Rezension zu Heilen nach dem Holocaust
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Rezension von Roland Kaufhold
Lange hat Henri Parens, renommierter amerikanischer
Psychoanalytiker und Überlebender der Shoah, damit gerungen, über
seine Erinnerungen an seine Verfolgung zu schreiben. Zu sehr
fürchtete der 1928 im polnischen Lodz geborene Jude, von den
zerstörerischen Erinnerungen überrollt, überwältigt zu werden.
»Sprich, Erinnerung, sprich!« lautete Vladimir Nabokoss Forderung –
sie könnte als Motto über Parens nun vorliegende Lebenserinnerungen
stehen …
Henri Parens – dessen nahezu gesamte Familie Opfer der deutschen
Verfolgung geworden ist – hat sein Leben der
pädagogisch-therapeutischen Behandlung schwer traumatisierter
Kinder und Erwachsener gewidmet. Dieses Engagement war für den
Psychoanalytiker eine Lebensaufgabe. Dies verbindet ihn mit den
Schriften und Wirken seiner befreundeten Kolleginnen Anna
Ornstein und Judith Kestenberg – auf die er im Buch vielfältig
Bezug nimmt – , wie auch mit Bruno Bettelheim, Hans Keilson,
Rudolf Ekstein und Ernst Federn.
Durch sein Engagement hat er in den USA unter psychiatrischen
Fachkollegen ein hohes Renommee erworben. Seine Forschungen führten
ihn zur Entwicklung von Programmen zur Prävention seelischer
Schädigungen. Weiterhin setzte er sich im Rahmen seiner
Möglichkeiten für eine bessere Beziehung zwischen Israelis und
Palästinensern ein, was im Buch dargestellt wird. Über seine
eigenen traumatischen Erfahrungen hat Henri Parens jedoch erst 60
Jahre später zu schreiben vermocht.
»Der Holocaust hat stattgefunden« – »Was du berichtest ist zu
monströs, um wahr zu sein«
»Der Holocaust hat stattgefunden« (S. 11). Mit diesen Worten
beginnt der amerikanische Psychoanalytiker sein Werk. Und
kontrastiert diese Feststellung gleich mit dem von Simon Wiesenthal
überlieferten Hohn eines SS-Mannes: »… auch wenn einer überleben
sollte, wird die Welt ihm keinen Glauben schenken. … Die Leute
werden sagen, was du berichtest ist zu monströs, um wahr zu sein«
(ebda.).
Jahrzehntelang rang Parens mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen.
Er musste sich im amerikanischen Exil, wohin er 14-jährig mit viel
Glück gelangt war, eine neue Identität, ein neues Leben (Paul
Parin) aufbauen, sich für einen Beruf qualifizieren, mit einer
Lebensgefährtin eine Ehe leben und drei Kinder großziehen – seine
Erinnerung hätte diese Lebensaufgabe gefährdet. Auch wollte er
seine Familie nicht mit seinen zerstörerischen Erlebnissen
belasten. Die (Überlebens)-Schuld spielte eine bedeutende Rolle in
seinem Leben wie auch in seinen theoretischen Schriften. Auch
hierüber schreibt Henri Parens in seinem 2004 in den USA erstmals
erschienenem Werk.
Seelisch betrachtet war die Shoah für viele Überlebende, auch für
Henri Parens selbst, ein kaum zu akzeptierendes Faktum. Nahezu
seine ganze Familie, auch seine Mutter, wurde ermordet – lange
erschien ihm dies als unwirklich. Konnte dies wirklich geschehen
sein? Hatte er dies alles wirklich erlebt? War seine Familie
wirklich von den Deutschen ermordet worden? Willkürlich, sinnlos,
bösartig?
So konstatiert der 74-jährige nüchtern, affektgemildert, als würde
er dies immer noch nicht ganz glauben können: »Meine Mutter wurde
in Auschwitz ermordet, auch meine Tante Esther. Ihr Sohn, mein
›kleiner‹ Cousin Joseph, überlebte Auschwitz, aber starb in
Buchenwald (ich hatte auch einen älteren Cousin Joseph, der für die
Briten kämpfte und überlebte). Über das genaue Schicksal der
anderen habe ich bis heute keine Kenntnis, außer über die
Brüsseler, die überlebten« (S. 14). Auch sein Vater gilt als
»verschollen«.
In dem einleitenden Kapitel »Der Einstieg« bemerkt Parens: »Ich
habe lange mit mir gerungen, ich wollte beides: öffentlich Zeugnis
ablegen und doch diese Öffentlichkeit vermeiden, dass der Holocaust
mir und meiner Familie widerfahren ist. Da es ihn aber gab, hat er
für mich ein Leben lang gedauert. (…) Seit Jahren höre ich, ›wir
müssen Zeugnis ablegen‹, und trotzdem konnte ich das bis jetzt
nicht angehen. Jetzt, da ich mit dem Schreiben beginne, bin ich 73
Jahre alt. Begonnen hat alles, als ich elf war« (S. 14).
Und: »Ich begann mit der Niederschrift meines Zeugenberichts am 14.
August 2002. Das Datum hat einen besonderen Stellenwert« (S. 13) –
es war der 60. Jahrestag der Deportation seiner Mutter nach
Auschwitz. Dieses Datum hatte er sich nie einzuprägen vermocht,
hatte es immer wieder vergessen.
»Hier stehe ich, ein Psychiater und Psychoanalytiker, immer noch
tief verletzt durch das, was vor so vielen Jahren geschah.«
Über sich selbst als ins Alter gekommenen Autor schreibt er
nüchtern: »Hier stehe ich, ein Psychiater und Psychoanalytiker,
Alter 73, immer noch tief verletzt durch das, was vielen von uns
vor so vielen Jahren geschah. Es wundert mich nicht, denn so
funktioniert es: In der Jugend wirst du traumatisiert, und es wirkt
ein Leben lang, bei manchen mehr, bei manchen weniger. Aber der
Holocaust ist immer gegenwärtig, lebenslang, egal, wie kurz oder
lang das Leben noch währt. (…) Hier stehe ich, hingebungsvoll damit
beschäftigt, meine Patienten zu verstehen, und folglich auch immer
damit, mich selbst zu verstehen« (S. 19f.).
Henri Parens´ Buch ist in der Art einer Selbstanalyse verfasst, die
er in persönlicher, erzählender, gelegentlich etwas langatmig
anmutender Weise vor dem Leser entfaltet. Sehr offen spricht er
über seine Ängste, seine innere Ambivalenz, seinen Wunsch zu
vergessen – und verbindet diese Spurensuche, diese
Selbstkonfrontation mit einer historischen Rekonstruktion seiner
eigenen Verfolgungsgeschichte. »Der Wunsch, zu verleugnen und
dadurch eine traumatische Last abzuschütteln, findet sich nicht nur
bei den Tätern, sondern auch bei den Opfern« (S. 116), hebt der
Autor hervor.
Henri Parens wird 1928 als Henri Pruszinowski in Lodz geboren –
seinen Namen sollte er 25-jährig, mit Erlangung der amerikanischen
Staatsbürgerschaft, in Henri Parens (lat.: Eltern) ändern. 1931
trennen sich seine Eltern, sein vier Jahre älterer Brüder Emanuel
bleibt beim Vater in Polen. Henri geht mit seiner Mutter nach
Brüssel, zu Hause wird bevorzugt jiddisch gesprochen. Am 10. Mai
1940 beginnt für den Zwölfjährigen und seine Mutter die Geschichte
ihrer Vertreibung, ihrer Flucht. Henri ist gemeinsam mit etwa 40
Kindern in einem Sommercamp, da wird ihnen überraschend ein
Weggehen nahe gelegt: »Wir waren beim Frühstücken, als uns gesagt
wurde, wir sollten uns beeilen, aufessen, wir müssten alle schnell
nach Brüssel zurück« (S. 25). Es folgt eine überhastete Flucht in
das scheinbar sichere Frankreich. Henri hat den Antisemitismus zwar
schon am eigenen Leibe erlebt, der Junge weiß jedoch noch nicht,
dass dieser der Anlass für ihre chaotische Flucht war. Im Sommer
1940 kommen sie in einem Ort namens Dorf unter, leben auf einem
Bauernhof. Für Henri eröffnet dies neue, lebenspraktische
Erfahrungen: So das gemeinsame Schlagen der Butter, das Herstellen
von Frischkäse. Henri ist beeindruckt von den vielfältigen
Fähigkeiten seiner Mutter, die er bewundert.
Die Familie ist sehr arm. Henri versucht sich aus bitterster Not
mit dem Entwenden von Obst. Ein spannendes, aber auch gefährliches
Unternehmen, beinahe wird er vom Bauern erwischt. Anfangs scheint
ihnen die französische Bevölkerung noch freundlich gesonnen zu
sein, bald erleben sie jedoch den Einfluss der Pétain-Regierung,
die eine Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten betreibt.
Wenige Monate später, im September 1940, geht die Flucht weiter:
»Irgendwann im September 1940 wurden wir darüber informiert, dass
die dort untergebrachten Fremden irgendwo anders hinverlegt werden
sollten« (S. 37). Henri und seine Mutter fliehen vor der deutschen
Wehrmacht weiter nach Toulouse. Dort werden sie in das zehn
Kilometer entfernt gelegene Internierungslager Rébédou verfrachtet.
Henri erinnert sich: »Ich weiß noch, wie ich den Eintritt in die
Hölle erlebte. In Toulouse war unser erstes Lager ein
Internierungslager. In der Baracke war alles grau (…) Wie immer
versuchte jetzt meine Mutter, mich vor dem Grau um uns zu schützen.
Sie war eine erstaunliche Frau, diese Frau, meine Mutter. Ich werde
nicht alles sagen, was ich ihr gegenüber empfinde.« (S. 40)
Henri findet in Frankreich neue Freunde, schließt sich den
»Israelitischen Pfadfindern« an. Sie sind dem Hunger und der
quälenden Kälte ausgesetzt, medizinische Versorgung gibt es kaum.
Nach drei Monaten, im November 1940, geht die Flucht weiter: Als
Juden müssen sie Rébédou verlassen, werden in das 15 Kilometer
nördlich von Perpignan gelegene Rivesaltes verfrachtet: Henri
Parens, er ist seinerzeit zwölf Jahre alt, schreibt über diese Zeit
in dem Kapitel »Rivesaltes – das Vichy-Frankreich vertieft seine
Schande« (S. 48–53). Die Kälte und der Hunger nehmen zu, sie werden
wegen der verheerenden hygienischen Zustände zunehmend von
Krankheiten bedroht: »Rivesaltes war in hygienischer Hinsicht ein
gefährlicher Ort; das war aber nur ein Teil seiner Brutalität« (S.
53). Inmitten der tiefsten Not, der existentiellen Gefährdung,
sucht der Junge innere Fluchtmöglichkeiten, entdeckt für sich das
gemeinsame Tanzen und Singen – Das Leben geht weiter (Hans
Keilson): »Wir waren Kinder, nur elf oder zwölf Jahre. Bis du die
Schwelle zum Tode erreichst, geht das Leben weiter.« (S. 57)
Der von den Deutschen und einigen französischen Helfern betriebene
Prozess der Aussonderung, der Bedrohung der Juden verschärft sich.
Im März 1941 werden sie in das jüdische Ghetto von Rivesaltes
verlegt, eine »weitere Umdrehung hinunter in die Tiefe der Hölle«
(S. 58). Dies brachte eine zusätzliche Verschlechterung der
Lebenssituation mit sich, das Gefühl der unmittelbaren
existentiellen Bedrohung nahm zu. Einige Erwachsene hören von
Gerüchten, dass eine systematische Ermordung aller Juden geplant
sei. Es ist ein verstörendes Wissen, welches sie doch zugleich vor
ihren eigenen Kindern verheimlichen mussten. Henri Parens erinnert
sich: »Ich hatte seit Monaten kein Buch mehr aufgeschlagen. In
Rébébédou hatten wir auch keine Bücher gehabt, aber wir haben
wenigstens etwas gelernt. Alles mündlich, ohne Bücher, aber wir
hatten immerhin Unterricht! Jetzt gab es keine Lektionen, außer
dass wir lernten, ohne ausreichendes Essen auszukommen… (…) Mein
Eindruck ist, dass ich das Nichtstun nur ertragen konnte, weil ich
meine Mutter hatte und sie mich, und ich hatte meine Fantasie. Es
kam mir nie in den Sinn, dass es für uns das Ende war. Aber es war
ja noch Anfang 1941.« (S. 59f.) Henri Parens hat nur noch
bruchstückhafte, zeitlich nicht geordnete Erinnerungen an diese
Lebensphase.
Fluchtpläne für ihren zwölfjährigen Sohn Henri in die USA
Seine Mutter hört von Gerüchten über die geplante Vernichtung der
Juden: Sie entwirft für ihren Sohn Henry den Plan, dass er alleine
– als Jugendlicher – , aus Rivesaltes fliehen soll. Sie hatte
erfahren, dass jüdische Kinder in die USA mittels
Helferorganisationen in Sicherheit gebracht werden konnten.
Durch die Bedrohung ist Henri zwangsweise »erwachsen« geworden: Sie
traut ihrem Sohn eine Flucht zu – verbunden mit dem fürchterlichen
Wissen, dass diese Flucht ihres Sohnes voraussichtlich eine
Trennung für Ewig bedeutet! Henri beschreibt seine Flucht, seinen
Abschied von seiner Mutter – sie sollte wenig später in Auschwitz
ermordet werden – in nüchterner, affektabspaltender Weise, für den
Leser als Abwehr eines tiefen Schmerzes fühlbar.
Zuerst soll Henri gemeinsam mit seinem gleichaltrigen Freund Savic
fliehen, später wird der Plan geändert: Am 1. Mai 1941 flieht der
knapp 13-jährige aus dem Lager, mit etwas Geld und dem Auftrag,
sich irgendwie nach Marseille in ein kleines, vom amerikanischen
Kinderhilfswerk OSE – Oevre de Secours aux Enfants – betriebenes
Kinderheim durchzuschlagen. Seine Flucht beschreibt Parens
lebendig. Es gelingt dem Jungen tatsächlich, ins jüdische
Kinderheim zu gelangen, ohne enttarnt zu werden. Er trifft auf
seiner Flucht auf Erwachsene, die ihn unterstützen, oder ihn
zumindest nicht verraten. »Ich kam an« (S. 71), so die nüchternen
abschließenden Worte seiner Fluchtgeschichte. Ein Jahr später
gelangt er in die USA.
Das neue Leben in den OSE-Heimen, inmitten von jüdischen Kindern
und fürsorgenden Mitarbeitern, wird lebendig beschrieben. Der
erfahrene emotionale und materielle Schutz gibt ihm die Kraft, die
erlebten Traumata, insbesondere seinen Abschied von seiner Mutter,
zu ertragen – und zugleich Kraft für die vorgesehene Übersiedelung
in die USA zu finden. Von Anfang Mai 1941 bis April 1942 lebte
Henri Parens in diesem Heim, inmitten von 25 jüdischen Kindern im
Alter zwischen 6 und 14 Jahren, hat erstmals wieder
Schulunterricht, wird materiell versorgt. Der Autor erinnert sich
dieser Zeit in lebendiger Weise: »Wenn ich im Rückblick die
Unterschiede zwischen den beiden Erfahrungen erfassen will: In
Rivesaltes wurde ich in ein matschiges, graues Elend gestürzt –
Hölle ist nur Feuer – , und im Heim, trotz der Trennung von meiner
Mutter, erlebte ich eine schützende, fürsorgliche, sogar heilende
Umgebung« (S. 75).
1942: Flucht in die USA
Die Übersiedlung in die USA, im Kapitel »Unterwegs nach Amerika«
(S. 88–103) erzählt, bildet für ihn ein seelisches Moratorium (H.
Keilson): Es war eine Trennung, aus der zugleich die Kraft für den
Neuanfang im Exil erwuchs. Erleichtert wurde ihm dieser Übergang –
wir mögen uns nur an Hans Keilsons aus seinen eigenen
Verfolgungserfahrungen erwachsenen Studien zu kumulativen Traumata
erinnern – durch eine Wiederbegegnung mit seinem Freund
Savic.
»Trotz Verunsicherung fühlte ich mich bereit, zu gehen – wohin
genau wusste ich nicht. Ich wusste nur: Amerika. (…) (Meine
Betreuer) verabschiedeten mich mit herzlichen guten Wünschen, und
ihre Hoffnung und Glückwünsche trugen mich auf meinem Weg. Mich
trug auch, dass es der Wunsch meiner Mutter war, dass ich nach
Amerika ginge. Unter uns Juden war es das Land der Hoffnung. Israel
sollte diese Stellung erst später einnehmen« (S. 86f.).
Überwältigend war für ihn war, dass seine Betreuer eine
Wiederbegegnung mit seiner Mutter zu ermöglichen vermochten. Sie
sollten sich noch einmal sehen, vor der endgültigen Trennung: »Das
Leben muss weitergehen, du musst weitermachen« (S. 91) sind die
letzten Worte, die seine Mutter an ihn richtet. Und: »An unseren
Abschied habe ich absolut keine Erinnerung. Ich könnte sie
wahrscheinlich nicht ertragen. Wahrscheinlich hat sich mein
Gedächtnis geweigert, sich dies einzuprägen« (S. 65). Danach bricht
Henri an Bord des Schiffes Le Maréchal Liautey nach New York auf.
Der Anblick der Freiheitsstatue, bei seiner Ankunft, überwältigte
ihn.
»Reflexionen – 60 Jahre später« – und eine Reise nach Israel…
Deutschland
Dies war das erste, die eigene Biografie erzählende Kapitel dieses
lesenswerten Buches. Es folgen Beschreibungen seiner ersten Jahre
in den USA. Danach, gleichfalls ergreifend, umfangreiche
»Reflexionen – 60 Jahre später« (S. 121–226): Henri Parens bemüht
sich, seinen eigenen angstvollen, von tiefen inneren Widerständen
begleiteten Erinnerungsversuch an seine Kindheit zu verstehen. Sehr
berührend das Kapitel »Meine Reise nach Israel« (S. 148–154) – eine
Reise, an der ihm emotional sehr viel lag, die er jedoch immer
wieder verschob. 1988, da war er 60, wurde er von Kollegen
nach Israel eingeladen, um dort, in Jerusalem, über seine
klinischen Erfahrungen zu sprechen. Kurz vor dem Abflug, 1989,
erkrankte er psychosomatisch aufgrund seiner eigenen
Traumatisierungen schwer:
»Wenige Tage, nachdem unsere Pläne feststanden und wir Flugtickets
gekauft hatten, entwickelte ich eine sehr unangenehme und
hartnäcige Überempfindlichkeit der Augen gegen Licht. Jeder direkte
Lichteinfall in die Augen war unerträglich, ich musste wegschauen.
Dieses Symptom war mir unbekannt. Mein Augenarzt rätselte, er
konnte keine Ursache erkennen.« (S. 149) Mit großem Bedauern musste
Parens seine Vortragsreise nach Israel absagen. »Ich war emotional
noch nicht bereit, nach Israel zu reisen. Bedrückend und peinlich,
wie es für mich war, entschuldigte ich mich bei den Gastgebern in
Jerusalem und Tel Aviv. Sie waren verständnisvoll und baten mich,
sie zu informieren, wenn ich das nächste Mal eine Israel-Reise
plante.« (S. 149)
Erst zehn Jahre später, 1999, flog er erstmals nach Israel, hielt
dort auch Vorträge. Ein Besuch in Yad Vashem überwältigte ihn: »Als
wir das Gelände von Yad Vashem betraten, zitterte ich am ganzen
Leib, wie wenn ich den Geistern meiner Vergangenheit begegnen
sollte. Innerlich war ich verängstigt, obwohl das nach außen nicht
unbedingt sichtbar war.« (ebd.) Die Suche nach den genauen
Todesumstände seiner Familie war mehr als quälend für ihn: »Ich
wusste, dass meine Mutter in Auschwitz gestorben war. Bis heute
weiß ich aber nicht, ob auch mein Vater und mein Bruder dort
endete.« (ebd.) Und er las immer wieder Primo Levi – die
Lektüre »haute mich um.« Das Verfassen seiner Erinnerungen warf ihn
seelisch immer wieder nieder. Seine Frau stand ihm bei. Er
vermochte es irgendwann, sein Buch doch noch abzuschließen. In
Israel arbeitete er vor allem mit Yolanda Gampel zusammen,
aber auch mit palästinensischen Kollegen vom Gaza Community Mental
Health Programms, etwa mit Abdel Hamid Afana. Er besuchte auch das
wegweisende Friedensdorf Neve Shalom/Wahat al Salam in Israel.
Beim quälenden Niederschreiben seiner Erinnerungen bemerkt er:
»2003, da ich darüber schreibe, bedrückt es mich, dass diese
positiven Ansätze fast völlig zum Erliegen gekommen sind. Ein wenig
Trost gibt es im Wissen, dass wir Juden eine Heimat haben, für alle
Juden. Und sollten alle anderen Länder ihre Tore für uns Juden
schließen – wie es sogar mein Amerika für die allermeisten der
Anfang der Vierzigerjahre vor der Vernichtung fliehenden Juden
getan hat – dann können wir noch dorthin.«
… und eine Reise nach Deutschland
Besuche in München, Berlin sowie Köln riefen in dem über
70-Jährigen tiefe Ängste und Schmerzen hervor. Henry Parens
fürchtete, von seinen eigenen Traumata überrollt zu werden, »auch
wenn das völlig unrealistisch und abwegig ist.« (S. 155). Bei einem
Besuch in Würzburg wurde er »dennoch« bei einem Unfall schwer
verletzt. »Und ich habe Nürnberg besucht, eine schöne Stadt. Ich
besuchte aber auch München, was mich belastet hat.«
(ebd.)
Gemildert wurden seine Ängste nur durch die Anteilnahme einiger
weniger deutscher Freunde und Kollegen, etwa Lotte Köhlers. Er
besuchte einige Orte seiner Verfolgungsgeschichte, teils gemeinsam
mit seiner Familie, teils alleine. Ein Besuch in Auschwitz war dem
Überlebenden jedoch nicht möglich. Parens hebt hervor: »… Deshalb
ergriff mich manchmal in München und in Köln die Furcht. Sie war
real für mich, auch wenn sie nur auf Vorstellungen beruhte. Es kann
ein unbewusstes Wissen um diese Verletzlichkeit gewesen sein, das
mir Angst machte, nach Deutschland zu gehen. Es kann auch so sein –
ganz komme ich noch nicht dahinter, manche meiner Fähigkeiten
verweigern die Mitarbeit in diesem Punkt -, dass eine Reise nach
Deutschland die erste Etappe auf dem Weg zur Vernichtung in Polen,
dem Land meiner Geburt, gewesen wäre. Nein, ich halte nichts von
der Vorstellung, dort zu sterben, wo ich geboren bin, wo meine
Mutter geboren wurde und starb. Das könnte möglicherweise auch
erklären, warum ich die Überreste von Auschwitz nie besuchen
konnte. Viele andere haben es getan, doch immerhin: Ich bin nach
Rivesaltes zurückgekehrt« (S. 162).
Abgeschlossen wird dieses ansprechende, persönliche Buch durch
umfangreiche psychoanalytisch orientierte klinische Überlegungen,
welche der Autor wiederum mit seinen eigenen kindlichen Erlebnissen
verknüpft.
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