Rezension zu Was wirkt in der Psychotherapie? (PDF-E-Book)
Journal für Psychoanalyse, Ausgabe 58, 2017
Rezension von Marie-Luise Hermann
Der in der Reihe »Forschung Psychosozial« herausgegebene schlanke
Band dokumentiert die »Praxisstudie ambulante Psychotherapie
Schweiz« (PAP-S), ein Forschungsprojekt der Schweizer Charta für
Psychotherapie in Kooperation mit dem Klinikum der Universität zu
Köln und dem Departement Angewandte Psychologie der Zürcher
Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW. Die Charta als
Verband verschiedener Psychotherapieausbildungsinstitute und
Fachverbände hat sich 2002 in einer Deklaration dazu verpflichtet,
wissenschaftliche Wirksamkeitsnachweise ihrer
Psychotherapiemethoden zu erbringen. In Zusammenarbeit mit Volker
Tschuschke (Köln) wurde dafür ein »naturalistisches
Prozess-Outcome-Studiendesign« entwickelt, das an der ZHAW (Leitung
Hugo Grünwald, später Agnes von Wyl) durchgeführt wurde.
Das Besondere an dieser umfassenden Studie liegt in einem Design,
das die vielfältige ambulante psychotherapeutische Praxis in der
Schweiz möglichst nah abzubilden versucht und in einer Kombination
von Untersuchungsmethoden (»multi-method«: Fragebögen, Audiodateien
aller Therapiestunden) und Informanten (»multi-informant«:
Patient/innen, Therapeut/innen) sowohl den Therapieprozess als auch
die Ergebnisqualität (»Outcome«: Drei Messzeitpunkte Prä, Post und
Ein-Jahres-Katamnese) verfolgt. Zudem sollte das Design zehn
verschiedene Therapieverfahren auf die zentrale Frage hin erfassen:
»Was wirkt in der Psychotherapie?«
›Dass‹ Psychotherapie wirkt, ist unter wirtschaftlichem
gesundheitspolitischem Druck in Tausenden von internationalen
Studien belegt worden. Dafür wurden aus der evidenzbasierten
medizinischen Forschung übernommene RCT- Studien (randomized
controlled trials) zum »Gold-Standard« von Studiendesigns erklärt.
Zahllose »horse-race«-Vergleiche grosser Therapieschulen, meist
kognitive Verhaltenstherapie vs. psychodynamische Kurz- vs.
Langzeittherapie, zeigten eine vergleichbare Wirksamkeit für alle
Störungsbilder (aktuelle Übersicht in Rabung & Leichsenring, 2016).
Diese unter Laborbedingungen entstandenen Resultate zur
»Wirksamkeit« (»efficacy studies«) haben jedoch wenig mit der
naturalistischen Praxis der Psychotherapie und ihrer »Effektivität«
zu tun (»effectiveness studies«), wie dies die PAP-S-Studie
angestrebt hat, um für weitere Psychotherapie-Schulen der Charta
ihre Wirksamkeit nachzuweisen.
In zwölf Kapiteln stellen die Autor/innen den gesamten Prozess der
von 2006 bis 2012 dauernden Datenerhebung bis zum Abschluss der
Auswertungen 2015 mit Ergebnissen dar. Nach der Vorgeschichte der
Studie (Kap. 1) wird die Kooperation zwischen Charta und den beiden
Hochschulen sowie die Wahl des naturalistischen
Prozess-Ergebnis-Designs mit detaillierter Kritik an den
RCT-Studien begründet (Kap. 2). Das in Kapitel 3 erläuterte
Studiendesign soll hier kurz vorgestellt werden: Von 86
Therapeut/innen aus neun verschiedenen Charta-Instituten
(humanistische, tiefenpsychologische sowie körper- und
kunstorientierte Psychotherapien) sowie einzelnen
psychoanalytischen Psychotherapeut/innen nahmen 362 Patient/innen
zwischen 17 und 72 Jahren an der Studie teil. An drei
Untersuchungszeitpunkten erhoben geschulte Psychotherapeut/innen u.
a. Symptom-Fragebögen, das psychiatrische SKID-I und II-Interview
sowie die Konflikt- und Struktur-Achse der OPD- Diagnostik. Zur
Prozessmessung schätzten nach jeder fünften Sitzung Patient/ innen
und Therapeut/innen die Qualität der Arbeitsbeziehung ein, die
Therapeut/innen auch ihre angewendeten Interventionen. Anhand der
Audiodateien wurde die Konzepttreue des Therapieverfahrens
beurteilt.
In den weiteren Kapiteln werden diese Instrumente und Ergebnisse
anhand von Tabellen, Grafiken oder Beispielen anschaulich erläutert
und kritisch diskutiert: So wird das Engagement im jahrelangen
Schulungsprozess für das OPD-Rating aufgezeigt (Kap. 4) und die
zeitaufwendige Einschätzung von Interventionstechniken mithilfe
eines eigens für die Studie entwickelten Rating-Manuals (Kap. 5).
Kapitel 6 informiert prägnant über den aktuellen Stand zu
Wirkfaktoren in der Psychotherapieforschung, die zu den zentralen
Befunden der Studie führen (Kap. 7): Die Kategorisierung der
therapeutischen Interventionen zeigt, dass lediglich zwischen 5–28%
auf spezifische Wirkfaktoren fallen (d. h. Konzepttreue zur
jeweiligen Therapieschule), während nichtspezifische Interventionen
50–73% ausmachen und 18–27% fremdschulische Interventionen
angewendet wurden. Das in der Forschung häufig beschriebene
Äquivalenzparadoxon, das trotz verschiedenster Behandlungskonzepte
verschiedene Verfahren ähnlich wirksam sind, wird auch hier
bestätigt und dahingehend interpretiert, dass erfahrene
Psychotherapeut/ innen ihr Behandlungsrepertoire im Lauf der Zeit
über das erlernte Grundverfahren hinaus erweitern und es auf ihre
Patient/innen anpassen. Die Frage »Was wirkt in der
Psychotherapie?« kann daher nur mit dem Verweis auf sehr viele
Variablen (v.a. auf Seiten der Patient/innen, ihrer Störungen und
Belastungen) in einem »hochkomplexen zwischenmenschlichen Prozess«
beantwortet werden (S. 83).
Die Qualität der therapeutischen Beziehung (Kap. 8) als zentralem
unspezifischem Wirkfaktor erwies sich bereits in den ersten fünf
Sitzungen als signifikanter Prädiktor des Behandlungserfolgs,
belastete Arbeitsbeziehungen waren vor allem auf chronische und
strukturelle Störungen und nicht die Symptombelastung
zurückzuführen. Im Nachweis der Wirksamkeit über Outcome-
Ergebnisse (Reduktion der Symptombelastung und strukturelle
Veränderungen) wurden vergleichbare Effektstärken wie in
evidenzbasierten Studien der kognitiven Verhaltenstherapie erreicht
(Kap. 9). Weitere Kapitel präsentieren Ergebnisse zu
therapeutischen Techniken sowie Unterschiede zwischen
Therapeut/innen sowie Geschlechts- und Gender-Aspekte.
Angesichts des herausfordernd komplexen Studiendesigns und einer
enormen Datenfülle ist es den Autor/innen hervorragend gelungen,
eine gut lesbare, überblicksartige Zusammenfassung des gesamten
Projektes, der Forschungsinstrumente sowie der Einzelbefunde zu
gestalten. Wer sich noch nicht mit Psychotherapieforschung befasst
hat oder in Ausbildung ist, wird in wichtige Forschungsdiskussionen
auf verständliche Weise eingeführt. Aber auch bereits informierte
Leser/innen finden interessante Ergebnisse und Hinweise auf
mögliche künftige Fragestellungen für die Praxisforschung. Wer noch
mehr wissen möchte, kann die detaillierteren Publikationen der
Autor/innen und zahlreiche Literaturhinweise verfolgen. Der
wichtige Hinweis, warum gerade diese zehn Therapieschulen
einbezogen wurden und weitere Ausbildungsinstitute (wie KVT,
systemische, personzentrierte) auf Einladung nicht reagiert hätten
(S. 20), könnte hingegen am Ende des Vorworts auch übersehen
werden.
Die wissenschaftliche Einordnung des gesamten Projekts wird
nachvollziehbar dargestellt, die Wahl der einzelnen
Forschungsmethoden oder Fragebögen jedoch nicht durchgängig
begründet. Auf den in Aussicht gestellten »reichhaltigen Fundus an
Daten«, der »noch auf Jahre hinaus Auswertungen, Dissertationen und
Veröffentlichungen« ermöglichen solle (S. 28), darf man gespannt
bleiben. Zur näheren Untersuchung, was wirkt, wäre dafür auch die
Ergänzung um zeitintensive qualitative Einzelfallstudien (vgl.
Mathys, Arboleda et al., 2013) sinnvoll und wünschenswert.
Literatur
Mathys, H., Arboleda, L., Boucsein, V., Frei, M., Hermann, M.-L.,
Luder, M., Neukom, M. & Boothe, B. (2013). Alexandra – eine
multiperspektivische, qualitative Einzelfallstudie zu Anliegen von
PatientInnen im psychodynamischen Erst- interview [75 Absätze].
Forum Qualitative Sozialforschung 14 (2), Art. 20,
http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1302207 [04.03.17].
Rabung, S. & Leichsenring, F. (2016). Evidenz für psychodynamische
Langzeit- therapie. Überblick über vorliegende Reviews.
Psychotherapeut 61, 441–446.
www.psychoanalyse-journal.ch