Rezension zu Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung (PDF-E-Book)
GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, Heft 3, 2017
Rezension von Hippmann Cornelia
»Selbstbestimmung geht über die Überwindung bzw. Abwesenheit von
äußerem Zwang hinaus. Sie erfordert positives Bewusstsein über
Möglichkeiten eigenen Handelns mit einem Spektrum von Anpassung bis
Ausbruch« (Rückseite des Buches). Dieser Argumentation folgend,
wird im Sammelband »Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive
Selbstbestimmung« der Terminus der ›Selbstbestimmung‹ aus
interdisziplinärer Perspektive betrachtet und unter besonderer
Berücksichtigung praxisorientierter Zugänge zur Diskussion
gestellt. Der fünfte Band aus der Reihe der angewandten
Sexualwissenschaft beschäftigt sich detailliert mit dem Phänomen
der Selbstbestimmung sowohl aus akademischer als auch aus
aktivistischer Perspektive. Die beiden Herausgeber*innen Michaela
Katzer und Heinz-Jürgen Voß liefern einen neuartigen Blick auf
dieses bisher nur marginal und eindimensional betrachtete
Untersuchungsfeld. Kernaussage der Verfasser*innen ist, dass in der
Abweichung, in der Veränderung und in den Deutungsmustern
körperlicher Geschlechtsmerkmale die wesentlichen Merkmale der
geschlechtlichen Selbstbestimmung auszumachen sind.
Indem sie der These einer Pluralisierung von Sexualität folgten,
gingen die bisherigen Analysen davon aus, dass sich Menschen
zunehmend geschlechtlich und sexuell entfalten können. Die
Einzelbeiträge dieses Sammelbands gehen aber einen Schritt weiter,
wenn sie die geschlechtliche Selbstbestimmung aus einer
dreiteiligen Perspektivenverschränkung betrachten. Diese
Erweiterung der Perspektive sei, so die Herausgeber*innen Katzer
und Voß, notwendig, um analytisch genau die differenten Facetten
von Selbstbestimmung in den Fokus rücken zu können. Auf diese Weise
hinterfragen die Autor*innen kritisch die tradierten Vorstellungen
von Sexualität, in denen bspw. die Reproduktion/Fortpflanzung hoch
gewichtet betrachtet werde. Mit ihrer Strategie könnten nicht nur
das Themenfeld der Reproduktion, sondern auch aktuelle
Entwicklungen einbezogen werden, da die damit verbundenen
Vorstellungen von Selbstbestimmung sonst oft unberücksichtigt
blieben. Darüber hinaus erweist sich die Perspektivenerweiterung,
wie sie im Sammelband vorgenommen wird, deshalb als sinnvoll und
nachvollziehbar, weil sich bei der Betrachtung der sexuellen
Selbstbestimmung bzgl. des sexuellen Begehrens und der
Möglichkeiten, dieses auszuleben, auf bisher selten erforschte
Bereiche, wie bspw. den der Asexualtität, konzentriert wird und
diese erstmalig in den Untersuchungsfokus gerückt werden.
Der Sammelband ist in drei Themenkomplexe untergliedert. Im ersten
Teil des Buches wird sich mit dem Phänomen der Selbstbestimmung
auseinandergesetzt. Er ist unter dem Kapitel »Geschlechtliche
Selbstbestimmung« zusammengefasst und beinhaltet sieben
Einzelbeiträge. Den Anfang macht ein Artikel von Anne Allex und
Diana Demiel, der sich im Anschluss an die Initiative »Stop
Trans*Pathologisierung« dem Streit von Trans*Aktivist*innen um
Selbstbestimmung widmet. Dabei greifen die Autorinnen auf ihre
langjährigen Berufserfahrungen zurück. Bei Michaela Katzer stehen
Fragen zu Transsexualität, insbesondere zu Intergeschlechtlichkeit,
sowie Aspekte im Spannungsverhältnis von Selbstbestimmungsstreben
und Pathologisierungen im Fokus. Heike Bödeker und Markus Bauer
sowie Daniele Truffer setzen sich in ihren Beiträgen detailliert
mit der Selbstbestimmung intergeschlechtlicher Individuen
auseinander. Damit greifen sie die theoretischen Diskurse zu den
aktivistischen Streitigkeiten über Selbstbestimmung auf. Manuela
Hechler knüpft mit ihren praxisorientierten Vorschlägen an die
Diskurse um Charakteristika für Intergeschlechtlichkeit und damit
zusammenhängende Aspekte an. Die Autorin verweist dabei auch auf
bereits existierende Beratungsangebote durch Intersexuelle
Individuen e. V. und die Beratungsstelle in Emden, die sich auf
»Inter« spezialisiert haben.
Im Mittelpunkt des zweiten Teils des Sammelbandes stehen unter dem
Titel »Sexuelle Bestimmung« die Themen Asexualtität sowie
Sexualität und Gefängnis. In zwei Einzelbeiträgen wird sich
zunächst mit der von der Forschungslandschaft bislang
marginalisiert beleuchteten Thematik der Asexualtität
auseinandergesetzt. Die Autor*innen Nadine Schlag und Andrzej
Profus liefern einen sensiblen und ausführlichen Einblick in das
Themenfeld und zeigen die damit verbundenen theoretischen und
praktischen Positionierungen auf, indem sie sowohl historische als
auch psychologische Zugänge skizzieren und kritisch reflektieren.
Die folgenden Beiträge von Jens Borchert und Heino Stöver widmen
sich dem Thema Sexualität und Gefängnis in der Bundesrepublik
Deutschland. Die Autoren beschreiben minutiös zentrale
soziologische Zugänge und erweitern die Perspektive durch den
zusätzlichen theoretischen Diskurs über psychologische Ansätze.
Torsten Klemm führt diese Argumentation fort und arbeitet zur
theoretischen Fundierung aktuelle empirische Untersuchungen und
Diskurse ein.
Im letzten Teil des Buches kommen drei Autorinnen zu Wort, die sich
kritisch mit »Reproduktiver Selbstbestimmung« und deren Auswirkung
auf bestimmte Menschen und soziale Gruppen auseinandersetzen. Katja
Krolzik-Matthei beschäftigt sich instruktiv mit der Situation von
Frauen, die sich der schwierigen Frage stellen müssen, ob sie eine
Schwangerschaft austragen oder einen Abbruch vornehmen lassen
sollen. Auf empfindsame Weise macht die Autorin deutlich, dass das
Recht auf Abtreibung gegenwärtig gesellschaftlich ausgehöhlt sei.
Demgegenüber thematisiert Alina Mertens die Frage, wie sich die
Situation für Frauen mit Behinderungen darstellt, wenn diese ein
Kind austragen möchten. Hierbei pointiert die Autorin, dass
Menschen mit Behinderungen eine besondere soziale Gruppe
darstellten und ihre Schwangerschaft bzw. Nicht-Schwangerschaft
unter speziellem gesellschaftlichen Interesse stehe. In einem
resümierenden Beitrag setzt sich Marlen Weller-Menzel mit Fragen
der Reproduktion speziell in lesbischen, schwulen und queeren
Kontexten auseinander. Welche Möglichkeiten diesen sozialen
Gruppierungen zur Realisierung ihres Kinderwunsches zur Verfügung
stehen und welche Bedingungen sich dabei konterkarierend auswirken,
wird von der Autorin ausführlich beleuchtet.
Die einzelnen Beiträge sind durchgehend gut geschrieben. Den
Autor*innen gelingt es, sich umfassend und interdisziplinär mit dem
»Charakter« des Terminus Selbstbestimmung auseinanderzusetzen. Die
aktuellen gesellschaftlichen Grenzen der Selbstbestimmung mit den
verschiedenen Konsequenzen für einzelne Individuen und soziale
Gruppierungen werden ausführlich betrachtet. Als besonders gelungen
ist die Verbindung der Beiträge von Wissenschaftler*innen
verschiedener Fachrichtungen mit denen aus der Praxis zu bewerten.
Vor allem dadurch können sich die Autor*innen dem Phänomen der
Selbstbestimmung in einer bisher nicht gekannten Weise annähern.
Letztlich liefern die Herausgeber*innen mit ihrem Sammelband einen
wichtigen Beitrag zur kritischen und interdisziplinären
Beschäftigung mit der vielschichtigen theoretischen und
praxisorientierten Perspektive auf Selbstbestimmung. Die Reflexion
von Themen, wie Asexualität, Intergeschlechtlichkeit oder
Sexualität im Gefängnis, ermöglicht es, sich auch kritisch mit
Fragen der Trans*-Pathologisierung sowie mit unterschiedlichen
Reproduktionstechniken und -normen zu beschäftigen und die
Leser*innenschaft dafür zu sensibilisieren. Dabei kommt
verständlicherweise eine große Zahl ›Betroffener‹ zu Wort. Nicht
zuletzt deshalb ist dieses Buch allen, die sich mit
Selbstbestimmung auseinandersetzen möchten, wärmstens ans Herz zu
legen.