Rezension zu Ethnopsychoanalyse revisited (PDF-E-Book)
Journal für Psychoanalyse, Ausgabe 58, 2017
Rezension von Vera Hirt
Ein schönes Buch, welches auf dem Umschlag mit der lebendigen
Bilderwand aus der Küche der drei Mitbegründer der
Ethnopsychoanalyse Paul Parin, Goldy Parin-Matthey und Fritz
Morgenthaler dazu einlädt, die Gegenübertragung in transkulturellen
und postkolonialen Kontexten in den Fokus zu nehmen. Die
interdisziplinäre Auswahl der Texte von hoher Intensität und Dichte
zu lesen, freute mich jeden Abend von Neuem. Denn da stehen
verschiedene Denkarten, Arbeits- und Lebenswelten sinnig
nebeneinander, die das Fremde zum Thema machen, ohne die eigene
Perspektive als unmittelbar darauf antwortendes Subjekt aus den
Augen zu verlieren. Die Gegenübertragung rückt ins Zentrum der
Betrachtung, wo es darum geht, eigene Irritationen in der Begegnung
mit dem fremden Anderen als solche wahrzunehmen, um stereotype
Abwehrreaktionen wie Exotisierung, damit innere Distanzierung,
Bewunderung, Entwertung oder phobischen Rückzug zu vermeiden.
Der Herausgeber Johannes Reichmayr spannt den Bogen von Afrika über
China, ins Gefängnis, zum Ultra-Fussballfan über das dritte soziale
Geschlecht der Muxes in Mexiko zur Diskussion über Kolonialismus
und Postkolonialismus sowie weiteren Begriffsklärungen im Umfeld
der Ethnologie, Volkskunde und Kulturanthropologie bis zu aktuellen
ethnopsychoanalytischen Fragestellungen im Bereich der Migration.
Dies alles geschieht in einem Sprachduktus des persönlichen
Engagements der Autorinnen, fast wie wenn die Gespräche mit Paul
Parin nie geendet hätten. Erst im letzten Teil des Buches wird
abrupt deutlich, dass die Geschichte des »Glückspilzes«, zu dessen
100. Geburtstag dieses Werk der Anlass ist, zu Ende gegangen ist.
Die Sprache wechselt da streckenweise in den Modus des
detaillierten bis akribischen Beleuchtens der Fakten im langen
Leben von Paul Parin und Goldy Parin-Matthey. Das Paar war für die
Entwicklung der Ethnopsychoanalyse prägend, was die umfassende,
zukunftsgerichtete Bibliografie widerspiegelt und zu weiteren
Auseinandersetzungen inspiriert.
Beispielsweise drängt sich aus aktuellem Anlass im Zusammenhang mit
der immensen Flüchtlingswelle die Debatte auf, wie der
Retraumatisierung im Asylverfahren, welches primär juristisch
geführt wird, vorgebeugt werden kann (Kronsteiner). Die Betrachtung
von Kultur ist immer von der Position und Macht des Betrachters und
dessen Perspektive abhängig (Nadig). Ohne diese zu hinterfragen und
zu reflektieren, verkommen Irritationen in der Begegnung mit
Asylsuchenden zu juristischen Auffälligkeiten, welche einerseits
den kulturellen Habitus wie auch die Virulenz des Traumatischen
nicht zu berücksichtigen vermögen. Je häufiger Irritationen in
einem solchen Verfahren auftreten, je weniger wird geglaubt. Das
Trauma setzt sich erneut in Szene, was Kronsteiner unter dem
Begriff der PsychoTraumaDynamik zusammenfasst.
An diesem Beispiel wird klar, wie wichtig Deutungswerkstätten
(Nadig), das Kitchen Seminar aus der Cultural Psychology oder auf
der Seite der dazugekommenen Fremden der »third space« als Orte der
Reflektion und des Verstehens sind. Entsprechend weisen einige
Autor_innen auf diese Instrumente für die Bearbeitung der
Gegenübertragung im Gruppenaustausch, ähnlich wie in der
Trauminterpretation nach Morgenthaler, hin. Der folgende Wandel in
der Fremdwahrnehmung verändert immer auch das Selbstbild. Die
Subjektivität zu zeigen, ist erwünscht.
Wir tun also gut daran, das Eigene auch immer wieder als fremd
einzustufen, um unvoreingenommen genau hinzuschauen. Die »eure de
la parole« basiert gerade auf dem Entdecken der Mehrdeutigkeiten,
welche gezwungenermassen im Ergründen und Erfühlen des Fremden
angelegt sind. Sprachliche Begrenzungen lassen sich durch das
Einbeziehen der anderen Muttersprache, aber auch der eigenen,
aufweichen. Das fordert uns Psychoanalytiker_innen heraus, eine
verstärkte Ambiguitätstoleranz zu entwickeln.
Jenes Zulassen von mehrdeutigem Sinn ist beispielsweise im
alltäglichen Leben in nordafrikanischen Ländern Teil der Kultur.
Becker plädiert für eine erneuerte Ethnopsychoanalyse, worin die
Psychoanalyse selbst als Kulturprodukt verstanden und hinterfragt
werden soll. Ein differenzierter Fragekatalog (ebd., S. 338 f.)
ergänzt die kritische Haltung gegenüberpostkolonialistischen
Sichtweisen, die in diesem Werk mehrfach zur Sprache kommen. Frantz
Fanon (1925–1961), unter anderem tätig als Chefarzt in der
Psychiatrischen Klinik nahe Algier, untersuchte insbesondere
nördlich der Sahara die Phänomene von Unterdrückung und Autonomie
bei den Widerstandskämpfern, worauf Bird-Pollan in einem
interessanten Diskurs mithilfe der Hegel/'schen
Herr-Knecht-Dialektik Bezug nimmt. In den Zeiten des
Neokolonialismus zeigen Analysen dieser Art eine vertiefte,
differenzierte Sicht auf wirtschaftlich bedingte Ungleichgewichte
gerade auf dem Kontinent Afrika, dem faszinierenden Ort für Paul
Parin.