Rezension zu Schreiben und Scham
www.literaturkritik.de vom 7. November 2017
Rezension von Torsten Voss
Von »Fischgesichtern« und der produktiven Kraft der Scham
Monique Honegger veröffentlicht einen Sammelband zu »Schreiben und
Scham«
Mit dem Analogieverhältnis von Schreiben und Scham wird der Leser
zunächst an typische Arbeiten zur Schreibforschung und auch zur
Schreibtherapie erinnert, um die sich der Psychosozial-Verlag in
den letzten Jahren immer wieder verdient gemacht hat. Der
Scham-Begriff wird zunächst in der Einleitung, aber auch im stark
explikativ ausgerichteten ersten Beitrag der Herausgeberin, mit der
stark affektiv konnotierten Versagensangst, zum Beispiel beim
akademischen Schreiben aber auch in anderen lebenspraktischen
Situationen, konnotiert. Mit ihm in Verbindung gebracht werden
Arbeiten, die sich im therapeutischen Bereich mit Schreibblockaden
und dem Phänomen der Prokrastination, also den unterschiedlichen
Ausprägungen der »Aufschieberitis« auseinandersetzen. Meist aus
Konfrontation mit den eigenen Leistungserwartungen entstehende und
durch einen selbst und andere Menschen generierte Selbstzweifel und
die darauf beruhenden Vorstellungen vom »Nicht-Genügen«, übrigens
sehr anschaulich, einfühlsam und anekdotisch am sogenannten
»Fischgesicht« als affektive und motorische Verdrängungsoption von
Schamgefühlen exemplifiziert, werden oft als Ursache für das
Entstehen von Scham und damit für die Reduktion oder gar Hemmung
und Vermeidung von Schreibprozessen postuliert. Dem gilt es mit
verschiedenen unterstützenden Gegenmaßnahmen vom Schreibtraining,
über Workshops bis hin zu längeren Gesprächs- und
Verhaltenstherapien zu begegnen.
Der vielseitige und interdisziplinär angelegte Sammelband von
Monique Honegger orientiert sich zwar an Gegenstandsbereichen der
Schreibforschung, geht aber in wesentlichen Aspekten weit darüber
hinaus. So werden die affektiven Komponenten der Scham immer wieder
mit ihren (sozio-)kulturellen Voraussetzungen gekoppelt.
Schamkultur wird bereits in den einleitenden Beiträgen als ein die
Entwicklung beeinflussendes Korrektiv rezipiert und mit der Genese
von Gesellschaften kulturanthropologisch verknüpft. Es ist das
besondere Anliegen Honeggers, der Scham ihre teilweise negativen
Konnotationen zu nehmen. Anstatt sie nur mit den Wunschphantasien
einer schwarzen Pädagogik (Stichwort: Schäm Dich!) oder als eine
Herabsetzung des eigenen Ich durch ein unbarmherzig
determinierendes Regulativ zu begreifen, soll die Scham als Affekt
und auch in ihrer Verarbeitung in der von Honegger herausgegebenen
Publikation als Teil eines Arbeitsprozesses, der Reifung, der sich
entfaltenden Kreativität und der harmonischen Integration in ein
soziales Umfeld verstanden werden. Scham affiziert damit nicht
Stagnation sondern Evolution. Zwecks Visualisierung dieses nicht
ausgesprochen pejorativen Verständnisses von Scham nähert sich der
Band in fächerübergreifender Breite diesem Affekt, seinen
Wirkungsweisen auf das Ich und seine Umwelt und schlussendlich
seiner Nutzbarkeit an. Die Aufsatzsammlung gliedert sich in vier
Sektionen, welche sich unter den Titeln »Grundlagen – Schreiben und
Scham«, »Scham – Schamerleben beim Schreiben«, »Schreiben über
Schambehaftetes« und dem abschließenden Werkstattgespräch
»Schreiben ohne Scham, Scham ohne Schreiben« anordnen und für
kontextuelle, phänomenologische und lebenspraktische bis
therapeutische Sichtweisen auf die Scham (besonders) während des
Schreibprozesses stehen. Dazu gehört auch der komplexe und auch
durch Moralvorstellungen gepflegte (und daher kritisch zu
rezipierende und hier zu relativierende) Analogieschluss von Scham
und Schuld. Die Integration von Projektberichten und empirischen
Studien zeigt nicht nur den Zusammenhang von Schreibängsten und
Scham außerhalb jeglicher Schuldkomplexe auf, sondern informiert
auch über das Schreiben als Therapie aus der Scham heraus.
Letzteres spielt ja gerade bei studentischen oder akademischen
Schreibprozessen eine nicht unwesentliche Rolle und eignet sich
daher auch sehr gut für Schreibseminare und Workshops als
Grundlage.
Scham wird unter anderem in der Co-Produktion von David Garcia
Nunez und Matthias Jäger als Katalysator menschlicher Entwicklung
angesehen, der sowohl durch Erziehung als auch durch
Korrespondenzen mit der jeweiligen Umwelt entsteht, den
Betreffenden zu seinem Umfeld in einen Bezug setzt und sein
Interagieren mit eben diesem in höchstem Maße beeinflusst, aber
auch von ihm reguliert wird, was beispielsweise durch eine
psychoanalytische Durchleuchtung der Schreibscham durch den Beitrag
von Markus Fäh luzide visualisiert wird. Die gesamte erste Sektion
hält sich an das in der Einleitung Honeggers exprimierte
Bedingungsverhältnis und verdeutlicht: Scham ist ohne einen
interaktiven Kontext nicht zu denken. Sie steht immer in Konvergenz
und Interferenz mit einem inhalierten System von Überzeugungen und
Werten. Auch wenn keine direkte Kommunikation vorliegt, ist diese
doch stets unbewusst vorhanden. Die Autorinnen und Autoren
verweisen an dieser Stelle, bisweilen in freudianischer Tradition,
auf die Kontroll-Instanz des Über-Ich, welches dem Schreiben als
Motivator aber auch als Blockade dienen kann, vor allem in
Konfrontation mit externen und auch internen
Erwartungshaltungen.
Während die erste Sektion vor allem terminologische und
methodologische Aspekte in präziser Weise darlegt und damit
wichtige Fundamente für weitere Betrachtungen offeriert, sind die
beiden mittleren und an kategorialer Applikation interessierten
Abteilungen stark anwendungsbezogen und dokumentieren erneut die
fächerübergreifende Breite der Publikation: So erhält die filmische
Auseinandersetzung mit der scham- und schmerzbesetzten
Schreibkultur durch Daniel Ammanns genaue und problemorientierte
Fallanalyse von Brian Klugmans und Lee Sternthals Spielfilm »The
Words« ebenso ihre Berücksichtigung wie das Erlernen unbekannter
Schreibarten im normenorientierten Fremdsprachenunterricht mit all
den auftretenden Problemfeldern bezüglich der Entwicklung von
Lernenden. Die dritte Sektion schließt sich dieser exemplarischen
Ausfächerung an, gibt jedoch auch gezielt Aufschluss über
Bewältigungsstrategien, Präventions- und Therapiemaßnahmen.
Allerdings kommt dabei auch der Topos von der Sprache/Schrift als
Scham bewirkende Waffe nicht zu kurz. Das wirkungssuggestive
Potential der Schmähschrift, welches ja auch in interkulturellen
Auseinandersetzungen als Verbalinjurie wieder aktuell geworden ist,
wird durch Thomas Herrmann in intermedialer Vollständigkeit
entfaltet. Dass sich aus all diesen Facetten auch Ausblicke auf die
psychotherapeutische Praxis und Ausbildung ergeben, verdankt sich
nicht zuletzt Monique Honeggers Beitrag zur Schreibreflexion. Die
Konstellation von Schambewusstsein und Lernfortschritten angesichts
von reflektiertem Schreiben nimmt dabei einen angemessenen Raum ein
und versucht die negative Konnotation des Schambegriffs auszuhebeln
und ihn stattdessen für Schreibprozesse und auch die Entwicklung
von Schreibindividuen sinnvoll zu nutzen, was in dem
Werkstattgespräch mit Franz Dängeli und Monique Honegger einen
gelungenen und fundierten Abschluss und Ausblick findet.
Um dieses Ziel in seiner Vollständigkeit zu erreichen und auch die
Interdisziplinarität des Bandes zu emphatisieren, wäre womöglich
auch die Integration von Beitragenden aus den Disziplinen der
Theologie und Philosophie aufschlussreich gewesen. Die
metaphysischen, moralischen und ethischen Komponenten von
Schamkulturen (und deren traditionalistische, aber hier ja
relativierte, Koppelung an kulturhistorische Schuldkomplexe wie die
Sünde) hätte eine noch genauere Diskussion erfahren können, was
eventuell zu Ungunsten der empirischen und praktischen Befunde
ausgefallen wäre. Ebenso wäre ein literaturwissenschaftlicher
Beitrag, der sich mit der Scham aus motivlich-stofflicher
Perspektive literaturgeschichtlich auseinandergesetzt hätte,
angebracht gewesen. Auch mit Blick auf auktoriale Schreibprozesse
(und deren Dokumentation in Briefen oder Werktagebüchern) wäre aus
philologischer Sicht einiges zu Schreibkulturen zu sagen gewesen.
So aber überwiegen die psychoanalytischen, linguistischen und
schreibdidaktischen Beiträge, die allesamt kulturkontextuell,
problembewusst, empirisch orientiert und methodologisch scharf ihre
Ansätze und Ergebnisse präsentieren und damit weit über die
psychologische Schreibtherapie hinaus auch erschöpfende und
gewinnbringende Hilfestellungen für die allgemeine Schreib- und
Sprachdidaktik aufgrund der Neubetrachtung literal grundierter
Schamkulturen bieten. Insofern ist die von Monique Honegger edierte
Aufsatzsammlung sowohl für Schreibtrainierende als auch für
Therapeuten und Lehrende eine wichtige Grundlage für die eigene
methodologische, unterrichtende und therapeutische Arbeit.
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