Rezension zu Sexualität von Männern
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Rezension von Rüdiger Lautmann
Entstehungshintergrund
Der von einer privaten Stiftung herausgegebene dritte
Männergesundheitsbericht ist ein an der Hochschule Merseburg
organisierter und thematisch systematisierter Sammelband mit 31
Beiträgen, die von 40 Fachleuten geschrieben sind und den neuesten
Wissensstand wiedergeben.
Thema
Mit dem Konzept ›Männergesundheit‹ wird ein andermal das Ende der
alten Gleichung besiegelt, wonach Mensch=Mann war. Der Mann dient
nicht länger als Maß aller Dinge, sondern er ist jetzt eine Spezies
unter mehreren. Entgegen der Egalitätsrhetorik tritt nun aber eine
Differenz hervor, und die begründet sich sogar essentiell aus der
physiologischen Binarität. Vielleicht verdankt sich die
Forschungsrichtung den seit langem stabilen Befunden, dass Männer
sich weit weniger um ihre Gesunderhaltung kümmern, als Frauen dies
tun. Und der anscheinend überall gegebenen geringeren
Lebenserwartung der Männer, gemessen an der Zahl der Jahre vor dem
Tode.
Aufbau
Das umfangreiche Themenmaterial wird in fünf Sachkapiteln
geordnet:
1. zwei Überblicke zu Anfang,
2. zehn Artikel zum Ablauf der Lebensphasen,
3. sieben Artikel zu den diversen Ausformungen der
Männlichkeiten,
4. sechs Artikel zu den sexualmedizinischen Aspekten und
schließlich
5. sechs Artikel über Grenzverletzungen.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet auf ihrer Homepage das
ausführliche Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Martin Dinges zeigt die Abfolge von fünf historischen Phasen seit
1933 mit stark divergierenden Sexualkulturen, ein Auf und Ab der
Problematisierung wechselnder Teilbereiche sexuellen Handelns. Das
bedeutet zugleich eine Warnung, die aktuellen Verhältnisse für
festgemauert anzusehen. Die nächste Phase kommt bestimmt. Die
bemerkenswerten Wandlungen werden hier meist auf interne
Entwicklungen des Sexualsektors zurückgeführt (wie Sexualdiskurse,
Pille, Strafbarkeiten). Da besteht noch Bedarf für eine
sozialhistorische Erklärung.
Die Sexualität eines Geschlechts im Deutungsrahmen Gesundheit zu
durchleuchten beugt sich dem Gründungsmuster der Sexualwissenschaft
– von Pathologie, Perversion und Sinnverfehlung her daranzugehen.
Da hilft es auch nicht, die ›positiven Potenziale‹
dagegenzustellen, denn es bleibt eine Dualität je nach Licht und
Schatten. Eine aufs ›Positive‹ bzw. ›Nichtnegative‹ zielender Fokus
würde die interaktiven Aspekte stärker betonen. Nicola Döring wägt
die beiden Wertungsseiten gegeneinander ab und setzt die negativen
und positiven Aspekte zueinander in Beziehung (S. 41–47). Überhaupt
sind bei ihr ein orientierender Problemaufriss und eine aktuelle
Literaturübersicht zu finden; beides überaus informativ. Als
bestimmende Trends werden benannt: Liberalisierung und
Individualisierung, Kommerzialisierung, Medikalisierung,
Digitalisierung (S. 47–52).
Döring entdeckt als interessantes neues Negativsymptom die
›Sexuelle Verunsicherung‹. Zwar wird der Sachverhalt noch unklar
beschrieben, aber die Faktoren werden bereits benannt:
»unrealistische und widersprüchliche Männlichkeitsideale« (S. 61).
Offenbar stellt die sexuelle Verunsicherung den unmittelbaren
Niederschlag der Diskussion und Veränderung von überkommenen
Geschlechterarrangements dar. Allein die Tatsache, dass die
Selbstverständlichkeit von ›doing masculinity‹ infrage gestellt
wird, irritiert die Akteure. Nur, wann je in der Neuzeit war
Männlichkeit außerhalb eines Diskurses, frei von Ambivalenz,
unangefochten vonseiten der Frauen? Zum Teil gründet die
Plausibilität der Unsicherheitsfigur darin, dass überhaupt über das
Geschlechterverhältnis nachgedacht wird, sodass mehr über das
Männerverhalten nachgedacht wird. Wir ›wissen‹ heute besser
Bescheid über die Vielfalt von sexuellen Biographien und
Handlungsstilen. Ein Teil dieser Erkenntnisse wird dann als
Verunsicherung etikettiert.
Die Fachliteratur betrachte als »zentrale Problemfelder
zeitgenössischer männlicher Sexualität (…) vor allem sexuelle
Gewalt, sexuelle Funktionsstörungen und sexuell übertragbare
Infektionen«, meint Döring (S. 53). Auf positive Aspekte richte
sich nur jede 15. Publikation. Als Reflex auf die
problemorientierte Thematisierung entstand eine Forschungsrichtung
›Positive Sexualität‹, sogar mit entsprechender Fachzeitschrift.
Angesichts des objektiv feststellbaren und kaum
wegzukonstruierenden Sinnes sexueller Betätigung scheint eine
Forschung zur ›positiven Sexualität‹ ebenso merkwürdig wie
nachvollziehbar angesichts heutiger Entwertungen.
Die Sexualforschung frönt seit Jahrzehnten einem gewissen
Aktualismus; behauptet wird, alles ändere sich ständig, erzeuge
neue Formen, revolutioniere sich gar. Auch dieses Buch bleibt davon
an den Stellen nicht verschont, wo die Dramatik von Wandlungen in
den Vordergrund gestellt wird. Als wäre Sexualität nur das, was in
demoskopieähnlichen Erhebungen (so rar diese auch sind)
hervortritt: Internetnutzung, Risiken, angefochtene (›hegemoniale‹)
Männlichkeit, Konsensbrüche u.a.
Heinz-Jürgen Voß und Doris Bardehle, beide vom Herausgeberteam,
stellen die Begrifflichkeit der sexuellen Gesundheit dar und zeigen
die zerklüftete Landschaft sexologischer Verbände hierzulande.
Besonders lebendig sind die Entwicklungen des Gesundheitskonzepts,
in dem sich die als ›positiv‹ und ›negativ‹ angesehenen Aspekte
bündeln. Bereits dadurch wird ein gewisser Normativismus in die
Untersuchung der Männersexualität eingebaut. Denn ein wertfreier
Gesundheitsbegriff ist kaum aufzufinden. Kriterien wie
»Wohlergehen« und »Fehlen von Krankheit« (S. 79 f.) zeigen das. Die
Sexualwissenschaft aus der überkommenen Medikalität und Moralität
zu lösen bleibt eine Aufgabe.
Andererseits taugt das Gesundheitskonzept als Brücke zur
Sexualpolitik. Durch internationale Organisationen wird es seit der
letzten Jahrhundertwende kontinuierlich ausgestaltet, wobei der
Inhalt ständig zunimmt; vor allem viktimologische Bezüge treten
hinzu. Der ursprünglich enge Konnex mit der reproduktiven
Gesundheit hingegen hat sich gelockert (S. 81). Diese
institutionellen Aktivitäten erlauben es immer mehr, die staatliche
Politik anzusprechen und einzubinden. Die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung scheint zur wichtigsten Sponsorin und
damit Auftraggeberin der Sexualforschung geworden zu sein.
Individuell wird die Basis sexueller Gesundheit bereits in Kindheit
in Jugend geschaffen, wie Neubauer ausführt. Für aktuelle Aussagen
zur sexuellen Gesundheit hat Neubauer eigens für seinen Aufsatz
zwölf Experten befragt, Erwachsene natürlich (S. 99–101).
Deutlicher lässt sich das Forschungsdefizit wohl nicht aufweisen,
zumal die Befragten sich schwertaten, Auskünfte zum Thema zu geben.
So verdienstvoll das also ist – explorative Skizzen können ein
derart gewichtiges Thema nicht erschöpfen.
Das Thema der Vorhautbeschneidung hat jüngst an Aktualität
gewonnen. Voß widmet ihm einen eigenen Eintrag. Auch Neubauer
diskutiert die Frage nach dem Erlaubtsein (S. 101–104). Hier gibt
es Debatten, die sich auf Religion, Gesundheit und sexuelles
Erleben beziehen. Die zahlreichen Streitpunkte sind nur teilweise
empirisch entscheidbar, und Voß muss sich verschiedentlich auf das
ausführliche Zitieren der streitigen Positionen zurückziehen
(S. 114–116). Überhaupt unlösbar ist das Dilemma, einem sehr jungen
Mann die Vorhaut zu nehmen, ohne dass er einwilligen könnte. Hier
regiert noch das Elternrecht, das bei anderen Genitaloperationen
heute eingeschränkt wird.
Mir klaren Worten stellt Winter fest, dass Sexualität für männliche
Jugendliche (12+) ein den Alltag bestimmendes Thema und »einen
entscheidenden Aspekt ihrer Gesundheit darstellt« (S. 127).
Diskurse und Forschungen tragen dem kaum Rechnung. Auf dem
Hintergrund einer kleinen Befragung werden die Dimensionen einer
positiven Entwicklung bei Jungen skizziert; hieraus resultiert ein
umfangreicher Katalog (S. 137–141).
Dass schwul werdende Jungen alles anders als die anderen erleben,
versteht sich von selbst. Tatsächlich verzögert sich ihre
Persönlichkeitsentwicklung, zumal die Umwelt ihnen ein negatives
Selbstbild aufzwingt (Timmermanns, S. 143–154). Ob die empfohlene
menschenfreundliche Sexualpädagogik gegen die massiven, objektiv
bestehenden und verharrenden Verhältnisse ankommen kann?
Das mittlere Lebensalter – die Jungerwachsenen werden in dem Buch
noch zur ›Jugend‹ gerechnet – behandelt Starke anhand der ihm
umfänglich zur Verfügung stehenden Umfragedaten. Interessanterweise
verringert sich neuerdings das Gewicht, welches die erwachsenen
Männer dem Sexuellen beimessen (S. 169). Für ihr eigenes Leben
beziehen sie vielfachen Nutzen aus sexueller Betätigung, in erster
Linie die Intimität mit einer geliebten Person (S. 171). Der
Artikel von Starke ist besonders aussagekräftig, weil er viele der
sich zur männlichen Sexualpraxis stellenden Fragen konkret
beantwortet und weil er für eine Reihe herbeigeredeter Probleme
begründete Entwarnung gibt.
Der Sexualität behinderter Männer gelten dankenswerterweise zwei
eigene Artikel (Sierck sowie Katzer/Klotz/Bardehle). Betont wird
hier zu Recht, dass das Erscheinen von Sexualität nicht auf den
Geschlechtsverkehr beschränkt werden darf (S. 183, 197 f.). Für
alte Menschen erörtert Seikowski die bei sexueller Unzufriedenheit
angezeigten Interventionsmöglichkeiten (S. 203–206).
Die zweite Hälfte des Bandes widmet sich – nach den grundlegenden
Stichworten zur Systematik des Feldes – den zahlreichen
Spezialthemen, die sich an die Sexualgesundheit der in Deutschland
lebenden Männer knüpfen. Da ist die Situation der Geflüchteten und
Zugewanderten (Hashemi/Linke/Voß), deren Entzugssituation sich nur
im Rahmen ihrer Gesamtsituation bessern lässt.
Gesundheitsbeeinträchtigungen bestehen für die Bisexuellen
(Stumpe), Transmänner (Sauer/Güldenring) und Intersexuellen
(Schweizer). Der Artikel zu BDSM, vulgo Sadomasochismus, dürfte
allerdings weder unter Gender- noch unter
Gesundheitsgesichtspunkten zu den übrigen Texten dieses Buchs
passen, handelt es sich doch ›nur‹ um eine Sexualform neben den
vielen anderen. Dies gilt wohl auch für den Artikel zu den
Sexspielzeugen. Ja, das gibt es alles, und es braucht sich niemand
aufzuregen.
In einem klinischen Kapitel stehen sechs Artikel, die sich mit den
organischen Grundlagen der Mannessexualität, den auftretenden
Dysfunktionen und drohenden Infektionen beschäftigen (S. 291–347).
Wie das viele faszinierende Konzept der Intersektionalität
(Kreuzung von Problemlinien) sich auf chronifizierte Krankheiten
anwenden lässt, wird von Ahmad/Langer angedeutet.
Im fünften Kapitel geht es um die Dimension Gewalt (S. 349–423).
Hier tauchen nun gezielt die lang erwarteten Aspekte auf, wie sie
üblicherweise mit der männlichen Sexualität verbunden werden. Ein
Heranwachsen mit Gewalterfahrung (Andresen), sexualisierte
Gewalthandlungen unter Jugendlichen (Tuider sowie Kettritz), die
sexuelle Kindesmisshandlung (eine neuropsychologische
Forschergruppe), die Sexualstraftäter (Stöver) und Knastsexualität
(Borchert) modellieren den Mann als das gefährliche Wesen, das
einige der vorangegangenen Artikel verabschieden wollten. Beide
Wahrheiten werden heute nebeneinander vertreten.
Diskussion
Eine Darstellung der Männersexualität lässt sich auf verschiedene
Weise angehen: von den Sexualformen her (angefangen bei der
Selbstbefriedigung) oder aber, wie in diesem Handbuch, von den
Lebensphasen und Problemfeldern her. Die Entscheidung für den
zweiten Weg signalisiert ein Grundbefinden: Männersexualität steht
unter kritischer Beobachtung; ein Parallelband zur Frauensexualität
würde wohl kaum so aufgebaut werden – falls es ihn überhaupt gäbe.
Ein gerüttelt Maß an Unzufriedenheit mit ›dem‹ Mann ist hier von
Anfang an vorhanden. Der Fokus auf Männer hat indessen seinen
Preis. Das Sexuelle kommt so nur schwer als etwas Relationales,
Soziales, Interaktives in den Blick. Es gilt als Bürde der einen
Menschheitshälfte; die andere Hälfte kassiert den Lustgewinn.
In der Folge des problematisierenden Zugriffs werden die Extreme
aus der statistischen ›Normalkurve‹ bevorzugt erforscht: einerseits
das verminderte sexuelle Verlangen bei (einigen) Männern,
andererseits das übersteigerte Verlangen bei (einigen) anderen
Männern. Der Mittelteil der Glockenkurve wird dann vernachlässigt,
sodass der Durchschnittsmann sich heute gedrängt sieht, das eigene
Verlangen als entweder Zuviel oder zu wenig einzuordnen – nur
›richtig‹ liegt er dann nie, und beruhigt kann er auch nicht sein.
Ein für Laien naheliegender Fehlschluss – individuell wie kollektiv
– lautet: Die männliche Sexualität an sich sei das Problem. Vor
allzu männerkritischen Diskursen wird in dem Band verschiedentlich
gewarnt, z.B. von Neubauer bezüglich von Jungen (S. 95). Inwieweit
das sexuelle Feld nicht vielleicht einen generell maskulinen
Charakter trägt, das wird in dem Band nicht diskutiert, was bei dem
betont gendertheoretischen Blick der Sexualforschung
verwundert.
Bei etlichen Beiträgen stellt sich die Frage, wie sich Diskurse und
Praxis zueinander verhalten, also das Reden und Denken über das
Sexuelle versus das sexuelle Handeln selbst. Das ist eine
Konsequenz jüngerer Entwicklungen der Sexual- und Gendertheorien.
In dem Band herrscht ein starkes Übergewicht der Diskursberichte.
Offenbar besteht hierzu ein gewisser Überfluss an vorhandenem
Material, während zum sexuellen Handeln selbst die Informationen
spärlich fließen. Problemfelder scheinen wichtiger zu sein als die
›eigentliche‹ Sexualität. Nicola Döring bemerkt zutreffend, »dass
männliche Sexualität in ›öffentlichen Diskursen‹ oft dämonisierend
oder glorifizierend, zumindest aber stereotypisiert dargestellt
wird« (S. 39, Hervorhebung i.O.).
Dieser aufwendig produzierte Band zeigt unvermeidlich die Schwächen
der deutschen Sexualforschung: einerseits recht viel Normatives
anhand von Daten aus Strafakten, andererseits wenig Grundlagen- und
Feldforschung. Zutreffend wird die Lückenhaftigkeit der
Erkenntnislage verschiedentlich erwähnt (z.B. S. 37, 39, 94).
Darüber täuscht die beeindruckende Fülle zitierter Literatur etwas
hinweg, wenn die Resultate aus dem angloamerikanischen Kulturraum
umstandslos als aussagekräftig herangezogen werden.
Alle diese Anmerkungen betreffen die vorhandene Forschungslage, die
ein ›Bericht‹ eben auch bloß konstatieren kann; sie treffen also
keineswegs die Qualität des besprochenen Buchs. Denn der Band trägt
Handbuchcharakter und erfüllt die anspruchsvollen Kriterien dieses
Formats vollauf. Die Themen der Artikel sind passend ausgewählt,
sodass das Feld vollständig abgedeckt wird und Überschneidungen auf
ein Minimum beschränkt bleiben. Die Beiträge stammen von
kompetenten Vertreter*innen des Fachs; die hier zu erwartenden
Namen tauchen tatsächlich auf. Die Texte sind gut lesbar und ohne
Redundanz geschrieben. Probleme werden benannt, Handreichungen für
die Praxis angeboten. Jeder Artikel verfügt über eine
Zusammenfassung in Deutsch und Englisch. Das Sachregister verweist
(leider nur) auf die Artikel, nicht auf Seiten. Beeindruckend ist
die Fülle verwerteter Literatur.
Fazit
Das Buch bietet eine umfassende Sammlung der Themen und
vorliegenden Erkenntnisse zum Sexualverhalten insbesondere der
Männer. In dieser Vollständigkeit geschieht das erstmals. Der Band
versammelt sowohl die sachlichen Informationen als auch die
kritischen Fragen. Er eignet sich als Ausgangspunkt, um
Forschungsfragen zu entwickeln, ferner auch für die Lehre im
Bereich der Sozialen Arbeit, der Sexualpädagogik und Public Health.
Sogar die an Aufregern so interessierte Journalistik könnte sich
hier Anstöße holen, um dem Publikum eine wirklichkeitsorientierte
Aufklärung zu vermitteln.
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