Rezension zu Handbuch Psychoanalytische Entwicklungswissenschaft
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Rezension von Hermann Staats
Thema
Viele psychoanalytische Artikel und Bücher enthalten umfangreiche
Abschnitte oder Kapitel zu entwicklungspsychologischen Theorien und
Forschungsergebnissen. Eine Integration dieses in vieler Hinsicht
uneinheitlichen Wissens ist eine Herausforderung. Das vorgestellte
Buch mit dem programmatischen Titel »Handbuch Psychoanalytische
Entwicklungswissenschaft« greift über eine Darstellung der
unterschiedlichen psychoanalytischen Entwicklungstheorien hinaus.
»Entwicklung« in der Psychoanalyse wird hier wiederholt mit jeweils
unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen erarbeitet – klassische
Theorien werden aufgeführt, die mit ihnen verbunden Grundkonzepte
dargestellt, Entwicklung über die Lebensspanne diskutiert und
Beispiele praktischer psychoanalytischer Arbeit mit Menschen
verschiedenen Alters aufgeführt. Bei der Vielfalt
psychoanalytischer Forschungsansätze ist ein wiederholtes
Bearbeiten eines Themas mit jeweils unterschiedlicher Perspektive
ein interessanter Ansatz. Die Fülle des vorhandenen Wissens kann so
in einem Buch gesammelt werden. »Entwicklungswissenschaft« wird von
den Herausgebern umfassend als eine »Meta-Disziplin« verstanden,
als Integration der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen,
die sich mit der menschlichen Entwicklung befassen.
Herausgeber
Die Herausgeber, Professoren an der Medical School Berlin bzw.
jetzt der Katholischen Hochschule Freiburg und der Universität
Innsbruck, haben für die Beiträge dieses Buches 20 für ihren
Bereich ausgewiesene Autorinnen und Autoren gewonnen. Schwerpunkte
liegen im deutschsprachigen Bereich, in der Pädagogik und in der
klinischen psychoanalytischen Arbeit.
Aufbau
Vier Hauptabschnitte und eine differenzierte thematische Einteilung
(das Inhaltsverzeichnis umfasst 7 Seiten) gliedern das Buch. Nach
einer
• Einführung mit einem Überblick über klassische
entwicklungspsychologische Konzepte, die innerhalb der
Psychoanalyse zum Verstehen normaler und pathologischer
Entwicklungen genutzt werden, findet sich eine
• ausführliche Darstellung der in diesen Konzepten verwendeten
Grundlagen unbewusster, sozialer und emotionaler Prozesse – von »A«
wie Abwehr und Affekt bis zu Triangulierung, dem Unbewussten und
der Verarbeitung unterschiedlicher Grundkonflikte. Es folgen
• chronologische Darstellungen der Entwicklung über die
Lebensspanne – einmal aus theoretischer Sicht,
• dann bezogen auf die praktischen Anwendungen des Arbeitens mit
Menschen in den verschiedenen Altersstufen und
Entwicklungsphasen.
Literatur wird im Anschluss an die jeweiligen Beiträge aufgeführt.
Die Herausgeber verbinden die einzelnen Beiträge durch einführende
Kapitel. Angaben zu den Autorinnen und Autoren finden sich am Ende
des Bandes. Ein Schlagwortverzeichnis und ein Personenindex
fehlen.
Ausgewählte Inhalte
Die Herausgeber schreiben, das Buch könne sowohl »von Anfang bis
zum Ende durchgelesen werden, um sich einen Gesamtüberblick über
das weite Feld der Psychoanalytischen Entwicklungswissenschaften zu
verschaffen, als auch als Nachschlagewerk genutzt werden ..«
(S. 17). Eine inhaltliche Zusammenfassung der 24 Kapitel mit mehr
als 500 Seiten kann im Rahmen dieser Rezension nicht geleistet
werden. Möglich ist nur ein »Überblick des Überblicks« und ein
selektiv etwas ausführlicheres Eingehen auf einzelne Kapitel und
Aspekte des Buches.
In Teil I, »Psychoanalytische Entwicklungswissenschaft –
Einführung, Geschichte und Überblick« (ca. 80 Seiten ) werden
»entwicklungswissenschaftliche Nachbardisziplinen, wie zum Beispiel
Entwicklungspsychopathologie, Entwicklungspsychologie,
Sozialisationsforschung oder Entwicklungsneurobiologie vorgestellt
und ihre Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zur Psychoanalyse
behandelt« (S. 23).
Das Kapitel I.2., »Psychoanalytische Entwicklungswissenschaft –
Geschichte, Paradigmen, Grundprinzipien« ist hier beispielhaft mit
der alle Kapitel des Buches durchziehenden detaillierten Gliederung
dargestellt:
I.2.1 Entwicklung – Von der Idee zur Wissenschaft
I.2.2 Paradigmen der Entwicklungswissenschaft
I.2.2.1 Behaviorale Lernforschung
I.2.2.2 Kognitive Entwicklungspsychologie
I.2.2.3 Entwicklungsneurobiologie
I.2.2.4 Humangenetik und Epigenetik
I.2.2.5 Sozialisationsforschung
I.2.2.6 Entwicklungspsychopathologie
I.2.3 Psychoanalytische Entwicklungswissenschaft – Ein historischer
Überblick anhand von sieben Paradigmen der Psychoanalyse
I.2.3.1 Triebtheorie
I.2.3.2 Ich-Psychologie
I.2.3.3 Objektbeziehungstheorie
I.2.3.4 Selbstpsychologie
I.2.3.5 Strukturale Psychoanalyse
I.2.3.6 Bindungstheorie
I.2.3.7 Intersubjektive Psychoanalyse
I.2.4 Psychoanalytische Entwicklungswissenschaft heute – Ein
Resümee in 15 Punkten
Der zweite Teil, »Grundkonzepte der Psychoanalytischen
Entwicklungswissenschaft« (ca. 150 Seiten), behandelt die
wichtigsten Konzepte und Theorien der Psychoanalyse, Teil III,
»Psychoanalytische Theorie der Lebensspanne« (ca. 160 Seiten),
greift Entwicklung als einen lebenslangen Prozess auf und
beschreibt diesen Prozess in klassischer Form in einer Einteilung
in verschiedene, eher weit gefasste Phasen. Der vierte und letzte
Teil des Buches, »Psychoanalytische Praxis über die Lebensspanne«
(ca. 130 Seiten), geht auf Anpassungen psychoanalytischen Arbeitens
an die Arbeit mit Menschen auf unterschiedlichen Altersstufen ein.
Psychoanalytisch inspiriertes Arbeiten wird hier in vielen Facetten
und Projekten außerhalb des klassischen klinischen Settings
beschrieben. Fallbeispiele lassen diese Arbeit plastisch deutlich
werden.
Das von Gerald Poscheschnik geschrieben Kapitel I.2
»Psychoanalytische Entwicklungswissenschaft – Geschichte,
Paradigmen, Grundprinzipien« wird in dieser Rezension beispielhaft
etwas näher betrachtet. Es führt die in der Psychoanalyse
vorliegenden entwicklungspsychologischen Theorien ein und ordnet
sie. Einer Darstellung der zugrundeliegenden Befunde aus
benachbarten Grundlagenwissenschaften (wie Lernforschung,
Neurobiologie und Epigenetik) folgt die Schilderung von sieben
zusammenzufassenden »Paradigmen«, die als »Psychologien der
Psychoanalyse« benannt werden könnten (Triebtheorie,
Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie, Selbstpsychologie,
Strukturale Psychoanalyse, Bindungstheorie und Intersubjektive
Psychoanalyse). Kurze, im Text hervorgehobene Zusammenfassungen zu
diesen Modellen mit ihren zentralen Thesen und wichtigsten
Vertretern helfen, sich zu orientieren. »Kritische Würdigungen« des
Autors bieten eine, auch persönliche, Einordnung der verschiedenen
Theorien und Befunde.
In der Darstellung sind klassische und aktuelle Ansätze vertreten.
Die gesichtete Literatur ist umfangreich und in einem
Literaturverzeichnis von 11 Seiten (allein für dieses Kapitel)
zusammengefasst.
Im weiteren Verlauf des Buches werden die vorgestellten Theorien
wiederholt aufgegriffen, Die Beiträge unterschiedlicher Autorinnen
lassen dabei auch gegensätzliche Auffassungen deutlich werden –
etwa in der Darstellung des Konzepts des »Emerging Adulthood«
(S. 339, 349 und an anderen Orten). Aktuelle Positionen (z.B. bei
Taubner) finden sich neben klassischen Auffassungen (z.B. bei
Streeck-Fischer).
Diskussion
Die einzelnen Beiträge des Buches sind in Stil und Positionierung
der Autoren unterschiedlich. Es findet sich eine große Spannbreite
zwischen eher spekulativen Ansätzen – zu denen, so schreiben die
Herausgeber, möglicherweise »in einigen Jahren …bereits …spannende
Erkenntnisse zu erwarten seien« – und einer Psychoanalyse, die sich
»an der evidenzbasierten Medizin orientiert«. Die Herausgeber
möchten »beide Pole … würdigen und betonen, dass die Psychoanalyse
nur unter Aufrechterhaltung dieser Spannbreite, in der
Interdependenz von Kreativität und Evidenz, ihre zukunftsweisende
Wirkung entfalten kann« (S. 24). Beide »Pole« stehen auch für
unterschiedliche Wissenschaftstraditionen, die zur
psychoanalytischen Entwicklungspsychologie gehören – dem Blick auf
das aus den Erzählungen Erwachsener »rekonstruierte« Kind, über das
dem Erleben des Erwachsenen in der klinischen Arbeit Sinn gegeben
wird, und dem Blick auf das beobachtete und empirisch untersuchte
Kind. Es ist eine Herausforderung – in der Praxis wie beim
Schreiben eines entwicklungswissenschaftlichen Buches – immer
wieder beide Perspektiven einzunehmen. Wo kann eine Integration
gelingen, wo muss auf Widersprüche zwischen den Befunden der
unterschiedlichen Vorgehensweisen hingewiesen werden? Es gelingt
den Autorinnen und Autoren an manchen Stellen des Buches, diese
Aufgabe zu leisten und auf Unklarheiten der Theorien und Aufgaben
für weitere Forschungen hinzuweisen. Darüber hinaus finden
Leserinnen und Leser eine Auswahl von Anwendungen
psychoanalytischer Entwicklungswissenschaften in der Praxis. Die
einzelnen Beiträge setzen unterschiedliche Schwerpunkte – insgesamt
etwas stärker im pädagogischen als im klinischen Bereich und
deutlicher auf der Darstellung von Theorien als auf der Rezeption
empirischer Forschung.
Das Buch bietet die Möglichkeit, sich zu unterschiedlichen Themen
der Entwicklungswissenschaft rasch zu orientieren. Es greift dabei
nicht die enzyklopädische Tradition des »Lehrbuchs der
psychoanalytischen Entwicklungspsychologie« von Tyson und Tyson
auf, die aufgrund der nicht mehr zu bewältigenden Fülle der
Veröffentlichungen in den 90ger Jahren abbricht. Auch inhaltlich
setzen die Autoren je eigene Akzente. Die differenzierte Gliederung
hilft dabei, das Fehlen eines Indexverzeichnisses zu
kompensieren.
Liest man das Buch »von vorne bis hinten«, erschließt sich nach und
nach ein zunächst wenig übersichtliches Gebiet, indem man es
wiederholt und mit unterschiedlichen Perspektiven durchwandert.
Weiterentwicklungen klassischer Theorien und Bezüge zu deren
Veränderung in einer sich verändernden Gesellschaft werden wenig
diskutiert (Ansätze dazu z.B. bei Müller Pozzi, 1991). Zentrale
Konzepte (etwa Triangulierung oder die Konzepte Daniel Sterns) sind
aufgrund des Aufbaus des Bandes an vielen Stellen des Buches
beschrieben. Diese Wiederholungen sind oft hilfreich, sie vertiefen
oder zeigen einen neuen Zusammenhang. Leserinnen und Leser könnten
aber auch Verweise innerhalb des Buches und einen stärkeren Bezug
der Beiträge untereinander vermissen.
Fazit
Poscheschnik und Traxl haben ein Buch vorgelegt, in dem sie das
Feld psychoanalytischer Entwicklungspsychologien und ihrer
Grundlagen mit dem Ziel der Integration zu einer
»Entwicklungswissenschaft« darstellen. Dies ist aufgrund der Menge
der Veröffentlichungen, der vielfältigen Theorien und ihren
unterschiedlichen Anwendungen in der Praxis eine große
Herausforderung – fast eine unmögliche Aufgabe. Das Buch löst viele
der mit dieser Aufgabe verbundenen Schwierigkeiten durch eine
Darstellung des Gebietes in vier Abschnitten mit jeweils
unterschiedlichen Perspektiven. So wird eine Orientierung zu den
vielfältigen Fragestellungen der Entwicklungswissenschaften in der
Psychoanalyse erleichtert. Für die praktische Nutzung als
Nachschlagewerk und Informationsquelle fehlt dem Rezensenten dann
aber ein Schlagwortverzeichnis, mit dem Konzepte und Begriffe, die
aufgrund der Struktur des Buches über viele Kapitel verteilt sind,
gezielt gesucht und gefunden werden können. So ist die Fundgrube
spannenden Materials nicht so leicht zu erschließen.
Entstanden ist ein Handbuch und Nachschlagewerk für an der
Psychoanalyse interessierte Leserinnen und Leser, die Theorien zur
menschlichen Entwicklung fundiert und übersichtlich kennen lernen
möchten. Es ist vor allem Interessenten aus der Pädagogik und der
sozialen Arbeit sehr zu empfehlen. Psychotherapeutinnen und
Psychotherapeuten werden es als Nachschlagewerk und zur Einordnung
klinischer Theorien nutzen – es gibt derzeit kein aktuelles ähnlich
umfassendes und differenziertes Werk.
Zitierte Literatur:
Müller-Pozzi, H. (1991): Eine Triebtheorie für unsere Zeit.
Sexualität und Konflikt in der Psychoanalyse, Huber, Bern.
Tyson, P., Tyson, R. (1990, dt. 3. Aufl. 2009): Lehrbuch der
psychoanalytischen Entwicklungspsychologie. Kohlhammer,
Stuttgart.
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