Rezension zu Die enthemmte Mitte
Zeitung »Erziehung und Wissenschaft im Saarland« des Landesverbandes der GEW im DGB, Heft 9, September 2017, 63. Jahrgang
Rezension von Klaus Ludwig Helf
Die enthemmte Mitte
Forscher der Universität Leipzig untersuchen seit 2002 alle zwei
Jahre in repräsentativen Befragungen rechtsextreme Einstellungen in
der deutschen Gesellschaft; die gewonnenen Daten und
sozialpsychologischen Analysen der Mitte-Studien der Universität
Leipzig sind zur bundesweiten Grundlage der Auseinandersetzung mit
Rechtsextremismus geworden. Die aktuelle Ausgabe dieser
Mitte-Studien entstand in Kooperation mit der
Heinrich-Böll-Stiftung, der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen, der
Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Otto-Brenner-Stiftung.
Die Wissenschaftler befragten im Frühjahr 2016 bundesweit 2.420
Menschen. Fazit:
Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland seien immer noch
verbreitet – auch in der Mitte der Gesellschaft; der AfD gelinge es
demnach, Wähler mit entsprechenden Ansichten für sich zu gewinnen
und zu mobilisieren; seit 2002 sei zwar die Ausländerfeindlichkeit
gesunken und die Zivilgesellschaft stärker geworden, dagegen sei
der Hass auf bestimmte Gruppen wie Asylsuchende gestiegen und werde
offener und immer öfter auch gewalttätig gezeigt.
Die Hälfte der Bevölkerung gab demnach an, sich »durch die vielen
Muslime manchmal wie ein Fremder im eigenen Land« zu fühlen; 2014
waren es noch 43 Prozent. Mehr als 40 Prozent der Bürger seien der
Meinung, Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt
werden (2014: 36,6 Prozent).
Auch die Vorbehalte gegenüber Asylbewerbern sowie Sinti und Roma
hätten zugenommen. Als »ekelhaft« empfänden es 40,1 Prozent der
Befragten, wenn Homosexuelle sich in der Öffentlichkeit küssen;
jeder zehnte Deutsche wünsche sich eine Führer-Figur, die das Land
mit starker Hand regiert (2011: 25,3 Prozent); 11 Prozent glaubten,
dass Juden zu viel Einfluss hätten; 12 Prozent meinten, Deutsche
seien anderen Völkern von Natur aus überlegen; ein Viertel der
U30-Generation in Ostdeutschland sei ausländerfeindlich und für ein
Drittel der Befragten sei Deutschland überfremdet. Besonders
verbreitet seien solche Positionen unter AfD-Anhängern. Fast 35
Prozent der Rechtextremen gaben an, die AfD zu wählen – vor zwei
Jahren waren es lediglich 6,3 Prozent.
Allgemeine rechtsextreme Einstellungen wie generelle
Ausländerfeindlichkeit oder eine Verharmlosung des
Nationalsozialismus blieben laut der Untersuchung auf ähnlichem
Niveau wie in den Vorjahren. Zu beobachten sei aber eine zunehmende
Polarisierung und Radikalisierung in Deutschland. Das politische
System sei immer weniger in der Lage, politische Legitimation in
Form von Teilhabe und Teilnahme an der Gesellschaft zu produzieren:
»Dies äußert sich unter anderem in zunehmender Distanz der Menschen
zu politischen Parteien...und schwindendem Vertrauen in politische
und gesellschaftliche Institutionen, denen unter den Bedingungen
der Globalisierung nicht mehr zugetraut wird, die eigenen
Sicherheitsbedürfnisse zu befriedigen« (S. 59).
Während die überparteilichen Akteure wie Polizei (65,5 %),
Bundesverfassungsgericht (63,5 %) und Justiz (54 %) noch ein
stabiles Maß an Vertrauen im der Bevölkerung genössen, falle dies
bei Bundestag (44,2 %) und Bundesregierung (38 %) deutlich geringer
aus; die Parteien als eine der wichtigsten Elemente der politischen
Meinungsbildung landen mit 23,1 % – nach den Kirchen (31,1 %) – auf
dem letzten Platz bei der Befragung. Auch den Medien als den
entscheidenden Informationsvermittlern und Kontrolleuren in einer
Demokratie wird nur mäßiges Vertrauen entgegengebracht; so kommt
der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf 52,3 %, die
Fernsehberichterstattung auf 49,9 %, die Tages- und Wochenzeitungen
auf 46,3 %, die sozialen Medien auf 36 % und der private Rundfunk
auf 35 %: »Der Legitimationsverlust von etablierten Parteien und
Institutionen ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg von
rechtspopulistischen und rechtextremen Bewegungen und
Organisationen« (S. 64).
Insgesamt gebe es eine »deutliche Veränderung der politischen
Kultur«; während die demokratischen Milieus der Zivilgesellschaft
in Deutschland stärker und größer geworden seien, hätten sich
antidemokratische Milieus als politische Akteure gesammelt:
»Offensiv vertretene völkisch-nationale Positionen werden dort als
genauso akzeptabel angesehen wie Gewalt als Mittel der politischen
Auseinandersetzung. Diese politische Polarisierung stellt uns vor
die Herausforderung, die republikanischen Kräfte zu stärken, um
eine demokratische Gesellschaft und die soziale Teilhabe aller zu
gewährleisten« (S. 8).
Die Flüchtlingskrise sei einerseits Katalysator der Formierung
neuere rechter Bewegungen, andererseits werde mit dem Ressentiment
gegen Flüchtlinge die längst als überwunden geglaubten völkischen
Vorstellungen sichtbar: »Noch immer sind weite Teile der
Bevölkerung bereit, abzuwerten und zu verfolgen, was sie als
abweichend und fremd wahrnehmen. Dabei wird immer deutlicher, dass
hinter dem rassistischen und ethnozentrischen Denken in Deutschland
weiterhin die Annahme einer Volksgemeinschaft als
Schicksalsgemeinschaft steht« (S. 20).
Was tun?
Alexander Häusler schlägt in seinem Beitrag über die »AfD als
rechtspopulistischer Profiteur der Flüchtlingsdebatte« eine
plausible und wirksame multidimensionale Strategie vor. Eine
offensive diskursive und argumentative Auseinandersetzung mit dem
Rechtspopulismus und Rechtextremismus sei unbedingt notwendig,
greife aber zu kurz, da die rechtspopulistische Agitation auf der
emotionalisierten Anklage von Ungerechtigkeit und politischen
Missständen basiere.
Eine politische wirksame Strategie sollte daher gleichzeitig die
Ursachen von Unzufriedenheit, Politikverdrossenheit und Rassismus
abzielen. Ein maßgeblicher Grund für rassistische Ressentiments
bestehe in einem gesellschaftlich immer noch tief verankerten
völkischen Verständnis von Volk und Nation, dessen Veränderung eine
große Herausforderung für Politik und Medien darstelle; das gelte
auch bei der Auseinandersetzung mit dem Islam und der Integration
von Muslimen in unsere Gesellschaft.
Ein weiteres Aktionsfeld seien die ungerechten sozialen und
wirtschaftlichen Verteilungsverhältnisse: »Solange die Politik auf
globalkapitalistische Krisenphänomene nicht mit Konzepten für eine
gerechtere Gesellschaft antwortet, wird der rechtspopulistische
Aufstieg in Deutschland und Europa nicht aufzuhalten sein« (S.
177). Dem ist nichts hinzuzufügen.
Der vorliegende Band liefert in seinem empirischen Teil die validen
Daten dafür, dass autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in
Deutschland kein Randphänomen, sondern in der Mitte der
Gesellschaft angekommen sind und dass sich das politische Klima
dramatisch verschlechtert hat. Im zweiten Teil des Bandes werden
plausible Erklärungs- und Handlungsmuster entwickelt, die nicht nur
in der sozialwissenschaftlichen Forschung, sondern auch in den
Medien, in der politischen Bildung und in der politischen Praxis
aufgegriffen und diskutiert werden sollten.
Insgesamt ist der Band hervorragende empirische und theoretische
Grundlage für die Diskussion der aktuellen Probleme der politischen
Kultur in unserer Gesellschaft.