Rezension zu Religion(en) im 21. Jahrhundert (PDF-E-Book)
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Rezension von Gertrud Hardtmann
Thema
Das Verhältnis von Religion und Gesellschaft, Religion und Gewalt
wird unter gesellschaftspolitischer, theologischer und
islamwissenschaftlicher Perspektive untersucht.
Herausgeber
Dr. theol. Siegfried Karl promovierte über Anselm von Canterbury
und ist seit 2006 Hochschulseelsorger der Katholischen
Hochschulgemeinde und seit 2011 Dozent für systematische Theologie
an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Hans-Georg Burger studierte Publizistik, Geschichte und Judaistik
und war ab 1972 Pressereferent an der Universität Gießen, seit
1979–2009 Pressereferent und später Geschäftsführer des
Servicebereichs Information bei der Deutschen
Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) und ist publizistisch und
beratend tätig in Sachen Ethik, Ökumene, Wirtschaft und
Gesellschaft.
Autorinnen und Autoren
• Dirk Ansorge ist Professor für Dogmatik und Proreaktor der
philosophisch-theologischen Hochschule Sankt Georgen/Frankfurt
M.
• Bernd Apel ist Pfarrer für Ökumene der Evangelischen Kirche und
Mit-Initiator seit 2006 des »Rates der Religionen im Kreis
Gießen«.
• Friedrich Wilhelm Graf ist emeritierter Professor für
(evangelische) Systematische Theologie und Ethik an der Universität
München.
• Michael Hochschild ist nach dem Studium von Soziologie, Pädagogik
und Theologie Forschungsdirektor und Professor für postmodernes
Denken am Time-Lab Paris/Institut de´études et de recherches
postmodernes.
• Bettina Jarasch arbeitet nach dem Studium der Philosophie,
Politik und Germanistik als Redakteurin.
• Norbert Lammert, Dr. der Sozialwissenschaften und
Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft der Universität Bochum,
ist seit 2005 Präsident des Deutschen Bundestages.
• Sigrid Monnheimer ist nach dem Studium in praktischer Theologie
Hochschulseelsorgerin und Sozialberaterin der Katholischen
Hochschulgemeinde Gießen.
• Franz-Josef Overbeck ist seit 2009 Bischof von Essen und seit
2011 Militärbischof der Bundeswehr.
• Der Privatdozent Thomas Petersen ist nach dem Studium der
Publizistik, Alten Geschichte, sowie Vor- und Frühgeschichte seit
1999 Projektleiter am Institut für Demoskopie in Allensbach und hat
Lehraufträge in Konstanz, Dresden und Mainz wahrgenommen.
• Dr. Diaa Rashid ist Vorsitzende der Islamischen Gemeinde Gießen
und seit 2014 Generalsekretär der islamischen
Religionsgemeinschaften In Hessen.
• Sarah Larissa Schneemann ist Philosophie-Studentin und Mitglied
der Katholischen Hochschulgemeinde Gießen.
• Prof. Susanne Schröter ist Direktorin des Frankfurter
Forschungszentrums Globaler Islam an der Universität
Frankfurt/M.
• Yasar Sarikaya hat seit 2013 eine Professur für islamische
Theologie und Didaktik an der Universität Gießen.
• Wolfgang Thierse war nach dem Studium von Kulturtheorie/Ästhetik
an der Humboldt-Universität in Berlin als SPD-Abgeordneter
1998–2013 Präsident und Vizepräsident des Bundestages.
• Gerda Weigel-Greilich studierte Germanistik und ist
Bürgermeisterin von Gießen und politisch aktiv bei den Grünen.
Entstehungshintergrund
Der Band enthält die Vorträge, die auf dem dritten Symposion der
Katholischen Hochschulgemeinde Gießen über »Religion(en) im 21.
Jahrhundert. Zwischen Tradition und Zukunft« am 14. November 2015
stattfanden.
Vorwort, Grußwort, Einleitung und Aufbau
Das Vorwort der Herausgeber (2 S.) enthält den Hinweis, dass es
sich um einen Band der Schriftenreihe »Dialog leben« handelt, der
die Vorträge des o.g. dritten Symposions enthält. Es folgt das
Grußwort der Gießener Bürgermeisterin Gerda Weigel-Greilich, die
darauf hinweist, dass die lange Erfahrung mit Heimatvertriebenen,
Zonenflüchtlingen, Über – und Spätaussiedlern und die
Internationalität der Universität ein positives Klima auch
gegenüber den Flüchtlingen 2015 geschaffen hätten (3 S.).
In der ausführlichen Einleitung (12 S.) von Karl und Burger werden
die einzelnen Beiträge vorgestellt und die Frage gestellt: Wie
könnte ein deutscher Islam aussehen (16 S.)?
Insgesamt ist der Band in sieben große Abschnitte unterteilt.
Zu I
(»Impuls: Wie viel Religion verträgt unsere Gesellschaft?«
insgesamt 15 S.)
Wolfgang Thierse: »Wie viel Religion verträgt unsere Gesellschaft?
Entwicklungen und Herausforderungen – Anmerkungen zur Religion,
Gesellschaft, Staat und Demokratie« (13 S.). Thierse stellt fest,
dass zu Beginn des 21, Jahrhunderts die Religion ݟberraschend
vital‹ (S. 29) sei, da 85 % eine weltanschaulich und religiös
plurale Gesellschaft von Christen, Muslimen und anderen
Religionsgemeinschaften befürworteten. Die Flüchtlinge hätten
Europa 2015 herausgefordert, sich mit dem Verhältnis Staat und
Kirche, den ethischen Fundamenten für das Zusammenleben unter
Mitverantwortung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften
zu befassen und ›Entheimatungsängste‹ (S. 31) ernst zu nehmen.
Religion dürfe keine Privatsache bleiben, da der Staat auf Religion
und religiöse Menschen angewiesen, Toleranz aber auch unerlässlich
sei in einer pluralen Gesellschaft. Die Überwindung von Ängsten und
Vorurteilen gegenüber dem Islam sei eine gemeinsame Aufgabe der
›Religionen, der Gesellschaft und der Muslime‹ (S. 38). Die
Religion sei ein fundamentales Freiheitsrecht.
Zu II
(»Was glaubt man in Deutschland? Religiöse Identität heute«,
insgesamt 38 S.)
Thomas Peterson: »Religiöse Bindungen in der Gesellschaft.
Wertewandel und Glauben – Das Christentum als Element der
kulturellen Identität – Islam Bestandteil der deutschen Kultur?«
(11 S.) – Aufklärung sei, obgleich sie die Trennung von Kirche und
Staat begründet habe, dennoch mit ihren Ideen von Freiheit und
Menschenrechten in einer christlichen Tradition begründet. Ein
Glaubensverlust sei seit den 50er Jahren in Deutschland zu
beobachten, messbar an den Kirchenbesuchen (Tabelle S. 47). Dennoch
bezeichneten sich ca. 50 % der Deutschen als ›religiös‹. Auch
ein ›Wunderglaube‹ sei eher im Wachsen. Zweifel bestünden jedoch,
ob von der katholischen oder protestantischen Kirche
gesellschaftliche Impulse ausgehen. Verborgene Bindungen an das
Christentum zeigten sich jedoch in der Identifikation mit
christlichen Werten. Die Mentalitätsgeschichte kultureller
Gegensätze zwischen Europa und dem Orient seit tief im
Unterbewusstsein der Menschen verankert, neben differenzierteren
Sichtweisen gebe es nach wie vor Misstrauen, Unsicherheit und
Ängste, die man auch ernst nehmen müsse.
Michael Hochschild: »Eindeutig mehrdeutig – Religion in Bewegung.
Eine neue Landkarte der Religionen entsteht.« (9 S.) –
Wissenschaftler seien ›Schubladensprenger‹ und Agenturen für
Differenzierungen. Mit den Mitteln der Immanenz (Wissenschaft)
könne man aber nichts über Transzendenz sagen. Zudem sei Religion,
wie sich zeige, in Bewegung: Entstehung eines diffusen religiösen
Feldes, religiöse soziale Bewegungen, Religionssoziologie unter
kommunikationstheoretischer Perspektive, kulturelle Bewegung durch
Migration. Bei den Religiösen gebe es den Streit zwischen
Progressiven und Konservativen. Zahlen und Begriffe, Garanten für
die Stabilität einer Gesellschaft, lösen sich zunehmend auf
(Finanzkrise). Andererseits werden erste Konturen einer neuen
Vergesellschaftung, unter Beteiligung der Religionen, sichtbar:
keine monadischen Einheiten, sondern ›Holobionten‹, die mit jeweils
Teilen ihrer Umwelt in Beziehung stehen; darunter seien auch Biome
einer Fusion zwischen Mensch und Technologie (Smartphones). Um
Anschlussfähig zu bleiben, müssten Religionen beweglich sein. Als
eine ›Brückentechnologie‹ treten heute die kleinen, anstatt der
großen (religiösen) Erzählungen auf, die narrative Verbindungen
schaffen. Anschlussfähig seien eher die christlichen als die
jüdischen und islamistischen Religionen. Aussagen über die
Weiterentwicklung von Religionen könnten nur in Zusammenhang mit
gesellschaftlichen Entwicklungen gemacht werden.
Sigrid Monnheimer: »Religion aus der Praxisperspektive.
Hochschulgemeinden an der Schnittstelle zwischen
Hochschullandschaft und gelebter Identität.« (6 S.) –
Hochschulgemeinde wird nicht im engen Sinn religiös sondern als
eine Gemeinschaft von Lehrenden, Lernenden, internationalen
Gruppierungen, religiöse Interessierten, Hochschulinstitutionen und
kirchlichen Mitarbeitern verstanden. Das Verbindende sei die
Kommunikation über Religion, Glaube und Weltanschauung. Für die
Studierenden, insbesondere die ausländischen, seien die
Herausforderungen die Finanzierung, der Zeit- und Leistungsdruck.
Anschluss an gemeinschaftliches Leben trage zur Stabilisierung bei
und gebe ›Transzendierungshilfen‹. Die Pluralität religiöser
Bekenntnis mache auch vor den Hochschulen nicht Halt und könne von
den Hochschulgemeinden aufgefangen und für einen interreligiösen
Dialog nutzbar gemacht werden. Als Schnittstelle zwischen gelebter
Identität, gesellschaftlichem Wandel und hochschulinterner
Neuausrichtung hätten sie eine wichtige sinnstiftende und
werttransformierende Rolle.
Sarah Larissa Schneemann: »Nächstenliebe im Zeitalter der
Globalisierung. Plädoyer für ein neues Verständnis von
Nächstenliebe und Ethik der Verantwortung – Ein studentischer Bick
auf Gerechtigkeit und Globalisierung.« (8 S.) – Es handelt sich um
die Fassung einer Predigt, die folgende Themen hat: Raum für
Nächstenliebe schaffen: Hinsehen statt wegschauen, Reden statt
totschweigen und Empathie. Ist man nur verantwortlich für das, was
man tut, oder auch für das, was man nicht tut? Verantwortung als
›Fernstenliebe‹ anstelle von Nächstenliebe und Annäherung an eine
globale Gerechtigkeit, da die Würde des Menschen keinen Preis habe
(Kritik an der Marktwirtschaft) und konkretes Engagement gefragt
sei.
Zu III
(»Dialog zwischen den Religionen – christlich islamischer Dialog«,
44 S. insgesamt)
Sigfried Karl: »Vielfältiger Dialog – dialogische Vielfalt.
Beziehungen zu anderen Religionen und religiösen Traditionen –
Bemerkungen aus christlicher Perspektive.« (16 S.) – Ein
kontextunabhängiger Dialog sei künstlich und unkritisch. Alle
Religionen müssten sich dem Dialog stellen, um der Vielfalt und
Multireligiösität unserer Gesellschaft gerecht zu werden, da
Religion aus der Gesellschaft nicht verschwinden wird. Zu einem
kritisch-offenen Dialog gebe es keine Alternative; dieser
Herausforderung müssten sich auch die Christen stellen. Das führe
auch zu einem besseren Verstehen der eigenen und fremden Bindungen
und Traditionen und schaffe Toleranz, Respekt und Einsicht. Es
setze Mut zu Selbstkritik, einen Wahrheitsanspruch auch in
praktisches Handeln umzusetzen, voraus und eine Klärung, welche
Werte in unserer Gesellschaft und Religion unverhandelbar seien.
Der Dialog müsse vor allem im Alltag praktiziert werden.
Dirk Ansorge: »Christentum, Islam – Aufklärung: Ein vielschichtiges
Verhältnis.« (14 S.) -Ansorge beschäftigt sich mit dem Begriff der
Aufklärung und seinem Verhältnis zur globalen Moderne. Aufklärung
als ein Wesensmerkmal der Moderne (Baumann 2005, Taylor 2009) habe
nicht nur die westliche Kultur geprägt. Eine Ambiguitätskultur habe
es auch im Islam gegeben. Erst durch die europäische Expansion habe
sich diese Toleranz verändert. Das cartesische Wissenschaftsideal
unterstelle eine exklusive, auf Vernunft gegründete alternativlose
und damit ‚totale‘ Wahrheit. Darin sei kein Platz für Gemeinschaft
stiftende ideologische oder religiöse Deutungen. Wichtig sei eine
Ethik der wechselseitigen Toleranz und Achtung gegenüber
abweichenden Positionen. Wahrheit könne sich, nach Lessing, nur auf
dem Feld der Ethik (Würde eines jeden Menschen) bewähren, ganz
gleich wie diese begründet werde.
Yasar Sarikaya: »Neue Chancen im christlich-islamischen Dialog.
Islam im europäisch-deutschen Kontext – neue Wege und Lösungen.«
(12 S.) – Die Frage sei nicht ob, sondern wie ein Dialog gestaltet
werden könne. Die gesellschaftliche Realität – Zusammenleben von
z.B. Muslimen und Christen – erfordere Veränderungen in den
Einstellungen zu einer Pluralität der Werte, Buntheit der
Lebensstile und positive Beziehungen zur islamischen Welt, die
Forschungen, Synergien und Reformansätze befördern. Die Ringparabel
von Lessing markiere eine Veränderung im alleinigen
Wahrheitsanspruch der verschiedenen Religionen und schaffe damit
Raum für Humanismus und Toleranz. An solchem ›relgiösem
Inklusivismus‹ werde auch im Islam gearbeitet. Drei
Entwicklungspfade zur Einbettung des Islam in den
europäisch-deutschen Kontext werden vorgeschlagen: Einführung eines
islamischen Religionsunterrichtes, Errichtung von Lehrstühlen und
Zentren für islamische Studien und Anerkennung des Islam als
Religionsgemeinschaft. Durch den Dialog könne man zu einem
›inklusiven Wir-Gefühl‹ gelangen.
Zu IV
(»Brennpunkt Islam«, insgesamt 14 S.)
Diaa Rashid: »Frieden, Liebe und Barmherzigkeit. Der Islam und
seine Grundwerte – Lage und Probleme in muslimischen Ländern und in
den muslimischen Gemeinden in Deutschland.« (7 S.) – Nach Meinung
von Rashid setzt Religion auf ›Erinnern‹ im Gegensatz zum
›Vergessen‹. Es gebe im Koran keinen ›Zwang zum Glauben‹. In den
Hilfsaktionen angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen sei die
Vielfalt der deutschen Gesellschaft präsent gewesen. Der kulturelle
Niedergang der islamischen Länder nach dem Zerfall des osmanischen
Reiches habe zu Stagnation, Rückständigkeit und Erstarrung geführt.
Wichtig sei der Dialog. Die Attentate stünden in Widerspruch zu den
islamischen Werten. 3 Botschaften zum Schluss: An die Muslime, sich
mehr in demokratische Prozesse einzumischen, an die Presse, mehr
mit den Muslimen als über sie zu sprechen und – aus einem
islamischen Gebet – die Bitte um Frieden.
»Interview mit Susanne Schröter: Welcher Islam passt zu unserer
Gesellschaft? Gib es Ansätze für einen modernen Islam? –
Herausforderungen, Fehlentwicklungen, Impulse in Deutschland.« (4
S.) – Es geht um die Herausforderungen, die der Islam für
Deutschland bedeutet und um die Frage, wie modernisierungsfähig
Religionen sind.
Zu V
(»Religion und Gewalt«, insgesamt 17 S.)
Franz-Josef Overbeck: »Religion und Gewalt. Eine historische und
gegenwärtige Problemerfassung.« (7 S.) – Politik und Religion haben
unterschiedliche Gestaltungsansprüche gegenüber der Gesellschaft,
da Religionen von Wahrheiten, Politik von Interessen handeln. Die
Verfassung definiere, was in einer Gesellschaft zu gelten habe.
Eine wertneutrale Herrschaftsausübung gleiche einem
›intellektuellen Spagat auf dem Hochtrapez‹. Weltweit seien
Religionen nie aus der Politik verschwunden und auch der
aufgeklärte liberale Staat dürfe auf religiöse Bezüge nicht
verzichten. Kirchen und Parteien litten in Deutschland unter einem
dramatischen Vertrauensverlust. Die Kommunikation zwischen Politik
und Kirche funktioniere nicht immer reibungslos. Ethisch relevante
Fragen würden zunehmen. Ohne ein Mindestmaß an Einheit in der
Vielfalt könne keine Gesellschaft zurechtkommen. Overbeck plädiert
einerseits für eine sorgfältige Trennung, anderseits für eine
intelligente Verbindung von Politik und Religion, Glauben und
Handeln.
Friedrich Wilhelm Graf: »Töten im Namen Gottes. Ursachen des
islamistischen Terrors – Ist es die Religion oder der Zorn von
ökonomisch Marginalisierten?« (7 S.) – Graf beschäftigt sich mit
den Ursachen des Terrors (Frustration?) und deren Bekämpfung und
spricht sich für einen ›globalen Religionsmarkt für Sinnprodukte‹
aus. Auch der Islam müsse eine ›Zivilisierungsstrategie‹
entwickeln. Es habe religiös begründete Gewalt in allen Religionen
gegeben. Mit Werte-Rhetorik sei niemandem geholfen.
Zu VI
(»Kann man mit Religion Staat machen?« insgesamt 19 S.)
Norbert Lammert: »Zehn Bemerkungen – Plädoyer für eine intelligente
Verbindung von Politik und Religion, von Glauben und Handeln.« (11
S.) – Politik und Religion hätten unterschiedliche
Gestaltungsansprüche gegenüber der Gesellschaft, da Religion von
Wahrheiten, Politik jedoch von Interessen handele. Die Verfassung
definiere, was in einer Gesellschaft Geltung habe. Das Prinzip
einer weltanschaulich neutralen Herrschaftsausübung gleiche einem
intellektuellen Spagat auf dem Hochtrapez. Weltweit seien
Religionen aus der Politik verschwunden. Der aufgeklärte liberale
Staat dürfe aber auf religiöse Bezüge nicht verzichten. Kirchen und
Parteien hätten einen dramatischen Vertrauensverlust in Deutschland
erlebt. Die Kommunikation zwischen Politik und Kirche funktioniere
bei ethisch relevanten Fragen (Schwangerschaftsabbruch,
Präimplantationsdiagnostik z.B.) nicht immer reibungslos. Ohne ein
Mindestmaß an Einheit könne Vielfalt nicht erfolgreich gelebt
werden. Lammert endet mit einem Plädoyer für eine sorgfältige
Trennung und zugleich intelligente Verbindung von Politik und
Religion, Glauben und Handeln.
»Interview mit Bettina Jarasch: Für eine neu Justierung der
Beziehung von Kirche und Staat. Zu den Ergebnissen einer Kommission
von Bündnis 90/Die Grünen.« (5 S.) – Jarasch spricht sich für die
Vielfalt von Religionen und eine Diskussion zwischen Kirche und
Staat, Religion und Politik aus über das kirchliche Arbeitsrecht,
Transparenz in der Finanzierung der Kirchen, Pluralität in
öffentlichen Veranstaltungen (Beispiel Trauerfeier nach dem Absturz
der Maschine von Germanwings und Wegweiser für eine plurale
Gesellschaft.
Zu VII
(»Schlussbemerkungen«, insgesamt 50 S.)
Bernd Apel: »Religionen und Religiosität heute. Religionen
faszinieren auch heute Menschen – Anmerkungen eines religiösen
Menschen.« (4 S.) – Eine Aufgabe des interreligiösen Dialogs sei
es, die vorhandene Differenz zu ›zivilisieren‹. Die Bedeutung der
Religion dürfe nicht unterschätzt werden. Sie habe auch in einer
pluralistischen Gesellschaft eine orientierende Funktion. Ihre
Kraft könne sozial genutzt werden. Menschenrecht, Aufklärung und
Gender seien Themen des christlich-islamischen Dialogs.
Vorgeschlagen werde: Mehr Sachkunde in den Redaktionen, mehr Mittel
für die religiöse Bildung und Raum für Begegnungen.
Siegfried Karl: »Gesellschaft gestalten aus gelebtem Glauben. Das
Verhältnis Religion, Staat und Freiheit neu denken – Antworten auf
zentrale Fragen aus dem Werk von Joseph Ratzinger/Papst Benedikt
XVI.« (44 S.) – Im Rahmen einer neuen dynamischen Ausgangssituation
stellten sich Fragen nach dem Blick der Gesellschaft auf die
Religion und – ausgehend von einer konkreten Religion – nach der
gesellschaftlichen Verantwortung. In Anlehnung an Ratzinger betont
Karl die Unvollkommenheit sowohl der Gesellschaft als auch des
Staates. Auch die Demokratie sei auf ›vor- und überpolitische
moralische Grundlagen‹ angewiesen, auf unverfügbare Werte. Der
Staat sei nur eine relative, weil säkulare Größe. Unverfügbare
moralische Grundüberzeugungen gäben politischen Institutionen erst
die Legitimation. Moral und Freiheit bilden keine Gegensätze,
sondern bedingen sich gegenseitig. Jeder Mensch sei Träger von
unveräußerlichen vor- und überstaatlichen Rechten. Der
Naturrechtsgedanke als Vernunftgesetz sichere die Menschlichkeit
des Menschen. Ratzinger begründet dies schöpfungstheologisch und
verweist darauf, dass der öffentliche und politische Diskurs eine
›ethische Innenseite‹ besitze, was einen ständigen Dialog zwischen
Christen und Nichtchristen erfordere. Der Glaube könne allerdings
seinen Wahrheitsanspruch nicht aufgeben; er wecke das Gewissen und
begründe das Ethos. Die Gefahren des moralischen Relativismus,
politischen Radikalismus und des religiös motivierten
Fundamentalismus werden aufgezeigt. Christen als ›schöpferische
Minderheit‹ begründeten mit ihren Glaubensinhalten ein
›Füreinanderleben‹ und eine Erlösung durch Übernahme von
Verantwortung, ihre Werte engagiert einzubringen. Es gebe zudem
auch eine ‚Ethik der Erinnerung‘, ein kulturelles Gedächtnis in der
Rückbesinnung auf die Wurzeln nicht nur der Kirche, sondern
Europas. Es gelte die Bedeutung des Dialogs neu zu erkennen, die
moderne Laizität und ihre Unvollkommenheit positiv anzuerkennen,
die dialogisch-integrative Kraft des christlichen Glaubens in die
Gesellschaft einzubringen und in einem umfassenden Ansatz eine
Ethik des Dialogs zu entwickeln (Wahrheitsanspruch,
Selbstbegrenzung, Hör- und Lernbereitschaft).
Literaturhinweise finden sich bei den einzelnen Beiträgen.
Diskussion
Das Buch ist ein Tagungsbericht und also solcher vor allem für die
Teilnehmer (und interessierte Nichtteilnehmer) der Tagung
interessant. Es enthält sehr unterschiedliche Beiträge:
Wissenschaftliche Untersuchungen, religiöse und politische
Stellungnahmen, was der Bandbreite des Themas entspricht, aber
nicht jeden Leser interessiert. Das Anliegen, das Nachdenken über
Religion im 21. Jahrhundert anzuregen und sich der eigenen
Tradition zu vergewissern, ist sicher im Hinblick auf
gesellschaftliche und politische Prozesse gelungen. Was mir gefehlt
hat, aber auch auf der Tagung kein Thema war, ist eine vertiefte
aus psychoanalytischer Perspektive geführte Diskussion, welche
menschlichen Bedürfnisse von Religionen befriedigt werden und ob
diese nicht auch ohne Berufung auf eine göttliche Legitimation
gestillt werden können. Die ›Religion‹ der zunehmenden Zahl der
›Religionslosen‹ wird zwar statistisch erfasst (Petersen), aber
nicht thematisiert.
Fazit
Je nach Interesse ein lesenswertes Buch mit vielen auch praktischen
politischen Hinweisen, sich für mehr Toleranz in unserer
Gesellschaft zu engagieren.
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