Rezension zu Schwule Sichtbarkeit - schwule Identität (PDF-E-Book)

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Rezension von Inga Marie List

Thema

In »Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität« wird die Entstehungsgeschichte des sozialen Konstrukts »Homosexualität« nachgezeichnet und dabei vermittelt, wie die Schwulenbewegung von Beginn an Teil eines westlichen Herrschaftsdiskurses sind und deswegen nicht rein emanzipatorisch gelesen werden kann. Das Buch ist damit Aufforderung zu einer intersektionalen Praxis, wobei die Anerkennung sozialer Identitäten dafür selbst in Frage gestellt werden.

HerausgeberInnen

Zülfukar Çetin lehrt an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin im Bereich Soziale Arbeit und beschäftigt sich u.a. mit der Queer-Bewegung in der Türkei und zivilgesellschaftlichem Widerstand.

Heinz-Jürgen Voß ist Juniorprofessor an der Hochschule Merseburg für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung und leitet dort das Forschungsprojekt »Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Traumatisierung«.

Das Buch ist außerdem in enger Zusammenarbeit mit Salih Alexander Wolter entstanden (vgl. S. 31 f.), der sich gegen Rassismus engagiert und ebenfalls über linke Queer-Politik und Anti-Rassismus schreibt.

Entstehungshintergrund

Die Autoren verweisen auf die aktuellen rechtspopulistischen Entwicklungen in Deutschland als Hintergrund für ihr Bemühen, diesen Band herauszubringen, der als »klare Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen Anregungen für zukünftiges emanzipatorisches politisches Streiten« (S. 129) geben soll. Das Buch sollte deswegen als politische Stellungnahme verstanden werden, deren normativer Anspruch von vornherein offengelegt wird.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in vier unabhängige Abschnitte, von denen die beiden Hauptkapitel (2 und 3) auf überarbeiteten Fassungen bereits veröffentlichter Zeitschriftenartikel basieren.

In dem inhaltlich dichten Eingangskapitel »Homosexualität und die Anderen« wird die Kernthese des Bandes vorgestellt: Mit der Diskursfigur des »Homosexuellen« werde seit seiner Begründung in den 1860er Jahren »westliche Hegemonie weltweit durchgesetzt« (S. 9). Die Autoren führen dafür in zwei ineinander verschränkte Aspekte ein, die aus ihrer Sicht schwule Identität in Deutschland heute bestimmt, nämlich die Entstehungsgeschichte der Homosexualität als soziales Konstrukt und deren Verbindung mit dem sogenannten Homonationalismus. Diese werden in den beiden folgenden Kapiteln weiter vertieft.

Das Kapitel schließt mit einer theoretisch fundierten Auseinandersetzung, inwieweit Sichtbarkeit und Anerkennung als notwendige Bedingungen gesellschaftlichen Empowerments verstanden oder gar damit gleichgestellt werden sollten. Mit Verweis auf die Arbeit des italienischen Soziologen Andrea Mubi Brighenti treten sie für eine differenzierte Betrachtung der beiden Begriffe ein: Anerkennung bedeute auch (staatliche) Kontrolle – so wie der Knecht von seinem Herrn als solcher »anerkannt« werde – und Sichtbarkeit könne zu einer lähmenden »Suprasichtbarkeit« einer Gruppe in einer Gesellschaft führen – so wie heutzutage die Identität als geflohene Person (vgl. S. 22 ff.). Das Verhaften an einer Kategorisierung wie »Homosexualität« ist vor diesem Hintergrund nach Ansicht der Autoren durchaus zu hinterfragen.

Anschließend beschreibt Heinz-Jürgen Voß in »Prozessdenken und Homosexualität im Kontext von Naturwissenschaft und Pädagogik« wissenschaftstheoretisch die soziale Konstruktion von Homosexualität seit ihrer Entstehung in den 1860er Jahren und zeigt auf, wie damit Menschen in ihrer (sexuellen) Selbstbestimmung eingeschränkt werden.

Mit Rückgriff auf Alfred North Whitehead und Hannah Arendt betont der Autor das prozesshafte Verstehen in den (Natur-)Wissenschaften, dass beobachtete Dinge nicht einfach da sind, sondern durch das Wahrnehmen und die Interpretation durch den Menschen erst entstehen. Diese Betrachtung stehe dem statischen Verständnis von Geschlecht und sexueller Orientierung in Populärdiskursen diametral gegenüber.

Anschließend rekurriert Voß die Entstehungsgeschichte der sozialen Konstruktion »Homosexualität«: Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Problematisierung und der Strafverfolgung gleichgeschlechtlicher Kontakte versuchte Magnus Hirschfeld – einer der Begründer des Instituts für Sexualwissenschaft und zentrale Figur der Schwulenbewegung – Homosexualität auf einen »inneren Trieb« oder »Wesenskern« zurückzuführen.

Dieses bis heute geltende Verständnis von sexueller Orientierung habe auch pädagogische Implikationen, wie der Autor abschließend anhand des Coming Outs erläutert. Wenn das Drängen auf eine feste Identifikation bestehe, sieht Voß darin eine Einschränkung der Möglichkeitsräume sexueller Selbstbestimmung und plädiert deswegen für eine Pädagogik der Freiräume ohne Druck von Labels.

Im dritten, diskursanalytischen Kapitel »Homo- und queerpolitische Dynamiken und Gentrifizierungsprozesse in Berlin« kritisiert Zülfukar Çetin eindringlich den sogenannten Homonationalismus und wie zwei konstruierte Minderheiten – die der Homosexuellen und die der Muslim_innen – gegeneinanderlaufen.

Çetin greift dafür auf Birgit Rommelspachers Begriff der »Dominanzkultur« zurück, mit dem sie den Emanzipationsdiskurs des weißen Feminismus, also der neo-kolonialen Konstruktion unterdrückter nicht-weißer Frauen im Vergleich zu emanzipierten, freien weiß-europäischen Frauen, analysiert. Er wendet diesen Begriff auf das von Jasbir Puar geprägte und später von Jon Haritaworn auf Deutschland übertragene Konzept des »Homonationalismus« an, mit dem »neben dem Terrorismus auch auf den Gebieten Geschlecht und Sexualität islamophobe Kämpfe aus(ge)tragen« werden (S. 89). Hierbei werden Bilder eines »aufgeklärten«, homofreundlichen Westen und eines homophoben, rückständigen »Südens« – speziell dem sogenannten »Orient« – gezeichnet werden.

Çetin untermauert diese These, indem er die Argumentationsmuster des homonationalistischen Mediendiskurses anhand prominenter Beispiele des Lehrers und Autors Daniel Krause und des taz-Journalisten Jan Feddersen auseinanderlegt. Er zeigt anschließend, wie sich dieser Homonationalismus nicht auf die Medienwelt beschränkt, sondern sich mit Staat, Wissenschaft und Zivilgesellschaft verzahnt: Ob nun in wissenschaftlichen Studien, die (männliche, muslimische) Migranten als Verursacher sozialer Probleme konstruieren, allem voran einer vermeintlich homophoben Grundhaltung, oder die Folgen der Gentrifizierung in Berlin – es werde ein Gegeneinander des aufgeklärten »Wir« und des rückständigen »Sie« konstruiert, das zu einer Hierarchisierung von Diskriminierung führe. Dabei gehen, so zeigt Çetin in diesem Kapitel, Politik, Polizei und Zivilgesellschaft Hand in Hand.

Im »Abschluss« schließlich bringen die beiden Autoren diese Punkte wieder zusammen, um im Rückgriff auf ihre Kernthese festzustellen, dass »die Schaffung und Schärfung klarer Identitäten zentraler Bestandteil des Problems ist – und nicht Teil der Lösung« (S. 132 f.). Der vermeintliche Befreiungscharakter der Schwulenbewegung schränke einerseits die Möglichkeitsräume der situativen Selbstbestimmung von Menschen ein und sei andererseits stets beteiligt an der Abgrenzung und Hierarchisierung von »Anderen«. Die Autoren mahnen vor der Kulisse des aktuellen Rechtsrucks, dass starre Identifikationen, die der gesellschaftlichen und staatlichen Anerkennung dienen sollen, durch ihren Kontrollcharakter immer auch politisch gegen die so Sichtbar-Gemachten verwandt werden können, wenn sich die parteipolitischen Mehrheiten wieder verschieben. Sie schließen deswegen mit einem Plädoyer für ein Aufheben der »Einteilung in Mehrheit und Minderheit« (S. 134) und ein Aufgeben festgefahrener Identitätskonzepte.

Diskussion

Mit »Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität« legen Çetin und Voß einen inhaltlich sehr dichten und komprimierten Band vor, in dem auf vergleichsweise wenigen Seiten viele Informationen und Perspektiven untergebracht werden. Alle drei Hauptkapitel verknüpfen dabei interessante theoretische Sichtweisen mit gut fundierten, logischen Argumentationsketten, die wiederum mit vielen Beispielen bestückt sind. Aufgrund dieser Komplexität geht meines Erachtens an manchen Stellen der rote Faden verloren: Die einzelnen Aspekte (wie Sichtbarkeit, die soziale Konstruktion von Homosexualität und Homonationalismus) wiederholen sich; mit einer sorgfältigen Gliederung und womöglich einem einheitlichen Text anstelle unabhängiger Kapitel hätten die einzelnen Argumentationslinien besser verknüpft werden können. Das ist schade, weil damit Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit nicht immer gesichert sind.

Was das Buch aber tatsächlich erreicht und das mehrmals betonte Ziel der Autoren ist, dass es zum Streiten und Diskutieren einlädt. Zu klären wäre beispielsweise, inwieweit sie mit ihrer fundamentalen Kritik an schwuler Identität nicht lediglich eine Neuauflage der als depolitisierend bezeichneten Terminologie »Männer, die Sex mit Männern haben« (MSM) fordern (zur Kritik an MSM siehe Young & Meyer 2005). Neugierig bin ich auch, auf welcher Basis Voß argumentiert, dass in (sexual-)pädagogischen Settings es (weiterhin) einen Druck zum Coming Out und einer festen Markierung sexueller und geschlechtlicher Identität gebe (vgl. S. 79 ff.). Denn sexuelle Identität wird zunehmend als fluide angesehen (u.a. Callis 2016; Coleman-Fountain 2014; Sielert 2015: 86 ff.) – übrigens auch von konservativer Seite und mit der zu erwartenden Agenda, Jugendliche zur Heterosexualität zu »ermutigen« (z.B. Whitehead/Whitehead (o.J.) für das Deutsche Institut für Jugend und Gesellschaft). Nicht nur die Annahme von Identitätskonzepten (vgl. S. 132 ff.) sondern auch deren Ablehnung kann also politisch von allen Seiten genutzt werden.

Fazit

Mit »Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität« machen Çetin und Voß deutlich, wie das Konstrukt »Homosexualität« und die Schwulenbewegung von Beginn an Teil eines westlichen Herrschaftsdiskurses sind und nicht rein emanzipatorisch gelesen werden können. Inhaltlich dicht mit einer Fülle von Beispielen und theoretisch fundiert plädieren die Autoren dafür, starre Identitätskonzepte aufzugeben. Das Buch ist damit Aufforderung zu einer intersektionalen Praxis, stellt jedoch Anerkennung sozialer Identitäten dafür selbst in Frage. Das Ziel der Autoren, mit dem Band zum Streiten und Diskutieren einzuladen, erreichen sie allemal.

Zitierte Literatur

• Callis, April (2016): Beyond bi. Sexual fluidity, identity, and the post-bisexual revolution. In: Nancy L. Fischer / Steven Seidman: Introducing the New Sexuality Studies. London: Routledge, S. 215-224.

• Coleman-Fountain, Edmund (2014): Lesbian and gay youth and the question of labels. In: Sexualities 17 (7), S. 80-817.

• Sielert, Uwe (Hg.) (2015): Einführung in die Sexualpädagogik. 2. erweiterte und aktualisierte Aufl. Weinheim: Beltz.

• Whitehead, Briar / Whitehead Nial (o.J.): Adoleszenz und sexuelle Orientierung. In: www.dijg.de (zuletzt aufgerufen am 11.09.2017).

• Young, Rebecca M. / Meyer, Ilan H. (2005): The trouble with »MSM« and »WSW«. Erasure of the sexual-minority person in public health discourse. In: American Journal of Public Health 95 (7), S. 1144-1149.

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