Rezension zu Zeitlose Erfahrung (PDF-E-Book)

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Rezension von Ernst Mayerl

Lesen Sie hier die Rezension von Ernst Mayerl zur englischen Originalausgabe: »Timeless Experience: Laura Perls’s Unpublished Notebooks and Literary Texts 1946–1985«, originally published by Cambridge Scholars Publishing, Newcastle upon Tyne.

Schmales Œuvre – große Wirkung

Es ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, wie wenig Laura Perls zeit ihres Lebens veröffentlichte und wie bedeutsam sie für die Geschichte und Theorie der Gestalttherapie ist. Ihr Beitrag zur Erfindung und Entwicklung der Gestalttherapie ist allgemein anerkannt, obwohl das grundlegende Werk (F. S.Perls/R. F.Hefferline/P.Goodman, Gestalt Therapy, New York 1951) sie nicht als Autorin anführt. Ihre nachhaltige Wirksamkeit beruht vor allem darauf, dass sie das erste Institut für Gestalttherapie mitbegründete und dessen erste und langjährige Präsidentin war, an dem sie auch über Jahrzehnte als Ausbildnerin lehrte. Darüber hinaus leitete sie ab Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts viele Workshops in Europa. So gab sie ihre Auffassung von Gestalttherapie an mehrere Generationen von Gestalttherapeutinnen weiter. Wir können nur ahnen, für wie viele Menschen das, was Laura Perls zusammen mit Fritz Perls und Paul Goodmann in die Welt brachte, eine entscheidende Wendung in ihrem Leben herbeiführte. Wir wissen auch nicht, außer was uns Laura Perls selbst darüber mitteilte, wie es kommt, dass ein jüdisches Mädchen aus Pforzheim zu einer bedeutenden Impulsgeberin für die Entwicklung der Psychotherapie im 20. Jahrhundert wurde. Die von Milan Sreckovic seit langem angekündigte Biografie ist bedauerlicherweise noch immer nicht erschienen und die im Handbuch der Gestalttherapie erwähnten Dokumente (Fuhr et.al. (Hg.) 1999, S. 15.) stehen der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung. Umso größer wird das Interesse für die vorliegende Publikation sein, weil sie als weitere Quelle anzusehen ist, die dem/der interessierten Leserin Auskunft gibt, wie Laura Perls sich selbst sah, was sie bewegte und antrieb.

Laura Perls Selbstverständnis

Ein erstaunlicher Eintrag findet sich in Laura Perls Aufzeichnungen im November 1975: »And in spite of having written less and less and not published anything except some professional articles, I still consider myself a writer« (Timeless Experience, S. 1). Wie können wir diesen Satz verstehen? Er wird von Laura Perls im Kontext der Frage nach einer Autobiografie niedergeschrieben. Was ihr dazu vorschwebte, findet sich in einem Interview, das der amerikanische Gestalttherapeut Edward Rosenfeld(ER) 1977 mit ihr führte: LP: »... Am meisten werde ich nach einer Autobiografie gefragt. Aber ich kann keine normale Autobiografie schreiben mit den einfachen Fakten, das langweilt mich. ER: Verfolgst du einen anderen Ansatz? LP: Seit langem. Schon 1940 fing ich an, Geschichten zu schreiben. Sie handeln hauptsächlich von wichtigen Erfahrungen in meiner Jugend und in meinem Leben. ER: Schreibst du neue Geschichten oder nimmst du die alten? LP: Ich sehe die alten durch, und sie müssen natürlich irgendwie miteinander verbunden werden. Es wird auf eine Mischung aus Wahrheit und Fiktion hinauslaufen. Ein Mythos ist immer wahrer als die Fakten: Es ist eine Integration der Erfahrungen.« (Gestaltkritik, 10. Jahrgang Nr. 2/2001, S. 26). Erstmals können wir nun nachvollziehen, wie Laura Perls ihre Autobiografie ausgeführt hätte.

Der Inhalt von Timeless Experience

Die Notizbücher und Texte, die uns hier vorliegen, beginnen im Jahr 1946. Damals lebte Laura Perls mit Fritz Perls und ihren beiden Kindern, Renate und Stephen, in Südafrika, wohin die Perls auf der Flucht vor der Verfolgung durch die Nazis und auf der Suche nach einer Möglichkeit, die eigene Existenz als Psychoanalytikerinnen bestreiten zu können, emigriert waren. Sie enden mit einem Brief, datiert mit 1985, an Hans Wongtschowski, geschrieben in New York, wo sie ab 1947 – bis knapp vor ihrem Tod 1990 – ihren Lebensmittelpunkt hatte.

Laura Perls schrieb Gedichte, Kurzgeschichten, übertrug Gedichte, die ihr wichtig waren, aus dem Deutschen ins Englische. Wir finden Notizen zu Büchern, die sie las – u.a. zu Erich Fromm, Albert Camus, Rainer Maria Rilke, Julian Green und Herbert Marcuse. Sie schrieb von ihrer Trauer und Verzweiflung über ihre Ehe mit Fritz Perls: »3/19/55 My darling Fritz, – ... I dont know where I stand, or rather where we stand, – if there is still a ›we‹. There is hardly any evidence of it, now. The tears are already streaming down my face, – I dont seem to do anything eise but cry nowadays, when I am by myself... What has happened to us? I cant even ask you directly. I cannot ask you anything. I cant talk to you any more, not for a long time« (55f.). Es gibt Briefe an nahestehende Menschen, Kommentare zu ihrer Arbeit mit Klientinnen, Bemerkungen, die ihren Alltag betreffen. Sie notierte auftauchende Erinnerungen aus ihrer Kindheit, bereitete sich auf eine Podiumsdiskussion mit prominenten Vertretern anderer Psychotherapierichtungen vor – kurz: wir können Laura Perls über die Schulter schauen. Es findet sich in den Notizbüchern kein Klatsch und Tratsch – das hat sich wohl auch niemand erwartet, der ein wenig mit ihrem Leben vertraut ist. Dafür gibt es Fotos von Laura Perls und ihrer Familie und einen Stammbaum der Familien Perls und Posner, der von Renate Perls und ihrer Tochter Leslie Gold erstellt wurde (Abb. 2).

Was die Notizbücher ebenfalls enthalten, sind mehrere als Fachartikel erschienene Beiträge – z.B. »Two Instances of Gestalt Therapy« oder »One Gestalt Therapists Approach«. Sie konnten aber in den vorliegenden Band nicht aufgenommen werden, weil der Verlag die Rechte nicht freigegeben hatte. Aufgenommen wurde ein sehr ausführliches Interview, das der amerikanische Gestalttherapeut Daniel Rosenblatt mit Laura Perls 1972 führte und das in diesem Buch erstmals in englischer Sprache erschienen ist. Sowohl die Fachartikel als auch das Interview liegen in deutscher Sprache vor und können nun im Kontext von »Timeless Experience« neu gelesen und verstanden werden.

Dazu tragen vor allem eine kenntnis- und detailreiche, 70 Seiten lange Einführung der Herausgeberin Nancy Amendt-Lyon, bei. Sie hat ausführlich den biografischen Hintergrund zu allen in den Notizbüchern und im Interview erwähnten Personen recherchiert. Darüber hinaus berichtet sie von ihren persönlichen Begegnungen mit Laura Perls und wie sie die Herausgeberin dieser Notizbücher wurde. Sie schildert den Aufwand, der notwendig war, um Laura Perls Handschrift zu entziffern. Die im Buch enthaltenen Faksimiles vermitteln davon einen Eindruck (Abb. 56–60). Nancy Amendt-Lyons sorgfältiger Umgang mit dem Text ist in den 445 Fußnoten dokumentiert, in denen sie abweichende Varianten anführt und Erklärungen und Hintergrundinformationen zum Text bietet. Das ist von unschätzbarem Wert, weil auch Laura Perls – wie die Herausgeberin unter Verweis auf neueste Forschungsergebnisse von Bernd Bocian belegt – sich bei ihren Erinnerungen in Interviews bisweilen irrte. Bedauerlich ist, dass der Verlag auf ein Personenregister verzichtete.

Fazit

Nach der Lektüre dieses Buches erweitert sich das Bild von Laura Perls um eine überraschende Facette. Sie hat sich selbst als »writer« gesehen. Da sie tatsächlich sehr wenig Schriftliches hinterließ und diese Feststellung, wenn man sie wörtlich nimmt, keinen Sinn macht, muss sich dieses Selbstbild auf ihre Sicht der Welt und ihre Einstellung zum Leben beziehen. In ihren Gedichten und Kurzgeschichten hat sie dafür einen Ausdruck gefunden. Vielleicht verhält es sich mit dem Schreiben aber auch so, wie es die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger 2005 in einem Interview ausdrückte: »Lange Zeit habe ich das Nichtschreiben als eigentliche Tätigkeit des Schreibens angesehen« (I.Aichinger, Es muss gar nichts bleiben, Wien 2011, S. 223).

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