Rezension zu Zeitlose Erfahrung
psychotherapie forum (2016)21
Rezension von Ernst Mayerl
Lesen Sie hier die Rezension von Ernst Mayerl zur englischen
Originalausgabe: »Timeless Experience: Laura Perls’s Unpublished
Notebooks and Literary Texts 1946–1985«, originally published by
Cambridge Scholars Publishing, Newcastle upon Tyne.
Schmales Œuvre – große Wirkung
Es ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, wie wenig Laura Perls
zeit ihres Lebens veröffentlichte und wie bedeutsam sie für die
Geschichte und Theorie der Gestalttherapie ist. Ihr Beitrag zur
Erfindung und Entwicklung der Gestalttherapie ist allgemein
anerkannt, obwohl das grundlegende Werk (F. S.Perls/R.
F.Hefferline/P.Goodman, Gestalt Therapy, New York 1951) sie nicht
als Autorin anführt. Ihre nachhaltige Wirksamkeit beruht vor allem
darauf, dass sie das erste Institut für Gestalttherapie
mitbegründete und dessen erste und langjährige Präsidentin war, an
dem sie auch über Jahrzehnte als Ausbildnerin lehrte. Darüber
hinaus leitete sie ab Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts
viele Workshops in Europa. So gab sie ihre Auffassung von
Gestalttherapie an mehrere Generationen von Gestalttherapeutinnen
weiter. Wir können nur ahnen, für wie viele Menschen das, was Laura
Perls zusammen mit Fritz Perls und Paul Goodmann in die Welt
brachte, eine entscheidende Wendung in ihrem Leben herbeiführte.
Wir wissen auch nicht, außer was uns Laura Perls selbst darüber
mitteilte, wie es kommt, dass ein jüdisches Mädchen aus Pforzheim
zu einer bedeutenden Impulsgeberin für die Entwicklung der
Psychotherapie im 20. Jahrhundert wurde. Die von Milan Sreckovic
seit langem angekündigte Biografie ist bedauerlicherweise noch
immer nicht erschienen und die im Handbuch der Gestalttherapie
erwähnten Dokumente (Fuhr et.al. (Hg.) 1999, S. 15.) stehen der
Öffentlichkeit nicht zur Verfügung. Umso größer wird das Interesse
für die vorliegende Publikation sein, weil sie als weitere Quelle
anzusehen ist, die dem/der interessierten Leserin Auskunft gibt,
wie Laura Perls sich selbst sah, was sie bewegte und antrieb.
Laura Perls Selbstverständnis
Ein erstaunlicher Eintrag findet sich in Laura Perls Aufzeichnungen
im November 1975: »And in spite of having written less and less and
not published anything except some professional articles, I still
consider myself a writer« (Timeless Experience, S. 1). Wie können
wir diesen Satz verstehen? Er wird von Laura Perls im Kontext der
Frage nach einer Autobiografie niedergeschrieben. Was ihr dazu
vorschwebte, findet sich in einem Interview, das der amerikanische
Gestalttherapeut Edward Rosenfeld(ER) 1977 mit ihr führte: LP: »...
Am meisten werde ich nach einer Autobiografie gefragt. Aber ich
kann keine normale Autobiografie schreiben mit den einfachen
Fakten, das langweilt mich. ER: Verfolgst du einen anderen Ansatz?
LP: Seit langem. Schon 1940 fing ich an, Geschichten zu schreiben.
Sie handeln hauptsächlich von wichtigen Erfahrungen in meiner
Jugend und in meinem Leben. ER: Schreibst du neue Geschichten oder
nimmst du die alten? LP: Ich sehe die alten durch, und sie müssen
natürlich irgendwie miteinander verbunden werden. Es wird auf eine
Mischung aus Wahrheit und Fiktion hinauslaufen. Ein Mythos ist
immer wahrer als die Fakten: Es ist eine Integration der
Erfahrungen.« (Gestaltkritik, 10. Jahrgang Nr. 2/2001, S. 26).
Erstmals können wir nun nachvollziehen, wie Laura Perls ihre
Autobiografie ausgeführt hätte.
Der Inhalt von Timeless Experience
Die Notizbücher und Texte, die uns hier vorliegen, beginnen im Jahr
1946. Damals lebte Laura Perls mit Fritz Perls und ihren beiden
Kindern, Renate und Stephen, in Südafrika, wohin die Perls auf der
Flucht vor der Verfolgung durch die Nazis und auf der Suche nach
einer Möglichkeit, die eigene Existenz als Psychoanalytikerinnen
bestreiten zu können, emigriert waren. Sie enden mit einem Brief,
datiert mit 1985, an Hans Wongtschowski, geschrieben in New York,
wo sie ab 1947 – bis knapp vor ihrem Tod 1990 – ihren
Lebensmittelpunkt hatte.
Laura Perls schrieb Gedichte, Kurzgeschichten, übertrug Gedichte,
die ihr wichtig waren, aus dem Deutschen ins Englische. Wir finden
Notizen zu Büchern, die sie las – u.a. zu Erich Fromm, Albert
Camus, Rainer Maria Rilke, Julian Green und Herbert Marcuse. Sie
schrieb von ihrer Trauer und Verzweiflung über ihre Ehe mit Fritz
Perls: »3/19/55 My darling Fritz, – ... I dont know where I stand,
or rather where we stand, – if there is still a ›we‹. There is
hardly any evidence of it, now. The tears are already streaming
down my face, – I dont seem to do anything eise but cry nowadays,
when I am by myself... What has happened to us? I cant even ask you
directly. I cannot ask you anything. I cant talk to you any more,
not for a long time« (55f.). Es gibt Briefe an nahestehende
Menschen, Kommentare zu ihrer Arbeit mit Klientinnen, Bemerkungen,
die ihren Alltag betreffen. Sie notierte auftauchende Erinnerungen
aus ihrer Kindheit, bereitete sich auf eine Podiumsdiskussion mit
prominenten Vertretern anderer Psychotherapierichtungen vor – kurz:
wir können Laura Perls über die Schulter schauen. Es findet sich in
den Notizbüchern kein Klatsch und Tratsch – das hat sich wohl auch
niemand erwartet, der ein wenig mit ihrem Leben vertraut ist. Dafür
gibt es Fotos von Laura Perls und ihrer Familie und einen Stammbaum
der Familien Perls und Posner, der von Renate Perls und ihrer
Tochter Leslie Gold erstellt wurde (Abb. 2).
Was die Notizbücher ebenfalls enthalten, sind mehrere als
Fachartikel erschienene Beiträge – z.B. »Two Instances of Gestalt
Therapy« oder »One Gestalt Therapists Approach«. Sie konnten aber
in den vorliegenden Band nicht aufgenommen werden, weil der Verlag
die Rechte nicht freigegeben hatte. Aufgenommen wurde ein sehr
ausführliches Interview, das der amerikanische Gestalttherapeut
Daniel Rosenblatt mit Laura Perls 1972 führte und das in diesem
Buch erstmals in englischer Sprache erschienen ist. Sowohl die
Fachartikel als auch das Interview liegen in deutscher Sprache vor
und können nun im Kontext von »Timeless Experience« neu gelesen und
verstanden werden.
Dazu tragen vor allem eine kenntnis- und detailreiche, 70 Seiten
lange Einführung der Herausgeberin Nancy Amendt-Lyon, bei. Sie hat
ausführlich den biografischen Hintergrund zu allen in den
Notizbüchern und im Interview erwähnten Personen recherchiert.
Darüber hinaus berichtet sie von ihren persönlichen Begegnungen mit
Laura Perls und wie sie die Herausgeberin dieser Notizbücher wurde.
Sie schildert den Aufwand, der notwendig war, um Laura Perls
Handschrift zu entziffern. Die im Buch enthaltenen Faksimiles
vermitteln davon einen Eindruck (Abb. 56–60). Nancy Amendt-Lyons
sorgfältiger Umgang mit dem Text ist in den 445 Fußnoten
dokumentiert, in denen sie abweichende Varianten anführt und
Erklärungen und Hintergrundinformationen zum Text bietet. Das ist
von unschätzbarem Wert, weil auch Laura Perls – wie die
Herausgeberin unter Verweis auf neueste Forschungsergebnisse von
Bernd Bocian belegt – sich bei ihren Erinnerungen in Interviews
bisweilen irrte. Bedauerlich ist, dass der Verlag auf ein
Personenregister verzichtete.
Fazit
Nach der Lektüre dieses Buches erweitert sich das Bild von Laura
Perls um eine überraschende Facette. Sie hat sich selbst als
»writer« gesehen. Da sie tatsächlich sehr wenig Schriftliches
hinterließ und diese Feststellung, wenn man sie wörtlich nimmt,
keinen Sinn macht, muss sich dieses Selbstbild auf ihre Sicht der
Welt und ihre Einstellung zum Leben beziehen. In ihren Gedichten
und Kurzgeschichten hat sie dafür einen Ausdruck gefunden.
Vielleicht verhält es sich mit dem Schreiben aber auch so, wie es
die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger 2005 in einem
Interview ausdrückte: »Lange Zeit habe ich das Nichtschreiben als
eigentliche Tätigkeit des Schreibens angesehen« (I.Aichinger, Es
muss gar nichts bleiben, Wien 2011, S. 223).