Rezension zu Bindung und Autonomie in der frühen Kindheit
Rundbrief 2018 zur pränatalen Psychologie
Rezension von Franz Renggli
An erster Stelle möchte ich auf das neue Buch von Ursula Henzinger
hinweisen: »Bindung und Autonomie in der frühesten Kindheit.
Humanethologische Perspektiven für Bindungstheorie und klinische
Praxis« (2017 Psychosozial-Verlag). Ursula hat 1999 ihr erstes Buch
über die Kulturgeschichte des Stillens geschrieben, jetzt erfolgt
ihr Opus Magnum, an welchem sie viele Jahre gearbeitet hat. Einmal
hat sie Krabbelkinder zusammen mit ihren Müttern in einer Gruppe
beobachtet und wie die Babys untereinander Kontakt aufnehmen und
Konflikte austragen und zudem betreute sie über viele Jahre eine
Malgruppe von 1-jährigen Kindern und älter, wie sie mit Pinsel und
Farbe auf dem Schoss ihrer Mutter, beziehungsweise ihres Vaters
malen.
Dabei hat Ursula Henzinger die gesamte Bindungstheorie rund um John
Bowlby aufgearbeitet, zudem stützt sie sich auch immer wieder auf
Ethologie, das heisst vergleichende Verhaltensforschung an Tieren
und im besonderen natürlich von Affen, um sie mit dem Verhalten von
Müttern, ihren Babys und Kleinkindern in ursprünglichen Kulturen zu
vergleichen. Dabei gibt es keine Literatur, welche Ursula nicht
berücksichtigt hätte, – ihr Literaturstudium und die Darstellung
der Bindungsforschung bis heute ist umwerfend gut.
Vor allem verdienstvoll ist, dass sie sich eingehend mit dem
Zürcher Modell rund um Norbert Bischof auseinandergesetzt hat und
dieses in ganz einfachen Worten erklärt (was im Original bei
Bischof sehr schwierig ist). Dabei kennt Bischof drei
Verhaltenssysteme, nämlich 1) das Bedürfnis nach Sicherheit und
Geborgenheit: das Suchen nach Vertrautem. 2) Das Explorations-und
Neugierdeverhalten: das Suchen nach Neuem und Fremdem (die
Unternehmungslust eines Babys und Kleinkindes) und 3) der
Autonomieanspruch eines jeden Babys und Kleinkindes. Um es vorweg
zu nehmen: Je einfühlsamer die Eltern auf die Bedürfnisäusserungen
und Signale ihrer Kinder eingehen – seit allem Anfang an, desto
ausgeprägter ist sein Autonomiebestreben später: es wird sich
leicht von der Mutter, von den Eltern wegbewegen, um etwas zu
entdecken oder aber selber lösen zu wollen. Dabei werden die drei
Verhaltensbereiche jeweils eindrücklich gezeigt im Alter von 0-6
Monaten, im zweiten Halbjahr, im zweiten Lebensjahr und beim
älteren Kind. Das ganze Buch ist ein Schatz an Informationen bis
hin zum Co-Sleeping, nämlich das ein Baby ursprünglich, bei den
Primaten sowie bei den ursprünglichen Kulturen immer bei der
Mutter/bei den Eltern schlafen will und dabei natürlich viel früher
ein ruhiges Schlafverhalten zeigt und das heisst nächtlicherweise
durchschlafen kann. Immer wird die entsprechende Originalliteratur
zitiert.
Eindrücklich ist das Experiment mit der Gans Feli, ein Experiment
welches in den 60er Jahren durch Bowlby angeregt, aber erst vor
kurzem publiziert wurde: Nämlich ein Gänseküken, welches ohne
Muttererfahrung schlüpfen und aufwachsen muss. Erinnert sei, dass
der Vorgang der Prägung von Konrad Lorenz an Graugänsen entdeckt
worden ist. Ein erschütterndes Dokument, welches die Autorin kaum
zu veröffentlichen getraute und sich bei ihrem Gänsekind zum
Schluss ausdrücklich entschuldigt!
Zum Schluss seien drei Beispiele aus Ursulas direkten Beobachtungen
an Kleinkindern erwähnt. Einem Baby wird von einem anderen etwas
weggenommen, worauf es fragend die Mutter dieses Babys anschaut –
nicht seine eigene Mutter. Oder ein Baby (Eva, neun Monate) beginnt
zu weinen, worauf drei andere schlagartig ruhig werden: Alle Augen
pendeln gespannt zwischen Eva und ihrer Mutter hin und her, bis sie
von ihrer Mutter aufgenommen wird, sich an ihrem Körper beruhigen
kann – erst dann können die drei Babys sich wieder ihrer eigenen
Beschäftigung zuwenden (:256). Oder als das Baby Mateo Sarah (10
Monate) zu nahe kommt, ist sie irritiert und schaut bittend Mateos
Mutter an. Erst wie Mateo dies bemerkt, weicht er zurück und Sarah
schaut glücklich zur eigenen Mutter. Diese Beispiele sollen zeigen,
wie kompetent Babys von allem Anfang an sind und subtil miteinander
Kontakt aufnehmen – allerdings in einem sicheren und geborgenen
Raum. Dieses Buch sei allen Fachpersonen, welche sich mit Babys und
kleinen Kindern beschäftigen, aufs wärmste empfohlen.
www.franz-renggli.ch