Rezension zu Rituale erneuern (PDF-E-Book)
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Rezension von Heiko P. Wacker
Rituale einst und heute – neue Publikationen des Heidelberger
Sonderforschungsbereichs Ritualdynamik
Zwei neue Publikationen des Heidelberger Sonderforschungsbereichs
619 ›Ritualdynamik‹ erschienen. Rituale in der Vergangenheit, in
der Gegenwart – und in den Grenzgebieten unserer Gesellschaft.
Interessante Einblicke in ein alltägliches Phänomen, das uns oft
nicht bewusst ist
Es gibt sie in der Bundesliga und in der Schule, in der Familie wie
in der Religion – obgleich man sie oft gar nicht wahrnimmt. Und
doch begleiten uns Rituale Tag für Tag – heute, in der
Vergangenheit und mit Sicherheit auch in der Zukunft. Denn ohne
öffentliche Rituale wäre das Zusammenleben in allen Kulturen und
Epochen schlicht undenkbar, auch wenn manche Handlungen wie die
Schultüte des ABC-Schützen – weit weniger martialisch daherkommen
als beispielsweise der öffentlich inszenierte Tod in einigen
nepalesischen Dorf- oder Ortsgemeinschaften, wo Verstorbene am
Flussufer verbrannt werden.
In Heidelberg befasst sich nun schon seit einigen Jahren ein von
der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Rektorat der
Ruprecht-Karls-Universität geforderter Sonderforschungsbereich mit
dem interessanten Themenkomplex.. Der ›SFB 619 – Ritualdynamik‹
umfasst inzwischen rund ein Dutzend kultur- und
sozialwissenschaftlicher Fächer aus verschiedenen Fakultäten, wobei
die Früchte der wissenschaftlichen Arbeit mit diversen
Publikationen in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Zwei
jüngst erschienene Titel seien hier kurz vorgestellt, um die
Bandbreite des Forschungsbereichs ein wenig zu verdeutlichen.
So gewährt ›Die Welt der Rituale‹ einen besonders guten Einblick in
die Hintergründe und Eigenarten unterschiedlichster ritueller
Handlungen von der Antike bis in die Gegenwart. Die zehn Autoren
des lesenswerten Bandes stammen aus verschiedenen Fächern der
Kultur- und Sozialwissenschaften, und geben folglich ein sehr breit
angelegtes Bild von dem, was Rituale in den verschiedenen
Gesellschaften zu leisten vermögen. Die oft illustren Beispiele
gehen dabei auch auf die Entstehung einzelner Rituale ein, sowie
auf die Veränderungen, die sich zwangsläufig ergeben.
Dass dem Leser hier zuweilen auch aus heutiger Sicht leicht makaber
erscheinende Traditionen begegnen, liegt auf der Hand – die
Opferziege in Delphi, die den Kopf nicht schütteln wollte um ihrer
eigenen Tötung zuzustimmen ist hier ein ebenso gutes Beispiel wie
das von Stefan Weinfurter vorgestellte mittelalterliche Ritual des
›Hundetragens‹, das der Führungsschicht des Reiches erstmals in
ottonischer Zeit verordnet wurde, um nach einer Verfehlung wieder
die Gunst des Herrschers zu erlangen.
»Der Hund wurde offenbar als Symbol der Treue verstanden, und mit
dem Hund nahm man die Treue wieder auf sich. (...) Damit war das
Hundetragen eine verhältnismäßig ehrenvolle Strafe«, schreibt
Stefan Weinfurter vom Historischen Seminar Heidelberg über die
eigenartig erscheinende Rechtstradition, die im Laufe der Zeit
jedoch immer negativer besetzt war, bis sich das einstige
Versöhnungs- in ein Strafritual zu wandeln begann, und damit sogar
»in die Nähe der Todesstrafe gerückt« werden konnte, »ohne daß sich
die äußeren Formen zu ändern brauchten.«
Dabei sind Rituale aber auch in den Grenzregionen menschlichen
Daseins zu finden, wie bei der Lektüre des Titels ›Rituale
erneuern. Ritualdynamik und Grenzerfahrung aus interdisziplinärer
Perspektive‹ deutlich wird, das sich den im Wandel befindlichen
sozialen Formen unserer Gesellschaft widmet. Immerhin wird in
privaten wie öffentlichen Bereichen und Einrichtungen mit
Kulturtransfer, der Neuerfindung oder Veränderung von Ritualen
experimentiert – was eine überraschende Dynamik demonstriert, die
so gar nichts mit dem starrzwanghaften zu tun hat, wie man es sonst
von Ritualen erwarten würde.
Der interdisziplinär angelegte Band bietet dabei nicht nur
theoretische oder empirische Zugänge zur aktuellen Debatte um
Dynamik und Wirksamkeit von Ritualen, sondern auch sehr lebendige
Einblicke in die Abgründe menschlichen Daseins, das sich vielleicht
im Drogentaumel verlieren kann, sich dessen ungeachtet aber immer
noch ganz eigenen Ritualen unterwirft. Sehr anschaulich geschildert
wird dies im Beitrag des Münchner Liedermachers Konstantin Wecker,
der nicht nur für seine zahllosen sozial- und
gesellschaftskritischen Texte bekannt ist, sondern Mitte der
neunziger Jahre auch mit seiner Drogenkarriere Aufsehen erregte.
Über diese nun berichtet er mit eingänglichen Worten, deren
reflektorische Tiefe den Leser mit hineinreißt in die Sorgen und
Ängste eines von Base oder Crack abhängigen Menschen. Wie sehr sich
dabei ein erschreckender Zweispalt hatte auftun können zwischen
seinen Liedern und seinem Leben – das scheint Wecker selbst am
meisten überrascht zu haben.
Das Buch ›Rituale erneuern‹ stellt folglich nicht nur einen
Austausch von Wissenschaftlern und Praktikern dar, sondern bietet
auch einen lebensnahen Diskurs, der sich vor allem gesundheits- und
gesellschaftspolitischen Themen widmet, sowie der Frage, ob sich
hier neue, flexiblere Ritualräume und Ritualstrukturen finden
lassen, oder ob mit der ›Demokratisierung‹ des Rituellen dessen
eigentlicher Kern zerfällt.
Beide hier vorgestellten Titel bieten dem Leser somit einen ebenso
profunden wie anspruchsvollen Zugang zu Geschichte wie Gegenwart
verschiedenster Rituale und das auch jenseits der
Durchschnittsgesellschaft. Denn das europäische Mittelalter, die
antiken Kulturen des Mittelmeerraums oder der indische Subkontinent
kommen dabei ebenso zur Sprache wie die gesellschaftlichen
Grenzbereiche der Gegenwart. Zudem stacheln beide Bücher die
Neugier an, und machen Lust, mehr erfahren zu wollen über ein noch
lange nicht abgearbeitetes Gebiet des Sonderforschungsbereichs 619
an der Universität Heidelberg.
Weitere Informationen zum Sonderforschungsbereich 619 sind abrufbar
unter:
www.ritualdynamik.uni-hd.de