Rezension zu Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog
Materialdienst– Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen, 80. Jahrgang, Heft 10, 2017
Rezension von Michael Utsch
Lesen Sie hier den Auszug zum Buch »Religiöser Glaube und
säkulare Lebensformen im Dialog« aus der
Doppelbesprechung:
Mit Recht wird kritisiert, dass psychologische Erkenntnisse zu
selten auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen angewendet
würden und sich Forscher gerne in ihren universitären Elfenbeinturm
zurück zögen. Es gibt aber rühmliche Ausnahmen. Zwei Psychologen
haben im letzten Jahr mit psychologisch geschultem Blick aktuelle
gesellschaftspolitische Konfliktherde analysiert und wichtige
Impulse zum Umgang mit Fanatikern und zum Dialog zwischen Gläubigen
und Atheisten vorgelegt.
(...)
Auf einem etwas abstrakteren Niveau, aber nicht weniger engagiert
gelingt es dem Bochumer Kultur- und Sozialpsychologen Jürgen Straub
in seinem neuen Buch, eine tragfähige Brücke zwischen den tief
verfeindeten Geschwistern Wissen und Glauben zu bauen, indem er sie
durch stabile, identitätstheoretische Säulen stützt. Die Studie ist
systematisch gegliedert und beginnt mit den schwierigen, häufig
durch Vorurteile belasteten Beziehungen zwischen religiösen und
säkularen Lebensformen. Vehement widerspricht Straub der typischen
Kontrastierung von Religion und Moderne. Die provozierende
Hypothese der Studie lautet: Das »säkulare Zeitalter« (Charles
Taylor) bietet eine vorzügliche Plattform, auf der religiöse und
säkulare Lebensformen friedlich miteinander zusammenleben können.
In den folgenden Kapiteln legt der Autor überzeugend dar, dass zu
Beginn des 21. Jahrhunderts die politisch bedeutsame Trennlinie
keineswegs zwischen religiösen und nichtreligiösen Menschen
verlaufe, sondern zwischen Menschen, die »Kontingenzbewusstsein und
Offenheit in ihr komplexes Selbst- und Weltverständnis integriert
haben«, und denen, »die totalitär strukturiert sind – gleichgültig,
ob sie nun gläubig sind oder nicht« (112).
Das Thema ist klar und gesellschaftlich hoch relevant: Wie lassen
sich religiöser Glaube und säkulare Lebensformen, anstatt zu
rivalisieren und sich gegenseitig abzuwerten, in einem offenen
Dialog halten? Wie lässt sich personale Identität und Kontingenz in
pluralistischen Gesellschaften leben, ohne miteinander in Streit zu
geraten? Diese Frage ist auch deswegen brisant, weil die Mehrheit
der deutschen Bevölkerung nicht religionsfrei oder gar atheistisch
eingestellt ist. Natürlich hat die kirchliche Bindung deutlich
nachgelassen – der Mitgliederschwund der großen Kirchen ist
unübersehbar, wobei der demografische Wandel als Einflussgröße
nicht übersehen werden darf. Aber immerhin schätzen sich 19 Prozent
der Deutschen nach dem Religionsmonitor 2013 als tief religiös oder
spirituell ein. Diese Zahl hat sich aufgrund der Migrationsströme
noch erhöht. Wenn also ein Fünftel bis ein Viertel der deutschen
Bevölkerung religiöse oder spirituelle Werte verfolgt, muss auch
eine strikt wertneutrale und säkulare Psychologie lernen, damit
professionell umgehen. Straub zeigt in einem langen und
differenzierten Kapitel auf, dass die »Säkularen« keineswegs
neutral sind. Insbesondere den »Neuen Atheisten« weist Straub eine
»Sündenbock-Strategie« nach. Wenn etwas schlecht läuft – schuld
daran sind die unaufgeklärten und dogmatisch verbohrten Religiösen.
In sorgfältigen Einzelanalysen entlarvt der Autor die
naturalistischen Ideologien der Entwürfe von Dawkins, Dennett und
Kollegen. Herbert Schnädelbach ordnet er als einen
»exzentrisch-milden Atheisten« ein, während er Thomas Metzinger
eine »generelle Psychopathologisierung« vorhält. Deshalb wird seine
naturalistische Philosophie als ein »vergleichsweise subtiler,
raffinierter Versuch« in das Einzugsgebiet des »Neuen Atheismus«
gestellt. Polemische Religionskritik, so lautet ein Zwischenfazit
Straubs, scheint ihm »ein Teil des Problems, keine Lösung« zu sein
(82). Exemplarisch zeichnet der Autor den Dialog zwischen Jürgen
Habermas und Joseph Ratzinger nach, der von Offenheit, Sachlichkeit
und Fairness geprägt sei. Unter diesen Voraussetzungen könnten
Ähnlichkeiten im Verschiedenen und ein überraschendes Einvernehmen
festgestellt werden. Straub hält einen von Sachlichkeit geprägten
interreligiösen und interkulturellen Dialog für eine politische
Notwendigkeit in offenen, pluralistischen Gesellschaften. Als
Verständigungsbrücke entfaltet der Autor in den folgenden Kapiteln
die jeweilige personale Identität, die er als ein »offenes,
kontingentes und dynamisches Selbst- und Weltverhältnis«
charakterisiert. Unter dieser Prämisse würden sich »gläubige und
areligiöse Menschen in einer psychologisch höchst bedeutsamen
Hinsicht ähneln und sich auch deswegen gut miteinander verständigen
und vertragen – ungeachtet aller sonstigen Unterschiede« (107).
Theoretisch klingt das einleuchtend, doch mühsam ist alle
praktische Umsetzung. Hier hallen praktische Beispiele zur
Veranschaulichung des Gesagten eine wichtige Funktion
übernommen.
Im letzten Kapitel wird begründet, warum das Prinzip der Laizität
als gesellschaftliche Grundordnung die beste Voraussetzung für ein
friedfertiges Miteinander bildet. Angesichts der Pluralität von
Weltbildern sei heute eine vertiefte Haltung der Toleranz nötig.
Leider werden hier die Befunde des bisherigen Gedankengangs
teilweise wiederholt und mit sozialphilosophischen und
gesellschaftspolitischen Diskursen verbunden. Viel spannender wäre
es gewesen, konkrete Anregungen zur Verbesserung des
interreligiösen und interkulturellen Dialoges zu erhalten, wie das
im vorigen Kapitel entfaltet wurde. Was verhindert
fundamentalistische Abwehr, was den Rückzug in populistische
Milieus? Hier fehlen Konkretionen zur praktischen Umsetzung des
Erkannten.
Leider löst der Autor auch ein Versprechen aus seinem Vorwort nicht
ein. Er positioniert seine Studie im weiten Feld der
Religionspsychologie, in das er nun erste Schritte gemacht habe. Es
werden aber keine Bezüge zur religionspsychologischen Forschung
hergestellt, obwohl sie thematisch naheliegen. Einen fruchtbaren
Dialog zwischen analytischem Denken und religiöser Weisheit auf
Grundlage einer Persönlichkeitstheorie hat Julius Kühl zum Beispiel
als »Spirituelle Intelligenz« (München 2005) beschrieben, der damit
ähnliche Intentionen wie Straub aus identitätstheoretischer Sicht
verfolgt. Hier könnte ein spannender Dialog zwischen zwei Kollegen
einsetzen, der einige Gemeinsamkeiten, aber auch Gegensätze
hervorbringen würde.
Trotzdem ist die Studie aus mehreren Gründen spannend. Zum einen
ist sie verständlich geschrieben und greift aktuelle politische
Diskussionen auf. Zum anderen kann man dem Autor keinesfalls
Parteilichkeit oder eine »hidden agenda« vorwerfen.
Unmissverständlich outet er sich als ein »Gottloser, dem nach
eigenem Befinden noch nicht einmal etwas fehlt« (81). Umso
verdienstvoller, dass er sich differenziert und sachlich mit
religiösen Glaubensformen auseinandersetzt! Straubs Plädoyer für
eine offene, pluralistische Zivilgesellschaft, die im Bewusstsein
von Kontingenz und Differenz einen für beide Seiten fruchtbaren
Dialog zwischen unterschiedlichen personalen Identitäten –
religiösen und atheistischen – ermöglicht, macht Mut, dieser
anspruchsvollen Aufgabe nachzukommen.