Rezension zu Grenzen und Chancen der modernisierten Geschlechterordnung
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Rezension von Monika Barz
Thema
Im Mittelpunkt der Publikation steht die Diagnose traditioneller
hierarchischer Geschlechterverhältnisse im Kontext des
gegenwärtigen subjektorientierten neoliberalen
Gesellschaftssystems. Die Autorin zeichnet nach, wie traditionelle,
hierarchische Geschlechterverhältnisse erneut Fuß fassen und im
Strom neoliberaler individualisierter Karrieremuster
Geschlechterungerechtigkeit als individuelles Problem
gekennzeichnet wird. Sie zeigt u.a. am Beispiel Schule auf, wie
sich die offizielle Seite staatlicher Politik zunehmend von
normativen geschlechtlichen Stereotypen distanziert und sich
gleichzeitig neokonservative familien- und bildungspolitische Werte
und die ökonomischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern
verfestigen.
Autorin
Stefanie Göweil ist Philosophin, Germanistin, AHS-Lehrerin und
Diplom-Kindergartenpädagogin. Studium an der Universität Wien. Ihre
wissenschaftlichen Schwerpunkte sind feministische Philosophie,
Subjekttheorien, Sozialphilosophie, Psychoanalyse und
Bildungsphilosophie.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um eine wissenschaftliche Qualifizierungsschrift
(Promotions- oder Habilitationsschrift), die an der Universität
Wien erfolgreich eingereicht wurde und von der Dr. Maria Schaumayer
Stiftung ausgezeichnet wurde.
Aufbau
In ihrem Eingangskapitel skizziert Göweil ihre Fragestellung nach
den gegenwärtigen Dynamiken innerhalb des Geschlechterverhältnisses
und deren Relevanz für Gesellschaft und Schule. In den folgenden
Kapiteln führt sie die in die Metapher des Selbstkannibalismus ein.
Sie zeigt mit Verweis auf Seyla Benhabib anhand philosophischer
Traditionen auf, wie der Ausschluss der Frauen nicht nur als
»politische Unterlassungssünde« oder als »blinder Fleck auf dem
moralischen Auge« zu werten sei, sondern als zentrales
»epistomologisches Defizit« des moralischen und politischen
Universalismus in der Tradition Kants mit seiner unhinterfragten
Zentrierung auf das autonome bürgerliche Subjekt (54).
Im Weiteren entwickelt sie die Entsubjektivierung als ethisches
Commitment und Möglichkeit einer emanzipatorisch-politischen
Praxis. Sie analysiert die Macht der Bio-Politik und beschreibt den
Nihilismus des modernen Subjekts und das Potential des
Ethischen.
Gegen Ende des Buches geht sie vertiefend auf die Prinzipien der
psychoanalytischen und Kritischen Pädagogik ein und zeigt die
Überschneidungen zu Butlers Theorie der Performativität und
Irigarays Ethik der sexuellen Differenz auf. Sie schließt ab mit
Ausführungen über die Kultivierung sexueller Differenz und deren
Bedeutung für die schulische Praxis.
Inhalt
Göweil benennt in der vorangestellten persönlichen Danksagung die
einzelnen Quellen ihres »feministischen Interesses«, die in ihr
»den Funken dieser besonderen Leidenschaft entzündet hatten«. Ein
gelebtes Affidamento wird spürbar und stärkt die Bereitschaft, sich
auf eine extrem komplexe und anspruchsvolle Durchdringung
philosophischer, psychoanalytischer und feministischer
Theoriebildung einzulassen.
Inhaltlich nimmt die Autorin die Jubelmeldungen über das angebliche
Ende des Patriarchats durch den Vormarsch der Frauen in vielen
gesellschaftlichen Bereichen zum Ausgangspunkt einer fundierten
Analyse philosophischer, feministischer und post-feministischer
Wissensbestände.
In Anlehnung an die beiden Theoretikerinnen Judith Butler und Luce
Irigaray zeigt sie, inwieweit sich das neoliberale Ideal des
souveränen, selbstbewussten Subjekts heutzutage auf Basis der
De-Thematisierung und Individualisierung von Geschlecht und deren
Auswechslung durch das moderne ›Gender‹ neue Legitimation
verschafft. Sie weist nach, wie geschlechterhierarchische
Verhältnisse unter Mitwirkung der Frauen, die dem neoliberalen
Ideal der Selbstunternehmerin anhängen, erneut zementiert werden.
In der Nicht-Reflexion der Grenzen des Subjektes sieht sie einen
der zentralen Mechanismen mit denen Geschlechtergewalt
aufrechterhalten wird. Ohne das Potential der Individualisierung
per se zu leugnen, fragt sie danach »wo die spezifischen Grenzen
der modernen Individualisierung von Geschlecht liegen und welche
Konsequenzen sich daraus für feministisches Engagement und
emanzipatorisches Handeln sich ergeben.« (39)
Diskussion
Göweil gelingt es, die Dynamik der gegenwärtigen Transformation der
Geschlechterordnung zu analysieren und daraus Konsequenzen im
Hinblick auf die schulische Behandlung von Geschlecht zu
ziehen.
Sie widmet sich einer Leerstelle innerhalb der wissenschaftlichen
Behandlung von Schule und Geschlecht. Dank des konsequenten Fokus
auf Jugendliche werden Ergebnisse der empirischen Schulforschung
nachvollziehbar, die ein Auseinanderklaffen des Selbstwerts bei
Mädchen und Jungen mit einsetzender Pubertät konstatieren. Ziel
ihrer Analyse ist nicht Geschlechtsneutralität, »sondern eine
demokratisch und gerecht gestaltete Geschlechterbewußtheit«.
Darunter versteht sie die gesellschaftliche Anforderung an Männer
und Frauen, »das Für-sich und Für-andere-Sein der menschlichen
Existenz in gemeinschaftlicher Anstrengung zu bearbeiten.« (309)
Göweil liest sich als fundiertes Kontrastprogramm zum mittlerweile
hegemonialen Diskurs um ›Jungen als Bildungsverlierer‹, dem Vorwurf
der ›Feminisierung‹ des Bildungssystems und dem Wiederaufleben von
Differenzannahmen.
Fazit
Göweil ist es gelungen, 300 Seiten lang zu fesseln, auch wenn immer
wieder lange Durststrecken zu überstehen sind mit philosophischen
und psychoanalytischen Vertiefungen, deren Verständnis vermutlich
vielen Lesenden trotz durchschnittlichem Wissensbestand über diese
Theoriebereiche nur schwer möglich ist. Es lohnt sich, gelassen
damit umzugehen und die querdenkende und analytische Schärfe von
Göweil zu genießen, mit der sie offenlegt, »wie die neoliberale
Aneignung ehemals feministischer Prinzipien, den Feminismus als
politische Kraft wirkungslos macht und filigran nachzeichnet«, wie
»traditionelle, hierarchische Geschlechterverhältnisse durch die
Hintertür wieder Fuß fassen können«. (22, 307) Dieses Buch ist
lesenswert, gerade weil Göweil bei der Analyse nicht stehen bleibt,
sondern Auswege aufzeigt, wie die Begrenzung des Ichs zu einem
Modus des Bezugs zwischen Subjekten werden kann und somit »zu einer
produktiven Quelle für die Entwicklung neuer symbolischer Ordnungen
in der Welt« (309).
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