht. Der heranwachsende
Junge steht vor der Aufgabe, Vulnerabilität, Mangelerfahrungen,
phallische Ich-Ideale und genital-ödipale Positionen zu balancieren
und zu integrieren.
Dass Vaterschaft bei weitem nicht so eindeutig war, wie wir das
»früheren Zeiten« zuzuschreiben pflegen, weist Simone Korff Sausse
anhand der römischen Vorstellung des »pater familias« und der
christlichen Ikonographie der Figur des Joseph nach. Vaterwerden –
so die Autorin – bringt das Infantil-Sexuelle, das
Weibliche/Mütterliche und die Identifizierung mit dem eigenen Vater
ins Spiel – ein Prozess, der immer schon voller »Hindernisse und
Fallen« steckte.
Mit Vaterschaft setzt sich auch Hans-Geert Metzger auseinander. Als
Aufgabe des Vaters fordert er, dass er im Zeitalter des Narzissmus
Verantwortung für Bindung und Grenzsetzung – hier besonders die
Inzest-Grenze und die Generationen-Grenze - übernehmen muss. Dazu
muss der Vater über eine gesunde, kontrollierte Aggression
verfügen. Bei einer defensiv-unterwürfigen, versteckt verweigernden
Haltung wird Aggression destruktiv oder zeigt
phallisch-narzisstische Züge. Wenn sie sublimiert in persönliche
Autorität integriert ist, weist sie über sich selbst hinaus auf
einen kulturellen Prozess.
Auch Dieter Bürgin setzt sich mit Autorität auseinander – im Rahmen
seines Beitrags untersucht er die zentrale Frage, was Verantwortung
ist und wie Jugendliche zu einer allmählichen
Verantwortungsübernahme für die eigene Innenwelt und für ihr
Verhalten in der Außenwelt kommen. Es ist ein hürdenreicher Weg,
der die Aufgabe infantiler Illusionen fordert: Wut, Eifersucht und
Auflehnung müssen ertragen werden bis der Jugendliche allmählich
seine Getrenntheit annehmen und Verantwortung für sich und sein
Handeln übernehmen kann. Am Ende steht – wenn es gut geht – die
Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme für die Elternschaft.
Hans Hopf beschreibt die Entwicklungsbedingungen für die häufig
auftretenden externalisierenden Abwehrmuster bei Jungen, die sich
in unruhig-aggressiven Verhaltensweisen äußern. Dabei spielt die
Vaterlosigkeit dieser Jungen eine große Rolle. Wenn die
triangulierende Funktion des Vaters fehlt, ist die notwendige
Integration von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Entwicklung
des Jungen gefährdet und der Junge bleibt in defensiven, phallisch
narzisstischen Positionen gefangen.
Das Anwachsen destruktiv-männlicher Gewalt kann auf der Abwehr von
Schwäche- und Abhängigkeitsgefühlen beruhen. Dazu liefert Frank
Dammasch einen sehr plastischen Fallbericht: ein zehnjähriger
Junge, der einer familiären »Entwertungsdynamik« ausgesetzt ist,
einer Kombination aus überstimulierender inzestuöser Nähe zur
Mutter und einer rigiden Haltung des Vaters, kann dessen Nein nicht
akzeptieren. Es kommt zu einem destruktiven Agieren, welches durch
eine traumatische Beschneidungserfahrung zusätzlich verstärkt wird.
Ein Fall, der pars pro toto die männliche Gewaltentwicklung
veranschaulicht.
Eine andere Entwicklung zu destruktivem Hass beschreibt Mohammad
Reza Davami in seinem Fallbericht über die Psychotherapie eines
moslemischen Patienten. Hier steht im Mittelpunkt der Dynamik eine
Idealisierung (Deutschlands), die durch reale
Enttäuschungserfahrungen, narzisstische Kränkung und deren
projektive Verarbeitung in Hass umschlägt. Es wird die zu Grunde
liegende destruktive Sohn-Vater-Beziehung erkennbar. Destruktive
und autoaggressive Tendenzen mussten in der Psychotherapie gehalten
und bearbeitet werden.
Die Mentalisierung der sexuellen Erregung des Säuglings bleibt
weitgehend aus – denn die Spiegelung sexueller Affekte ist in der
frühen Eltern-Kind-Beziehung rudimentär, wie empirische
Untersuchungen ergeben haben. Daraus ergibt sich nach Peter Fonagy,
dass die Sexualität etwas Rätselhaftes bleibt (ähnlich auch
Laplanche) und dauerhaft einen Anderen braucht – dies wäre dann
auch der evolutionäre Sinn der mangelnden Spiegelung. Sexuelle
Erregung kann nie vollständig als zu einem selbst gehörend erlebt
werden, da sie mental nicht umfänglich angeeignet wurde wie andere
psychophysische Vorgänge. Fonagy verdeutlicht das an dem klinischen
Beispiel eines 17jährigen Jugendlichen.
Heribert Blaß zeigt anhand zweier Behandlungen männlicher Patienten
auf, wie Cybersex eine »strukturierende bzw. reparative« Bedeutung
haben kann. Er ermöglicht, die ängstigende, reale Nähe zu einer
Frau zu vermeiden und dabei die Kontrolle über den eigenen
männlichen und den phantasierten weiblichen Körper zu behalten.
Darin steckt im Grunde eine Fixierung auf die adoleszente
Masturbation, in der es um die Ablösung vom mütterlichen Körper und
um Selbstbestimmung geht. Allerdings kann diese Fixierung die
Entwicklung realer befriedigender reziproker Liebesbeziehungen
verhindern.
Welchen Einfluss die Reproduktionsmedizin auf das Erleben von
Konzeption, von Mutter-Werden oder dessen Versagung hat, beschreibt
Ute Auhagen-Stephanos. Dabei zeigt sie auch auf, welche
Folgen daraus für Männer und deren Vaterschaft entstehen können.
Wenn der Mann lediglich »hilfloser Zuschauer« ist, »wenn ein
Dritter, der Arzt, mit dem Embryotransfer die Befruchtung seiner
Partnerin vollzieht,« kann das als Depotenzierung erlebt werden.
Nicht selten entwickeln sich aus solchen partnerschaftlichen
Belastungen sexuelle Störungen bei dem betroffenen Paar. Aber auch
Schädigungen der kindlichen Entwicklung sind möglich.
Auhagen-Stephanos stellt das psychotherapeutisch-unterstützende
Vorgehen des »Mutter-Embryo-Dialogs« vor als Hilfe entstandene
Beziehungslücken zu überwinden.
Ebenfalls um künstliche Befruchtungen – auch im Rahmen »neuer
Sexualitäten« – geht es in dem zweiten Beitrag von Hans-Geert
Metzger. Er hinterfragt die Idealisierung dieser
Reproduktionsformen als »Selbstbestimmung« und geht den möglichen
Phantasien der Betroffenen und ihren schwer fassbaren
Gefühlszuständen nach. Die Psychodynamik künstlicher Befruchtung
ist oft begleitet von unauflöslicher Fremdheit, Allmachtsphantasien
und dem Verleugnen von Begrenztheitserfahrungen. Metzger sieht
darin die Folgen einer fragilen bis fehlenden Triangulierung. Er
betont die Bedeutung der jeden Menschen von Kindheit an
umtreibenden Frage nach der eigenen Herkunft, die unweigerlich zur
Urszene führt, und die nicht nur als unbewusste, präverbale
Vorstellung, sondern auch biologisch heterosexuell angelegt
ist.
Die Vielfalt der Beiträge in diesem Band ist Anregung, sich in das
vielschichtige Thema »Männlichkeit« einzulesen. Dabei entdeckt der
Leser fasziniert immer wieder ähnliche Gedanken und
Argumentationsstränge in unterschiedlichen Zusammenhängen. Es ist,
als befänden sich die Autoren in einem virtuellen Dialog. Bei aller
Verschiedenheit der Beiträge ist der rote Faden des Dargestellten
erkennbar. Das mag damit zusammenhängen, dass mehrere Texte auf
einer gemeinsamen Tagung vorgetragen wurden (Psychoanalyse des
Jungen und des Mannes in Obergurgl/Tirol). Aber das ist nicht
alles: Die Psychoanalyse befindet sich ständig in einem Diskurs,
das macht dieser Band deutlich. Dieser Diskurs ist nicht
widerspruchsfrei, aber lebendig, differenziert und am Zeitgeschehen
und dessen unbewussten Strömungen orientiert. Die Herausgeber,
Hans-Geert Metzger und Frank Dammasch, gehören sicherlich zu den
herausragenden Köpfen der gegenwärtigen Diskussion um
Männlichkeit.
Dieses Buch ist unbedingt lesenswert. Es weist über die
psychoanalytische Community hinaus und schließt an aktuelle
kulturelle Diskussionen an. Es ist Psychotherapeuten, Soziologen
und Pädagogen gleichermaßen zu empfehlen.
www.psychoanalyse-aktuell.de