Rezension zu Angst in Gruppen und Institutionen
www.socialnet.de vom 4. Oktober 2017
Rezension von Hans-Jürgen Balz
Thema
Das Stabilste an modernen Gesellschaften ist ihr Wandel. Diese, von
einem antiken Zitat inspirierte Aussage, ist so richtig wie
allgemein. Bezieht man dies auf die Arbeitswelt als Basis moderner
Gesellschaften, so stellt sich die Frage: Was verbinden
Mitarbeiter_innen in Betrieben, die Arbeitsgruppen, in denen sie
tätig sind, und die Institutionen insgesamt mit diesem Wandel?
Betriebliche Innovationen stehen in einem Spannungsfeld von
Veränderungsanforderungen und der Veränderungsbereitschaft bzw.
-fähigkeit der Führungskräfte, Mitarbeiter_innen und ihren
Arbeitsgruppen. Es wird gefordert, mit Unsicherheit im Zuge der
Veränderungen umzugehen und an der Weiterentwicklung betrieblicher
Abläufe aktiv mitzuwirken. In Veränderungsprozessen liegen jedoch
vielfältige Konfliktpotentiale aufgrund der sich wandelnden Ziele,
Arbeitsmethoden und Strukturen. Die vor und während der Veränderung
bestehende Unsicherheit über die Richtung und das konkrete Ausmaß
der Veränderung können bei den Führungskräften, ihren
Mitarbeitenden und den Arbeitsgruppen Angst und Konflikte
erzeugen.
Diese Prozesse zu verstehen, wichtige Einflussfaktoren zu
identifizieren, den Verlauf zu moderieren und mitzugestalten, darin
liegt die Aufgabe von Organisationsberater_innen, Supervisor_innen
und Coaches. Gleichzeitig ist dies ein wissenschaftliches Thema der
Gruppendynamik, der Arbeits- und Organisationspsychologie.
Das Buch widmet sich der Angst in Organisationen aus einer
psychoanalytischen Perspektive und fragt der Praxis zugewandt nach
strukturellen und methodischen Gestaltungsmöglichkeiten für die
(supervisorische) Arbeit mit der Angst in Gruppen. In diesem Sinne
integriert das vorliegende Buch eine fallanalytischer Perspektive
mit psychoanalytischem und gruppendynamischem Grundlagenwissen. Im
Buch wird die Ausgangsthese vertreten, dass die Art der Gruppen-
bzw. Organisationsführung die Angstentwicklung in der Gruppe
beeinflusst.
Entstehungshintergrund
Harald Pühl – Coach, Mediator, Supervisor, Dozent und Leiter eines
Weiterbildungsinstituts – stellt seine supervisorische Praxis als
Reflexionsraum zur Verfügung, um über die Ursachen von Angst in
Gruppen und Institutionen, seine Dynamik, relevante
Einflussfaktoren und das konstruktive Gestaltungspotential von
Angst nachzudenken. Von Harald Pühl liegen weitere Publikationen
zur Umsetzung psychoanalytischen Denkens in der Supervision
vor.
Bei dem Buch handelt es sich um die unveränderte Neuauflage der 5.
Aufl. 2014 im Ulrich Leutner Verlag Berlin. In der hier
vorliegenden 6. Auflage des Buches – jetzt im Psychosozial-Verlag –
gibt der Autor den Leser_innen den Blick in seine
Supervisionspraxis frei, lässt ihn mit seinen (Selbst-)Zweifeln,
offenen Fragen zur Prozessgestaltung und seinem Umgang mit Angst in
der Teamsupervision sichtbar werden. Harald Pühl rückt hier bewusst
von der sonst üblichen Trennung aus analytisch, distanziert und
sachlich unbeteiligtem Betrachter (Ideal eines positivistischen
Wissenschaftsverständnisses) und den in der Supervisionsarbeit
handelnden Personen (als Forschungsgegenstand) ab. Er stellt
eigenes Erleben und seine Gefühle als Form der Übertragung und
Prozesse der Gegenübertragung zur Verfügung und will damit nach
Quellen der Angst in Gruppen forschen.
In dieser praxisnahen Betrachtung und konkreten Beschreibung der
beteiligten Supervisand_innen und Institutionen liegt auch der
besondere Reiz des Buches.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht aus drei Kapiteln, inhaltlich unterteilt in die
Fallbeschreibung und dessen unmittelbare Reflexion in Kapitel 1,
sowie in zwei weitere Kapitel, die sich der Gruppenanalyse und
historisch geankerten Betrachtungen über psychoanalytisches und
gruppendynamisches Grundlagenwissen zu Angst in Gruppen und
Institutionen widmet.
Anmerkungen des Autors beschließen das Buch. Es bietet abschließend
ein Sachwortregister.
In seiner Einleitung formuliert Harald Pühl die These, dass Angst
in Gruppen und Organisationen wesentlich mit den
Veränderungsanforderungen in modernen Gesellschaften zusammenhängt.
Das aktuell zu beobachtende hohe Veränderungstempo unterstreiche
die Bedeutung der Beschäftigung mit dem Thema. Dem Autor geht es in
einer ersten Unterscheidung von Organisationsformen, um deren
Einfluss auf die Angstbewältigung. In seiner These hebt er hervor,
dass strukturierendes Leitungsverhalten angstbindend wirkt und
insofern in Institutionen ohne formelle Führung besondere
Anforderungen an den Umgang mit Emotionen bestehen.
Das Kapitel 1 liefert eine Fallstudie, eine Supervision in einem
leiterlos-nichthierarchischen Team (Beratungsstelle für sogenannte
Treberjugendliche), prozesshaft beschrieben über den Zeitraum von
zwei Jahren. Harald Pühl leitete diese Supervision in erprobter
Zusammenarbeit mit einer Kollegin. Nach seiner Vorstellung der
Teammitglieder und des Arbeitsfeldes, beschreibt er den
Supervisionsprozess, wobei er chronologisch beginnt, dann aber auch
eine Dreiteilung des Prozesses vornimmt. Diese Dreiteilung ergibt
sich aus der Veränderung der Kooperationsbeziehung – den Beginn
betitelt Harald Pühl mit »Die Supervisoren bekommen kein Bein auf
den Boden« (S. 27) – später werden Gruppengeheimnisse thematisiert
und in der letzten Phase arbeitet eine personell deutlich
veränderte Supervisionsgruppe an der konstruktiven Gestaltung der
Gruppenbeziehungen und ihren Klientenbeziehungen.
Sehr wichtig sind Harald Pühl seine Eindrücke, Hypothesen und
Gefühle, ausgelöst durch die Gruppenprozesse. Diese Übertragung und
Gegenübertragung reflektiert er für sich, an einigen Punkten wird
auch die Rollenwahrnehmung seiner Kollegin thematisiert. Wichtiger
Bestandteil ist die Frage, ob und wie die Supervisor_innen »in das
Team reingelassen werden« und wie sich die Anliegen bzw.
Auftragssituation aus der Perspektive der einzelnen Teammitglieder
über die Zeit verändern. Die von ihnen erlebte Ausgrenzungen,
Aggressionen und Vorwürfe integriert Harald Pühl in seinen
gruppendynamischen und psychoanalytischen Denkansatz als Zugang zu
den (Eigen-)Befindlichkeiten der Teammitglieder und der
Gesamtgruppe.
Abschließend fasst der Autor seine Erkenntnisse, ausgehend von der
Fallanalyse, in zehn Thesen zusammen und sucht dabei die
Querverbindungen zu Klassikern der Gruppendynamik (Bion, Pagés und
Foulkes).
Das Kapitel 2 dient Harald Pühl zu einem historisch angelegten
Rekurs auf den Beitrag von Foulkes, einem Psychoanalytiker, der die
Dynamik der Gruppe im Kontext der umgebenden gesellschaftlichen
Einflüsse betrachtet. In seiner Theorie der »Gruppenmatrix«
vertritt Foulkes die Ansicht, dass jedes Gruppenmitglied in das
Gruppengeschehen unbewusst seine in der Familiengeschichte
verinnerlichte Rolle einbringt. Für Harald Pühl ist es wichtig
daran anzuschließen. Durch die Betrachtung des unbewussten
Gruppenthemas und seiner möglichen Quellen greift er Foulkes
Konzept auf. Ihm geht es um das Verstehen von Abwehrtendenzen
gegenüber angstbesetzten Gruppenthemen und den damit
zusammenhängenden Stagnationen, die er unter Bezug auf seine
Fallstudie analysiert. Erweitern möchte Harald Pühl die
psychoanalytische Theoriebildung (unter Bezug auf die Bedeutung der
Abwehr und des Widerstandes bei Freud), um kulturgeschichtliche
Aspekte der Gruppe und der Institution, sowie die zwischen
Individuum und Gesellschaft bestehenden Spannungen um Macht,
Narzissmus, individuellen und kollektiven Abwehrmechanismen
erweitern. Für Supervisor-innen sieht der Autor als Aufgabe
insbesondere in der Förderung der Gruppenkommunikation und dadurch
den Zugang zu unbewussten Gruppenthemen.
In Kapitel 3 wird das Erleben von Angst und die Dynamik in der
Gruppe in einen historischen Zusammenhang gestellt, um den Einfluss
gesellschaftlicher Veränderungen von Gruppen- und
Institutionsstrukturen differenzierter zu betrachten. Die These von
Harald Pühl in diesem Kapitel ist, dass die Angstbewältigung von
der Gemeinschaft, dem Kollektiv, beispielsweise der Naturvölker
(Jäger und Sammler) ausgehend in modernen Gesellschaften auf das
Individuum übergeht. Seinen Vorschlag, eine
evolutionsgeschichtliche Perspektive heranzuziehen, begründet der
Autor damit, dass ansonsten die Gefahr besteht, aus den
Beschreibungen der heutigen Situation vorschnell auf das Wesen des
Menschen (z.B. seine Grundbedürfnisse) allgemein zu schließen.
Durch die Inbeziehungsetzung von Phylogenese
(Menschheitsgeschichte) und Ontogenese (Ich-Entwicklung) sucht
Harald Pühl ein vertiefendes Verständnis des menschlichen Wesens,
integriert dabei entwicklungspsychologische Fragen und trägt so zur
gruppendynamischen und psychoanalytischen Theoriebildung bei.
Die Fähigkeit, Angst zu empfinden, hebt der Autor als
Entwicklungsvoraussetzung der Menschwerdung hervor. Insbesondere
sieht er die Funktion von Angst im Kontext der Erkundung von Neuem,
in dessen Zusammenhang die Angstbereitschaft eine
Überlebensfunktion zukommt und zu einer Ablösung von instinkthafter
»Festgelegtheit« (S. 118) beiträgt. Dabei reguliert die soziale
Gruppe die Angstbereitschaft durch kollektives Handeln und bildet
ein Gruppen-Ich. Erst am Ende des Absolutismus siedelt Harald Pühl
die Herausbildung des Individuums als einzigartigen und
selbstverantwortlich handelnden Menschen an. In dieser Epoche kann
sich seiner Meinung nach das ICH in seiner im psychoanalytischen
Instanzenmodell vertretenen Form herausbilden. Die Argumentation
nimmt Bezug auf Holzkamp-Osterkamp, Gehlen, Marx, Schmidtbauer,
Fromm, Marcuse, Elias und weitere Autor_innen. Es geht Harald Pühl
auch darum, der in der psychoanalytischen Theoriebildung durch
Freud bestehenden negativen Wertung kollektiver Abwehrprozesse
(gegenüber angstbesetzten Triebimpulsen) zu begegnen und ihre
konstruktive Funktion herauszuarbeiten. Die Verknüpfung seiner
Argumentation richtet sich auf eine Neubestimmung der Ich-Funktion
über die Vermittlungsfunktion im Freudschen Sinne hinaus.
Abschließend erweist Harald Pühl der Angsttheorie Sigmund Freuds
seine Referenz. Er zeigt dessen Entwicklung und die begriffliche
Unterscheidung von neurotischer Angst, Realangst, Kastrationsangst
und weiteren in der Biographie angesiedelten Ängsten auf.
Insbesondere kritisiert Harald Pühl an Freuds Theorie, dass diese
von einer Universalität des Ödipuskomplexes und einem
Gemeinschaftskonzept ausgeht, dass Harald Pühl in seiner Struktur
jedoch erst in der modernen Gesellschaft als gegeben ansieht.
Das Buch kommt hier ohne ein abschließendes Kapitel aus. Die
Bezugnahme und Kritik an Freuds Angsttheorie bildet für den Autor
das Fazit seiner Analyse. Als Leser würde ich mir den Rückbezug auf
die supervisorische Arbeit und den Umgang mit Angst in
unterschiedlichen institutionellen Strukturen wünschen. Auch wären
m.E. Ausführungen zum weiterführenden Forschungsbedarf und offene
Forschungsfragen hilfreich, um sie in der psychoanalytischen
Theoriebildung zu verorten.
Zielgruppen
Das Buch richtet sich an Fachkräfte in beratenden Berufsfeldern, so
beispielsweise Organisationsberater_innen, Supervisor_innen,
Mediator_innen, Coaches, Trainer_innen, Personalleiter_innen und
Geschäftsführer_innen. Insbesondere können davon Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter profitieren, die sich für vertiefende Fragen der
Gruppendynamik und die psychoanalytische Theoriebildung
interessieren und denen das Thema Angst in Gruppen eine besondere
Herausforderung darstellt. Die Publikation lässt sich
gewinnbringend auch im Studium der Pädagogik, der Sozialen Arbeit,
der Sonder- und Heilpädagogik im Kontext der Analyse
gruppendynamischer Prozesse einsetzen.
Diskussion
Das Buch von Harald Pühl lädt die Leser_innen auf eine sehr
persönliche Reise in die Prozesserfahrungen des Autors ein. In
seiner Reflexion des Verlaufs, der Ängste und Konflikte beschreibt
er für Supervisor_innen wohlbekannte Erfahrungen. Es werden
Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse beschrieben und in den
Kontext der Angstbearbeitung in der Supervision eingeordnet. Harald
Pühl nutzt seine profunden Erfahrungen, sein gruppendynamisches
Wissen und seine psychoanalytische Expertise, um das
Prozessgeschehen der zwei Jahre zu ordnen und für sich mit der
Abwertung, Zurückweisung und den Kränkungserfahrungen
umzugehen.
Die dann folgenden Ausführungen weiten den Blick auf Fragen der
Phylogenese und Ontogenese. Die Integration sehr verschiedener
Autor_innen in seine historisch angelegten Betrachtungen nimmt die
Leser_innen auf eine Zeitreise mit, die einige kurze Zwischenstopps
in verschiedenen Epochen macht. Der rote Faden in den
Theoriekapiteln ist sehr gut nachvollziehbar, die Wahl der Belege
seiner Argumentation durch Autor_innen aus sehr verschiedenen
wissenschaftlichen Lagern wirkt auf mich manchmal assoziativ und
beliebig. Ein leichteres »Fahrwasser« erhält der Text dann in den
Passagen, in denen Harald Pühl die psychoanalytische Debatte
aufnimmt.
Notwendig wäre für den Transfer in die eigene supervisorische
Praxis ein schlussfolgerndes Kapitel, in dem dann aus der geführten
gruppendynamischen und psychoanalytischen Debatte gezogene
Schlussfolgerungen für den Umgang mit der Angstdynamik in Gruppen
und Institutionen abgeleitet werden. Insbesondere der Anspruch,
über die supervisorische Praxis hinausgehende Aussagen z.B. für die
Praxis von Führungskräften und Organisationsentwicklern zu ziehen,
bräuchte ein derartiges abschließendes Kapitel.
Fazit
Das Buch von Harald Pühl ist in der nun vorliegenden 6. Auflage ein
Klassiker zum Thema Angst in Gruppen. Mit seinem fallanalytischen
Einstieg macht der Autor die »Tür« zu seiner supervisorischen
Praxis weit auf und reflektiert mit allen Hochs und Tiefs den
Prozess in einer psychosozialen Beratungseinrichtung.
Zu den dann folgenden Kapiteln, die die Leser_innen in die
gruppendynamische und psychoanalytische Theoriebildung zu Angst und
Aggression im Kontext des Menschheitsgeschichte und der
individuellen Persönlichkeitsentwicklung einlädt, findet sich ein
gewisser Bruch. Das mit der Fallstudie nahegelegte (immanente)
Ziel, die Dynamik in Gruppenprozessen differenzierter zu betrachten
und daraus handlungsbezogene Schlussfolgerungen abzuleiten, wird in
den weiteren Kapiteln nicht verfolgt. Gern würde ich ein
abschließendes Kapitel lesen, indem der Supervisor Harald Pühl den
Leser_innen seine praxisorientierten Implikationen der Debatte
darlegt.
Dennoch ist das Buch auch in den weiteren Kapiteln sehr lesenswert,
da der Autor hier den inneren Debattenkreis um die Bedeutung von
Angst, Aggression und Verdrängung im Kontext der psychoanalytischen
Theoriebildung unter Bezug auf zahlreiche renommierte Autor_innen
entfaltet.
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