Rezension zu Sozialwissenschaftlich fundierte Beratung in Pädagogik, Supervision und Sozialer Arbeit (PDF-E-Book)
Supervision – Mensch Arbeit Organisation, Ausgabe 3, 2017
Rezension von Brigitte Boothe
Beratung als Normalisierungsinstrument?
Jede Krise, jeder Konflikt, jede Herausforderung in Familie,
Schule, Ausbildung und Beruf lässt sich durch Beratung lösen,
versichern die zahlreichen Anbieter. Und wer berät, wird selbst
beraten, bei Supervisorinnen und Supervisoren. Reichlich Expertise
ist vorhanden, vielfältiger Bedarf scheint gegeben und wird stetig
geweckt, denn in allen Lebensbereichen sollte man »in einem
aktivierenden Staat (...) mit seinem Prinzip des Forderns und
Förderns« (S. 9) Herausforderungen möglichst kompetent, versiert
und mit geeignetem Support begegnen. Geht es um das »Wohl des
Einzelnen«, so muss die Beratungssituation als vertrauenswürdiges
Arbeitsbündnis hergestellt werden, in dem der Ratsuchende Gehör für
seine Anliegen findet. Die Beratungspraxis ist jedoch, wie
Katharina Gröning aufzeigt, vielfach »verlängerter Arm des
politischen Willens im Rahmen von Normalisierung und
Ordnungsfunktionen« (S. 20). Insbesondere wenn Beratungsfachleute
in öffentlichen Institutionen arbeiten – Erziehung, Bildung,
Gesundheit, Soziales, Arbeitsvermittlung oder Rechtssystem –,
handelt es sich immer auch um Aufträge im Dienst der jeweiligen
Institution und um Kontrolle: »Beratung erfüllt heute in weiten
Teilen gesellschaftliche Normalisierungsfunktionen und ist weniger
auf das Wohl des Einzelnen ausgerichtet« (S. 9).
Beratung als Machtform und als verständigungsorientiertes
Handeln
Am Beispiel der Schwangerschaftskonfliktberatung zeigt die Autorin
die Spannungen auf, die sich zwischen »Beratung als Machtform«
einerseits und »Beratung als verständigungsorientierte(m) Handeln«
andererseits (S. 30) ergeben: Die Schwangere soll zu einer für sie
persönlich tragfähigen Entscheidung finden können, sie sieht sich
aber auch im Spannungsfeld politisch-gesellschaftlich-moralischer
Interessen.
Die Geschichte der Beratung nimmt – Gröning bezieht sich auf
Deutschland oder den deutschsprachigen Raum – ihren Anfang im 20.
Jahrhundert bis zum nationalsozialistischen Regime als Instrument
der Kontrolle, Sanktion und Disziplinierung. Nach dem Zweiten
Weltkrieg wird Beratung zum Instrument der paternalistischen
»Lenkung von Menschen und Angehörigen sozialer Gruppen, die man
eigentlich für unmündig hält und für die man glaubt entscheiden zu
sollen« (S. 30). Im Anschluss an kritische
Demokratisierungsprozesse seit den späten 1960er-Jahren, beginnend
mit den internationalen Studentenbewegungen, entfaltete die
humanistische Psychologie in ihren zahlreichen Spielarten
bedeutende Wirksamkeit. Die Aussicht auf individuelle Selbstfindung
schien den Weg zu Authentizität, Sinn, Glück und Freiheit zu
weisen, in Begleitung eines empathischen Beraters. Einerseits ist
hier die Pastoralmacht als offen autoritative Einflussnahme
zurückgedrängt, andererseits herrschen weiche Formen
charismatischen Autoritätsgebarens vor. Seit den Neunzigerjahren
werden sich neu formierende Beratungsangebote wie das Coaching als
Karriereberatung und professionelle Optimierungsstrategien wichtig.
Waren im frühen zwanzigsten Jahrhundert Zucht und Ordnung als
Repression des Ungeregelten am Platze, ist sie es heute auch, aber
mit der trügerischen Aussicht auf einen exzellenten Profit für sich
selbst.
Beratungswissenschaft und Beratungskunst
Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte: Der erste Abschnitt
»Beratungswissenschaft und Beratungskritik« analysiert kritisch die
Beratung als »gouvernementale« – institutionell, staatlich,
politisch gelenkte – Praxis und gelangt zur »ethisch-normativen
Begründung von Beratung«. Der zweite Abschnitt widmet sich den
Gründerinnen und Gründern der Beratung und Supervision mit dem
besonderen Interesse, deren methodisches und professionelles
Verständnis zu erschließen und für eine fundierte wissenschaftlich
begründete Beratungspraxis fruchtbar zu machen. Besondere
Aufmerksamkeit finden hier »Supervision und Beratung als
Verhandlungsraum«, die »Beziehung in ungleichen
Machtverhältnissen«, Vertrauensentwicklung und Loyalität. Der
dritte Abschnitt »Methode, wissenschaftliches Wissen und Ethik«
mündet in ein Plädoyer für eine von Honneths Theorie der
Anerkennung inspirierte Haltung der Wertschätzung individueller
Lebensentwürfe in ihrer Konflikthaftigkeit. Es geht um die
Fähigkeit, einen Selbst- und Weltbezug zu entwickeln, der
Entscheidungen nicht nur von Außensteuerung abhängig macht und dem
Druck »zur ständigen Selbstoptimierung« (S. 117), im Zusammenhang
mit der Allgegenwart von Konkurrenz. Der vierte Abschnitt »Beratung
als wissenschaftlicher Prozess« stellt qualitative Verfahren vor:
Zuhören als systematische Kompetenz, Gesprächsführung und
Herstellung einer Fallstruktur, Beachtung der Selbstdeutungen des
Klienten, Erfassung und Erschließung seiner sozialen Herkunft,
seiner aktiven Gestaltung der sozialen Situation, Erfassung und
Erschließung der Biografie und der aktuellen Lebenslage,
Rollenverständnis und Entwicklungsperspektiven. Die
Beratungssituation ist als eine anspruchsvolle und breit gefächerte
Herausforderung für die beratende Person als Zuhörerin,
Begleiterin, Mentorin und wissenschaftlich geschulte Person
dargestellt. Die Beraterin nimmt auch, anhand des dokumentierten
Materials, vermutlich im Expertenteam eine Aufbereitung und
Auswertung vor, die dann auch dem Ratsuchenden vermittelt wird. Von
großer Bedeutung ist, dass die Situation des Klienten und sein
Anliegen sowohl im Blick auf die psychische Verfassung wie auf das
biografische Gewordensein, die soziale Einbettung, das Feld der
Beziehungen und im gesellschaftlichen Zusammenhang verstanden wird.
Beim fünften Abschnitt »Beratungskunst« steht die Beziehung
zwischen Berater und Ratsuchendem im Zentrum. Hier findet die
Autorin wertvolle Anregungen in der Psychoanalyse als
Beziehungswissenschaft. Übertragung und Gegenübertragung sind zu
beachten, der Berater muss für das Abwehrgeschehen sensibel sein,
das häufig mit der Bewältigung von Scham zu tun hat. »Fördernder
Beistand« (S. 157) muss sich aus dem empathischen Mitvollzug und
dem Wirksam-werden-Lassen der Beziehungssituation ergeben.
Kritische Würdigung
Die Schwerpunkte Pädagogik, Supervision und Soziale Arbeit werden
im Buch nicht jeweils spezifisch thematisiert. Der Leser erfährt
nicht, welche besonderen Beratungsaufgaben für diese
unterschiedlichen Aufgabenfelder relevant sind.
Bestimmte Beispiele, die im Buch eine wichtige Rolle spielen, wie
Schwangerschaftskonfliktberatung, lassen sich keinem der drei
Gebiete zuordnen. Häufig werden zentrale Thesen wie die
Indienstnahme der Beratung als Kontroll- oder
»Normalisierungsinstrument« nur auf eher allgemeiner Ebene
formuliert und argumentativ nur teilweise vertieft. Gerade hier
wären Dokumentation, Belege, Veranschaulichung und Fallbeispiele
aufschlussreich und fundierend. Nicht immer ist die Bestimmung des
thematischen Gegenstands für den Leser klar und einfach
nachvollziehbar. Bei »Beratung als wissenschaftlicher Prozess« etwa
ist oft nicht eindeutig, ob und wann und wie es um die
wissenschaftliche Begleitung beratender Praxis oder um die
wissenschaftliche Einstellung des beratend Tätigen geht. Auch hätte
man in diesem Kapitel erwartet, dass wissenschaftliche Befunde
einschlägiger qualitativer Forschung erwähnt oder dargestellt
werden.
Insgesamt betrachtet legt Gröning ein Werk über Geschichte, Kritik
und Aktualität der Beratung in ihrer Eigenständigkeit und mit ihrem
eigenen Profil vor. Beratung ist nicht Therapie auf niedriger
Stufe, sondern »fördernder Beistand« im »Möglichkeitsraum«. Das
kenntnis- und anregungsreiche Buch ist ein Gewinn für Lernende und
Experten im expandierenden Feld der Beratung.