Rezension zu Die Rainbow Family
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Rezension von Friedhelm Vahsen
Entstehungshintergrund und Thema
»Dieser Text wurde im Dezember 2014 von der Autorin unter dem
Titel: ›Die Rainbow Family – Identitätskonstruktionen in einer
postmodernen, neotribalen, globalen Subkultur. Ergebnisse
sozialpsychologischen Feldforschung‹ an der
Ludwig-Maximilian-Universität, München zum Zwecke der Promotion in
Sozialpsychologie unter der Betreuung von Prof. Dr. Heiner Keupp
als Dissertation vorgelegt.« So der Hinweis im Klappentext.
In ihrer Danksagung geht die Autorin auf die Schwierigkeiten und
Lebenskrisen beim Anfertigen ihrer Dissertation ein: »Diese Arbeit
hat viele Jahre meines Lebens begleitet und es gab kaum ein
Wochenende oder Urlaub, an dem ich nicht an diesem Text
geschrieben, gefeilt und korrigiert habe« (S. 25). Ihre Eltern
starben zwischendurch, es gab »Monate des Zweifelns und der
Kraftlosigkeit« (S. 24).
Sie erwähnte ausdrücklich einen Mitarbeiter von MeinFernbus, »der
sich 2015 auf außerordentliche Weise persönlich bemüht hat, meinen
im Bus von München nach Hamburg vergessenen Laptop mit dem
Manuskript der Dissertation ausfindig zu machen und mir wieder
zukommen zu lassen« (S. 25). (Ich glaube mich richtig zu erinnern,
dass es Ulrich Beck war, dem ähnliches im Taxi passierte, dort ließ
er ein Manuskript liegen).
Die Idee zu diesem Buch entstand in den 1980er Jahren, als die
Autorin in den USA studierte und lebte und sie von Freunden zu
einem Treffen der Rainbow-Family – einem als »Gathering«
bezeichneten Treffen – in North Carolina mitgenommen wurde. Sie war
von Anfang an von dieser bunten, fremden Welt fasziniert, die ihr
dort begegnete. 2002 nahm sie an dem europäischen Gathering in
Italien teil und in ihr reifte die Idee, etwas ȟber die
Rainbow-Bewegung (…) zu schreiben« und als sie sich »2004
entschloss, eine Dissertation in Sozialpsychologie zu verfassen,
war das Thema Rainbow bereits innerlich präsent« (S. 28) und dies
mittels teilnehmender Beobachtung und narrativen,
problemzentrierten Interviews strukturiert erkunden.
Die Rainbow-Family, die seit 1972 als »eklektische,
basisdemokratische Gemeinschaft« existiert, ist für ihre Anhänger
mehr als nur eine flüchtige Vergemeinschaftung, in ihr kommt man
offensichtlich ohne Hierarchien, Anführer und Regeln aus. Die
Autorin wollte herausfinden: »was finden Menschen aus
unterschiedlichen sozialen Schichten, Berufen, Ethnien und
Generationen in der Rainbow-Family« (S. 28).
Aufbau
Teil 1. Die Rainbow Family
1. Philosophische Hintergründe der Rainbow-Bewegung
2. Die Geschichte der Rainbow-Family
3. Wie ein Rainbow-Gathering entsteht
Teil 2. Theorien zur Identität
4. Herausforderung der Postmoderne
5. Grundlegende Themen der Identität
6. Rituale und Gemeinschaft
Teil 3. Methoden und Auswertung
7. Methoden der Untersuchung
Teil 4. Ergebnisse
8. Auswertung der Interviews
9. Ergebnisse zu den sechs zentralen Themen
10. Sechs Falldarstellungen
11. Zusammenfassung und Diskussion
Teil 5. Anhang
12. Übersicht über 33 Interviews und zwei Hipstorie
13. Leitfaden
14. Glossar
15. Literatur
• Abbildungen
Bei der Deutschen Nationalbibliothek ist das weiter
ausdifferenzierte vollständige Inhaltsverzeichnis aufrufbar.
Inhalt
Schon diese (etwas unkonventionelle) Gliederung verdeutlicht, mit
welchem methodischen und analytischen Elan die Autorin sich ihrem
Thema annähert.
Bei der Auswahl der Untersuchungsmethoden wurden von der Autorin
zunächst narrative Interviews erwogen, doch lässt die offene
Struktur des Gatherings, Unterbrechungen, Geräusche, kurzfristig
wechselndes Wetter während der Treffen, nur schwerlich ein
ausführliches, rein Erzählung induzierendes Forschungsverfahren
realisieren und auch nicht nach den Treffen, da »die Teilnehmer
wieder in ›alle Winde verstreut‹ sind« (S. 277). Außerdem ging es
um die unmittelbare Erfahrung, die die Teilnehmer während dieser
Gatherings machten.
So entschied sie sich deshalb problemzentrierte Interviews
durchzuführen, die mithilfe eines Interviewleitfadens strukturiert
wurden, im Laufe der Erhebung an die vorliegenden Bedingungen des
jeweiligen Treffens und an die bis dahin ausgewerteten
Forschungsergebnisse angepasst wurden.
Die Autorin erforschte ab 2004 bis 2013 fünf Gatherings in Europa
drei in den USA zwischen 2007 und 2009.
»32 Interviews von ca. 45–90 Minuten Dauer wurden direkt im Feld
auf sechs großen Gatherings aufgezeichnet«, das letzte »außerhalb«
des Treffens. Außerdem wurden von der Autorin Forschungstagebücher
geführt und ihre Erkenntnisse durch wochenlange teilnehmende
Beobachtungen fundiert (S. 280). Methodisch orientierte sich die
Verfasserin in Anlehnung an Witzel und Flick (2002) an der
Vorgehensweise, einen »vom Befragten selbst entwickelten
Erzählstrang zum Tragen kommen zu lassen« (S. 279). Der Leitfaden
ist sowohl in der englischen als auch der deutschen Version im
Anhang in Kapitel 14 abgedruckt, was bei qualitativ orientierten
Forschungsveröffentlichungen nicht immer selbstverständlich ist.
Dies verweist auf die Reliabilität ihrer Untersuchung.
Aus vielen Fragen zu der seit 1972 bestehenden Rainbow-Family »als
(scheinbar) unstrukturiertes, anarchisches und chaotisch anmutendes
Konstrukt« (S. 280) auf Zeit. Warum fühlen sich Menschen
unterschiedlicher Milieus zu diesen Treffen hingezogen, was schafft
während der Meetings eine kollektive Identität und was wird davon
mit in den Alltag genommen? – daraus entwickelte die Autorin die
zentrale Forschungsfrage: »Wie wird in der Rainbow Family
individuelle und kollektive Identität konstruiert und wie wirkt
sich die Teilidentität, ein Rainbower zu sein auf den Alltag der
Teilnehmer aus?« (S. 280).
Ausgewählt wurden die Befragten jeweils nach fünf bis sieben Tagen
Teilnehmender Beobachtung. Es ging darum, nach dem Prinzip des
theoretischen Samplings (Vgl.: Glaser & Strauss & Corbin) aus den
Gatherings mit wechselnden Teilnehmerzahlen – zwischen 1000 bis 20
000 – unterschiedliche Teilnehmer auszuwählen, »ältere und jüngere,
Neuankömmlinge und ›Elders‹, die Gründer der Rainbow Family von
1972, Angestellte, Selbständige, Unternehmer, Studenten,
Aussteiger, Teilzeit-Rainbower, Focalizer (Teilnehmer, die temporär
während der Treffen spezifische Organisationsaufgaben übernehmen),
aktive und passive Teilnehmer, Männer und Frauen, Singles,
alleinerziehende Mütter, Familienväter usw.« zu erfassen (S. 281).
Ein Unterfangen, das in der Breite schwierig einzulösen war. »Die
Interviewpartner kamen aus elf verschiedenen Ländern und waren
zwischen 23 und 65 Jahre alt« (S. 281). Allerdings wurde bei der
Auswertung die Methode der grounded- theory von Glaser und Strauss
als zu aufwändig empfunden und in Anlehnung an Jaeggi & Fass
(1998), die Methode der Zirkulären Dekonstruktion angewandt, die
folgende Schritte vorsieht: »Formulierung eine Mottos,
Nacherzählung, Stichwortliste, Themenkatalog, Pharaphrasierung und
das Extrahieren der zentralen Kategorien« (S. 299).
In den Interviews waren die am meisten genannten Themen
folgende:
• »Gemeinschaft, Family, emotionales Zuhause = ›emotional‹
• Kontakt, Nähe, Bezogenheit = ›sozial‹
• Körper, Leiblichkeit = ›körperlich‹
• Expressivität, spontaner Ausdruck, sich frei ausleben =
›produktorientiert‹
• Spiritualität = ›spirituell‹« (S. 309, im Original kursiv).
Die Rainbow-Family will den Teilnehmern während ihrer Treffen die
Vision einer harmonischen Stammesgemeinschaft vermitteln, in der
die babylonische, kapitalistische Wirklichkeit ausgeblendet wird
und authentische Erfahrungen gemacht werden können. Diese Bewegung
existiert seit über mehr als vier Jahrzehnten und will während der
Meetings ohne Regeln und Hierarchien auskommen.
Die Rainbow-Bewegung fußt auf Ideen und Vorstellungen der 1970er
Jahre, baut auf den psychodelischen Ideen von Timothy Leary, den
Landkommunen, und u.a. den psycho-kulturellen Anregungen der ›Human
Potential‹–Bewegung auf, bezieht sich also auf unterschiedliche
»ideologische Versatzstücke« – so Keupp, der »Doktorvater«, in dem
Vorwort zum Buch (S. 20).
Die Rainbow-Family rekrutiert sich überwiegend aus der weißen
Mittelschicht und der oberen Unterschicht. Die Tendenz zu dieser
»neotribalen Vergemeinschaftung« so Maffesoli (1996) ist eine Folge
der Entwicklung in der Postmoderne der westlichen Gesellschaften,
es treffen sich im Wesentlichen »Menschen mit alternativer
Lebenseinstellungen aus unterschiedlichen Berufen und bestimmten
sozialen Milieus« (S. 310).
Veiz stellt fest: »Die meisten Rainbow-Teilnehmer in Europa kommen
meiner Einschätzung nach aus der Mittelschicht und dem
Liberal-Intellektuellen und Sozialökologischen Milieu, einige aus
dem Hedonistischen und nur wenige aus dem Prekären Milieu.« Auf
»den US National Gatherings scheint es verhältnismäßig mehr
Teilnehmer aus dem Prekären Milieu zu geben als in Europa«
(S. 310). Die Treffen der Rainbow-Family sind von dem Prinzip
geleitet: »›no rules, no leaders, no hierarchies‹« (S. 314). Die
Rainbow Family schließt prinzipiell alle Menschen ein: »Everybody
is Rainbow.«
»Die Rainbow-Family will als alternative Kultur, Anarchie,
Führerlosigkeit, Regellosigkeit und die Gleichheit aller auf ihren
Gatherings praktizieren« (S. 317). Die Autorin klassifiziert die
Rainbow-Family »als Neue Soziale Bewegung (.), obwohl sie nicht
unbedingt in das Muster herkömmlicher, politischer, ökologischer
und identitärer neuer Bewegungen passt« (S. 491).
Die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Menschen, die sich auf den
nomadischen Treffen begegnen repräsentieren das vielfältige
Erscheinungsbild eines Regenbogens, daher der Name. »Die Rainbow
Family begreift sich seit 1972 als Gegenbewegung zur etablierten
westlichen, kapitalistischen und technologisierten Gesellschaft (…)
Die Rainbow Family versucht psychologisch gesehen, die Sehnsucht
derer zu erfüllen, die sich in der westlich geprägten Alltagswelt
anders, alternativ und der Counter Culture zugehörig fühlen«
(S. 491). So bieten die nomadisch zirkulierenden Gatherings eine
temporäre Heimat, eine Identifikationschance jenseits des
jeweiligen Lebensalltags in der Natur und erlebten Gemeinschaft.
Was Giddens als das reembedding beschreibt – als Rückbettung – aus
verloren gegangenen Gemeinschaftsbindung, gewinnt hier temporäre,
nomadische Heimat.
Offensichtlich können die Gatherings dem Einzelnen helfen, durch
die dort gemachten Erfahrungen von Selbstverantwortung und
Eigenengagement, sein Selbstwertgefühl im Sinne eines Gefühls von
Kohärenz zu stabilisieren und zu verstärken. Zugleich entwickelt
sich tendenziell so etwas wie kollektive Identität. Allerdings ist
diese Konstruktion »aber auch von Widersprüchen durchzogen. Nicht
jeder sucht oder erlebt dieselbe Art von Zugehörigkeit, nicht jeder
erfährt die Anerkennung in seiner Bezugsgruppe oder in seinem Camp
auf dem Gathering, die er erwartet.« (S. 499)
So idealisieren manche Teilnehmer Rainbow als ein Ort, an dem man
nach dem Lustprinzip leben kann und stellen dies dem »Babylon« in
der Außenwelt gegenüber.
Veiz fasst zusammen: »Was die Befragten am meisten bewegt und was
sie sich von der Rainbow-Family erwarten, ist eine harmonische und
friedliche Gemeinschaft, in der sie Annahme, Anerkennung,
Zugehörigkeit und eine natürliche Umgebung vorfinden.« (S. 505)
Diskussion
Hinter dem etwas sperrigen Titel verbirgt sich eine spannende
Studie zu einer spezifischen, fluiden Gemeinschaftsform. Die
Gründungsveranstaltung zu einem regelmäßigen Treffen von Menschen
in Frieden, Liebe und Brüderlichkeit fand während eines Festival in
Oregon im Jahre 1970 statt, nicht zuletzt beeinflusst durch Timothy
Leary, der »Hohepriester« der LSD-Szene. Es ging darum eine solide,
alternative Gemeinschaft zu begründen, eben die Rainbow-Family, als
Treffen aller Stämme (Tribes). Hinzu trat die Entfaltung eines
ökologischen Bewusstseins.
Das erste Rainbow-Treffen wurde im Sommer1972 von etwa 12 Personen
organisiert. Es kamen nach Colorado schon 20 000 Leute. »Seit
diesem ersten Gathering trifft sich die Rainbow-Family jedes Jahr
in einem anderen Staat der USA« (S. 81). Ab 1983 gibt es jedes Jahr
regelmäßige Treffen im Sommer in Europa. Teilnehmer sind in den USA
jeweils ca. 20 000 in Europa ca. 1500–3000 Menschen. Außerdem hat
sich die Rainbow-Family »auf fast alle Kontinente der Welt
ausgebreitet« (S. 83).
Die Autorin entwirft in ihrer Publikation ein buntes, informatives
Bild zu dieser Gemeinschaftsform. In der heutigen Gesellschaft, wie
auch immer apostrophiert, gewinnen temporäre
Vergesellschaftungsformen an Bedeutung, die dem Einzelnen in einem
Meer der Unsicherheit, Orientierung und Halt bieten wollen. Hier in
der Rainbow-Family, die durchaus auch unter staatlicher,
polizeilicher Beobachtung steht, vor allem in den USA, geht es aber
nicht um Gemeinschaftsziele, die Gewalt und Zerstörung beinhalten,
sei es in einer spezifischen Fankultur oder bei
Auseinandersetzungen wie jüngst in Hamburg. Es geht gerade um die
Herstellung eines (vermeintlich) verloren gegangenen
Gemeinschaftsgefühls im Prozess sich ausbreitender und wandelnder
industrieller Produktion, Exklusion und Vereinzelung der Menschen,
gesellschaftlicher Polarisierung und Unsicherheit – wie in der
heutigen Soziologie hinlänglich von Bauman, Giddens, Castel, Rosa,
Beck u.a. beschrieben. Vielleicht hätte dies noch deutlicher
herausgearbeitet werden können. Hier sind die Verweise relativ
knapp (vgl. 491 f.).
Die Rückgewinnung von Gemeinschaft in einer atomisierten Welt
voller Risiken und Gefährdungen erscheint in der Rainbow-Family
zeitweise möglich.
Allerdings wäre zu fragen, ob in der jetzigen
Gesellschaftsformation neben den Exklusionsmechanismen nicht nach
wie vor Bindungsstrukturen vorhanden sind, als Kitt innerhalb der
Gesellschaft. Der Blick auf Ehrenamt, Vereinstätigkeit,
Hilfsaktionen, Freizeitverhaltensweisen zeigt einerseits die
Brüchigkeit vorhandener gesellschaftlicher Strukturen auf, belegt
aber ebenfalls das nach wie vor hohe sozial-gesellschaftliche
Engagement des Einzelnen. Dies hat sich tendenziell gewandelt, auch
hier gewinnen zeitlich eingegrenzte Aktivitäten an Bedeutung, doch
ist vielfältiges soziales Engagement nach wie vor erkennbar. So
gesehen ist die Rainbow-Family ein Entwurf zur temporären,
gemeinschaftsorientierten Umgestaltung eines zeitlich eingegrenzten
Lebensabschnitts, allerdings nur einer unter anderen
existierenden.
Der Autorin gelingt es aber in überzeugender Weise, die
»Gatherings« plastisch darzustellen, das Leben der Rainbow-Family
anhand der Interviews und durch die eigene teilnehmende Beobachtung
vielfältig nachzuzeichnen. Hervorzuheben ist die analytische
Präzision, mit der diese Feldstudie konzipiert und im Sinne
qualitativer Forschung durchgeführt wurde. Veiz dokumentiert
ausführlich das Forschungsdesign, die Durchführung der
leitfadengestützten Interviews und die Ergebnisse der Gespräche mit
den Teilnehmer/innen der Gatherings. Zugleich gelingt es ihr, das
Verhältnis von Nähe und Distanz zu den Interviewten und der eigenen
Involviertheit in die Gatherings und ihrer Rolle als
Sozialforscherin auszubalancieren.
Fazit
Wer das Buch liest, erhält einen umfassenden, klar geschriebenen,
tiefgehenden Einblick in die Geschichte, Gegenwart und
unterschiedlichen Zielsetzungen, aber auch Probleme und Grenzen
dieser »sozialen Bewegung«: die der Rainbow-Family. Ein Beispiel
für gelungene Feldforschung!
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