Rezension zu Heilen nach dem Holocaust
Trauma & Gewalt – Forschung und Praxisfelder, 11. Jahrgang, Heft 4, 2017
Rezension von Barbara Stambolis
Der renommierte Psychoanalytiker und Kinderanalytiker Henri Parens,
1928 in Lodz geboren, gehört zu den jüdischen Überlebenden des
NS-Unrechtsstaats und seiner menschenverachtenden Politik. Diese
»child survivors« (»kindliche Überlebende«) der Shoah gehören heute
zu den »letzten Zeugen«. Die Neuauflage der Erinnerungen von Parens
ist – durchaus programmatisch, und anders als die Erstauflage – auf
der Titelseite mit dem Foto des vier- bis fünfjährigen Kindes Henri
Pruszinowski neben seiner Mutter Rosa versehen, mit der er wenige
Jahre nach seiner Geburt in Lodz im Dezember 1928, nach der
Trennung von Vater und Bruder, nach Belgien gelangt war (S. 26f.).
Sie habe ihm »guten Halt« gegeben, kommentiert Henri Parens dieses
Foto (S. 115).
Auf den letzten Seiten des ersten Teils seiner Erinnerungen unter
der Überschrift »Was mit meiner Welt passierte« blickt der Autor
auf einem weiteren Foto den Leser mit »Erwachsenenaugen« an. Zum
Zeitpunkt dieser Aufnahme, im April 1942, war Parens 13 Jahre alt.
In den Jahren 1940 bis 1942 war seine Kindheit zu Ende gegangen, er
hatte nach der Trennung von seiner Mutter, die – wie er erst später
erfuhr – nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden war,
unter unmenschlichen Bedingungen in französischen Lagern überlebt.
Er war, im festen Vertrauen darauf, dass seine Mutter es so gewollt
hatte, geflohen, hatte in einem Kinderheim Schutz gefunden, konnte
Europa verlassen und begann in den USA in der Obhut einer
Pflegefamilie ein ›neues Leben‹.
Die Schilderungen seiner sich über einen Zeitraum von mehreren
Jahren erstreckenden traumatischen Erfahrungen »werden von
Reflexionen des Psychiaters und Psychoanalytikers Parens gespiegelt
und kommentiert. Die Entscheidung, seine Erinnerungen »als Zeuge
und Betroffener eines Teils des Holocaust« (S. 49) aufzuschreiben,
sei 2002 gefallen, habe aber zunächst zu heftigen Hautausschlägen
geführt; er habe noch nie zuvor ein solches Exzem gehabt (S. 50).
Diese Reaktion beschreibt er als exemplarisch für Auswirkungen von
psychischem Stress, ebenso wie er sein persönliches Leid immer
wieder als zwar individuell, aber wenigstens teilweise auch
beispielhaft und verallgemeinerbar für eine ganze Erfahrungsgruppe,
die der kindlichen Überlebenden, versteht, zu deren Lebensgefühl
fortan eine untergründige Traurigkeit oder Melancholie, aber auch
ein starker Überlebenswille, Überlebenskräfte und -fähigkeiten
gehört hätten. Stärkend seien Gemeinschaftserfahrungen, Spiele,
Musik, Tanzen und nicht zuletzt Zeichen von Ermutigung und
Zuwendung empathischer Erwachsener, »schützende Arme«, eine
»fürsorgliche, sogar heilende Umgebung«, »gute emotionale Nahrung«,
ein »warmherziges und liebendes Umfeld« (S. 72, 75, 76)
gewesen.
Im zweiten Teil des Buches, »Reflexionen – 60 Jahre später«
überschrieben, verknüpft Henri Parens seine persönlichen seelischen
Verletzungen mit einer Fülle von allgemeineren Überlegungen zur
Bedeutung von Folgebelastungen für Betroffene. Er lässt eher en
passent einfließen, das erlittene Leid habe seinen beruflichen Weg
geprägt. Die Wirkungen von »extremem psychischem Schmerz« (u.a. S.
125, 127f.) bei Kindern könnten »zum Guten und zu großer
Kreativität« führen, aber auch »ein normales ›Gedeihen‹« unmöglich
werden lassen und bis zur »Selbstaufgabe« führen. Er habe für sich
entschieden, »zu helfen, Kindern die Wunden zu heilen, insbesondere
die durch intensiven emotionalen Schmerz verursachten Wunden« (S.
128).
Im dritten Teil seines Buches umkreist er, eigene Erfahrungen und
berufliche Expertisen verknüpfend, eine Botschaft. Er appelliert,
alle erdenklichen Anstrengungen darauf zu richten, dass sich die
Geschichte nicht wiederholen möge! Bindungen und dauerhafte
Beziehungen seien einer der Schlüssel zur Lösung des komplexen
Problems, dass Menschen aufgrund tiefer psychischer Verletzungen
und Verunsicherungen destruktive Energien, massiven Hass,
Brutalität und Vernichtungsobsessionen entwickelten. Diese
Überlegungen im Einzelnen auszuführen, kann nicht Teil dieser
kurzen Besprechung sein. Sie sei der intensiven Diskussion in
Fachkreisen vorbehalten, die über das notwendige Expertenwissen
bezüglich der von Parens erwähnten Psychowissenschaftler, unter
ihnen John Bowly, Rene Spitz oder Erik Erikson, verfügen.
Den hier rezensierten Erinnerungen ist darüber hinaus ein breiteres
Lesepublikum zu wünschen. Sie tragen dazu bei, die Geschichte(n)
der Erlebnis- und Erfahrungsgenerationen und unser Wissen um
traumatische Erfahrungen jüdischer Kinder und Jugendlicher auch im
21 Jahrhundert zu verstetigen. Unter ihnen befindet sich eine ganze
Reihe prominenter Wissenschaftler, Analytiker und Historiker, deren
frühe Erfahrungen zu beruflichen Lebensthemen geworden sind und die
sich sehr persönlich über den Zusammenhang zwischen existenziellen
Erfahrungen und Forschungsschwerpunkten geäußert haben, unten ihnen
die Historiker Peter Gay (1923 2015) und Saul Friedländer (geb.
1932). Parens/' Erinnerungen lassen sich also auf unterschiedliche
Weise lesen: als individuelles Zeugnis eines der ›letzten Zeugen‹,
in vergleichender Perspektive neben anderen Lebensrückblicken wie
denen Friedländers, auch im Zusammenhang mit Fragen nach
Zusammenhängen zwischen Leben und Werk, Lebensthemen und
wissenschaftlichen Lebensfragen, z.B. bei Psychoanalytikern und
Historikern.