Rezension zu Heilen nach dem Holocaust
Jüdische Allgemeine vom 13. November 2017
Rezension von Yizhak Ahren
Ein jüdischer Analytiker und die Gretchenfrage
Der amerikanische Psychiater Henri Parens entkam als Kind der Schoa
– seine Autobiografie erscheint jetzt auf Deutsch
Viele Frauen und Männer, die den Holocaust überlebt haben,
betrachten es als eine heilige Pflicht, die leidvolle
Holocaust-Geschichte ihrer Familie zu erzählen. Der berühmte
italienische Schriftsteller Primo Levi (1919–1987) hat sich für den
Fall einer Nichterfüllung dieser Pflicht drastische Strafen
ausgedacht: »Ihr sollt sie einschärfen euren Kindern. Oder eure
Wohnstatt soll zerbrechen, Krankheit soll euch niederringen, eure
Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.«
Levis Mahnung, von der Katastrophe zu erzählen, hat den
amerikanisch-jüdischen Psychoanalytiker Henri (Aron) Parens
(Jahrgang 1928) offensichtlich sehr bewegt, denn er zitiert die
angedrohten Strafen mehrfach in seiner lesenswerten Autobiografie,
die Susan Jones nun ins Deutsche übersetzt hat.
Parens erzählt seine Lebensgeschichte mit einer Aufrichtigkeit, die
außergewöhnlich ist. Der Autor bemüht sich um eine gewisse
Vollständigkeit und erwähnt auch solche Tatsachen, die viele andere
Autoren weggelassen hätten, weil sie unrühmlich sind. Sein Buch ist
klar gegliedert. Im ersten Teil schildert Parens, was während des
Holocaust mit seiner Welt passiert ist.
Reflexion
Den zweiten Teil füllen ernste Reflexionen über das Geschehene und
seine Folgen, die Parens 60 Jahre später zu Papier brachte. Im
dritten und letzten Teil berichtet der Verfasser über seine
wissenschaftlichen Studien, die ihn zu der Überzeugung gebracht
haben: »Wir können handeln, um maligne Vorurteile und Gewalt zu
verringern.«
Wie hat Parens den Holocaust erlebt? Im Sommer 1940 floh er mit
seiner Mutter von Brüssel (Belgien) nach Frankreich. Dort wurden
sie in ein Konzentrationslager gesteckt. Auf Anraten der Mutter
floh der Knabe aus dem Lager im Rivesaltes und gelangte in ein
jüdisches Jugendheim. 1942 brachte ihn ein Kindertransport nach New
York. In Amerika lebte er bei einer jüdischen Familie, die ihn
freundlich aufnahm. Seine geliebte Mutter hat er nie wiedergesehen;
wie Parens später erfuhr, hat man sie nach Auschwitz deportiert und
dort umgebracht. Ermordet wurden vermutlich auch sein Vater und der
ältere Bruder Emanuel, von denen im Buch ein Foto abgedruckt
ist.
Psychoanalytiker
Der Autor war knapp 14 Jahre alt, als er in die USA kam. Dort
gelang es ihm, eine Familie zu gründen, auf die er sehr stolz ist.
Als Professor für Psychiatrie und als Psychoanalytiker hat Parens
sich einen guten Namen gemacht. Doch das in der Kinderzeit Erlebte
hat ihn nie losgelassen. Parens berichtet am eigenen Beispiel über
Folgebelastungen dessen, was Juden in Europa damals widerfuhr.
Besonders aufschlussreich ist das Unterkapitel »Meine Probleme mit
Gott und der Liturgie«.
Tun und Lassen des Autors muss der Leser mit Respekt zur Kenntnis
nehmen. Doch es darf gesagt werden, dass seine Ausführungen zur
Gretchenfrage den Rezensenten nicht immer überzeugt haben. So sind
die Erklärungsversuche von Parens, warum seine Söhne (im Gegensatz
zu ihm) nicht Barmizwa feierten, nur schwer nachzuvollziehen.
An einer Stelle argumentiert Parens sehr rabiat: »Eine komplexere
Angelegenheit ist die Tatsache, dass ich eine Nichtjüdin geheiratet
habe. Ich sage das ohne jedes Bedauern. Und keiner soll mir
unterstellen, es sei meine Absicht gewesen, dem Andenken oder
Nacherleben des Holocaust auszuweichen. Oder das eigene Judentum zu
verwässern. Verflucht sei, wer das denken könnte.« Haben wir es
hier mit einer Selbstverfluchung zu tun? Ja, denn nicht irgendein
Leser hatte den Einfall einer »Verwässerung des Judentums«; diese
Wertung stammt vom fluchenden Verfasser!
Interpretation
Die jüdische Liturgie missfällt Parens deshalb, weil es im
Gebetbuch heißt, »Juden seien das auserwählte Volk, wobei
auserwählt im alltäglichen Sinn doch bedeutet, man sei etwas
Besseres«. Warum beharrt Parens auf einer falschen Interpretation
der Auserwählungslehre? Sein geliebter Sohn Joshua hat Parens doch
die richtige Interpretation beigebracht: Juden wurden auserwählt,
um das Gesetz zu hüten. Wer zahlreiche Gebote und Verbote der Tora
nicht haben will, weil sie nur für Juden gelten, der möchte im
Grunde das überlieferte Judentum abschaffen.
Auch folgende Feststellung des Autors verdient eine kritische
Randbemerkung: »Zweifellos würden mich Orthodoxe völlig
abschreiben.« In Wirklichkeit kann und wird niemand das Judesein
von Henri Parens bestreiten. Ihm steht wie jedem anderen Menschen
der Weg der Umkehr offen.
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