Rezension zu Grenzverschiebungen des Sexuellen

Psychotherapie Aktuell, 9. Jahrgang, Heft 3, 2017

Rezension von Dr. Katinka Schweizer

Die kritische Sexualwissenschaft lebt und hat einen aktiven Nachwuchs! Dies beweist einmal mehr die Lektüre des Sammelbandes »Grenzverschiebungen des Sexuellen«. Er wurde herausgegeben von Mitgliedern des Nachwuchsnetzwerkes NEKST der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS).

Der Titel wirft die Fragen auf: Welche Grenzbezirke und Schwellen, Übergänge und Verschiebungen sind gemeint? In ihrem differenzierten und ausführlichen Einführungsvorwort geben die Herausgeberinnen dazu Auskunft. Das Herausgeberlnnen-Quartett, ist interdisziplinär zusammengesetzt und besteht aus den Psychologinnen Wiebke Driemeyer und Benjamin Gedrose, der Ärztin Lisa Rüstige und dem Sozialwissenschaftler Armin Hoyer. Sie haben weitere 22 Autorinnen für die Mitwirkung gewonnen, darunter bereits etablierte und jüngere Sexualwissenschaftlerlnnen.

Der Sammelband erschien als 100. Band der »Beiträge der Sexualforschung«. Volkmar Sigusch, der das Geleitwort verfasst hat, macht aus seiner doppelten Freude kein Geheimnis. Diese bezieht sich zum einen auf das 100. Jubiläum der Buchreihe, zum anderen freut er sich erkennbar an der neuen Generation kritischer Sexualforscherinnen. Geschmeichelt können sich Herausgeber- und Beiträgerinnen gewiss fühlen, denn Sigusch grenzt sie deutlich ab von den »anständigen und ungestörten Orthosexuellen«.

Das Buch umfasst 12 Beiträge. Im Fokus stehen vier Themenfelder: Grenzverletzungen, Institutionelle und Konstitutionelle Grenzen, Sexuelle Beziehungsweisen und Geschlechtergrenzen und Intermediärräume. Den ersten Teil bestreitet ein einzelner Beitrag zum Thema Sexueller Missbrauch von Maria Pössel. Ihre Studie untersucht soziokulturelle Hintergründe für mögliche Täterschaften bei sexuellem Missbrauch. Im Zweiten Teil geht es um Lehre, Aufklärung und staatliche Prävention. Bemerkenswert ist der umfassende Beitrag »Verkehrsregeln« von Armin Hoyer zu den »Auswirkungen eines infektionologischen Hygieneregimes in den sozialen Kapillaren der Intimität« vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit AIDS und HIV Infektion. Um Masturbationserfahrungen, Studierendensexualität und weibliche Hypersexualität geht es im dritten Teil. Der vierte Teil thematisiert trans- und intergeschlechtliches Erleben, Diskriminierungsrisiken und Versorgungsnotwendigkeiten dieser Gruppen.

Erfreulich an diesem Sammelband ist die ausgewogene Mischung aus empirischen und theoretischen sowie ost- und westdeutschen Beiträgen, aus Erfahrung und unbeschwerter Jugendfrische. Geographische und disziplinare Grenzen werden überwunden: Der Beiträgerinnenkreis reicht weit über die deutschsprachigen Grenzen hinaus bis nach Bologna, Basel, Malmö und Zürich und zeigt eine Vielfalt an Professionen, auch wenn Medizin und Psychologie dominieren. Wer sich mit aktuell diskutierten Themen und Fragen der Sexualwissenschaft in Deutschland beschäftigt, wird hier gut bedient und sollte zu diesem reichhaltigen Grenz-Buch greifen.

Sexualwissenschaft und psychotherapeutische Praxis können sehr vom gegenseitigen Wissensaustausch profitieren. Allen drei hier vorgestellten Büchern sind neugierige Leserinnen zu wünschen und den beiden sexualwissenschaftlichen Buchreihen eine gegenseitige kritische und fruchtbare Rezeption.

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