Rezension zu Intergeschlechtlichkeit
Psychotherapie Aktuell, 9. Jahrgang, Heft 3, 2017
Rezension von Dr. Katinka Schweizer
Während es zum Themenfeld Intersexualität noch vor wenigen Jahren
kaum Fachliteratur außerhalb der Medizin gab, bekommt man den
Eindruck, dass sich die Neuerscheinungen derzeit häufen. Dies ist
höchst erfreulich, da das Thema viel zu lange von Schweigen und
Tabuisierung betroffen war. Auch im Psychosozial Verlag sind
inzwischen mehrere Bücher zu körpergeschlechtlicher Vielfalt
erschienen. So hat die Pädagogin Manuela Tillmanns einen
Beratungsführer zum Thema Intergeschlechtlichkeit veröffentlicht.
Nach einer Einführung und Kurzdarstellung des Forschungsstandes
analysiert Tillmanns anhand ihrer Sichtung der Literatur und
Zusammenführung von Erfahrungsberichten intergeschlechtlicher
Menschen mit wissenschaftlichen Arbeiten den bestehenden
Beratungsbedarf. Im Fokus steht die Gegenüberstellung und
Zusammenführung eigener empirischer Ergebnisse aus einer
qualitativen Befragung mit der kritischen Analyse der drei größeren
deutschen Studien zum Thema, nämlich der Studie des »Netzwerkes
DSD«, der Hamburger Studie zur Intersexualität sowie der Erhebung
des Deutschen Ethikrats. Die Interviews, die Tillmanns mit zwei
»Expertinnen der Inter*-Bewegung« geführt hat, unterstreichen vor
allem den Mangel an beratenden Fachkräften; als problematisch wird
die »Fokussierung auf den medizinischen Bereich« gesehen (S. 58).
Sie geht dann auf Aspekte einer »gerechten« Inter*-Beratung ein und
sammelt schließlich Impulse für die »konkrete
Umsetzungspraxis«.
Dass es sich bei dem Buch ursprünglich um eine Qualifikationsarbeit
zum Masterabschluss handelte, wie die Autorin im Vorwort mitteilt,
merkt man dem Text nur an wenigen Stellen an, an denen sie in
ruhigem Ton die bestehenden Kontroversen und verschiedenen
Positionen nachzeichnet. Deutlich wird, dass Intersex Beratung von
den Grundlagen allgemeiner Psychosozialer Beratung profitieren
kann: Zu den Kernelementen zählen für Tillmanns die Themenfelder
(1) Informationsbalance und Entscheidungsmanagement, (2) Prävention
und Gesundheitsförderung, (3) Bewältigungshilfen, (4)
Entwicklungsförderung und Lebenslaufbegleitung.
Darüber hinaus konzipiert Tillmanns auch
Intersex-spezifische-Beratungselemente wie das des
»Eltern-Erstgesprächs« (S. 92). Sie regt an zur Entwicklung von
»Standards of care« (S. 99), wie es sie im Bereich der
Transgender-Gesundheitsversorgung seit langem gibt. Dabei gehe es
eben nicht allein, wie in der Vergangenheit häufig betont wurde,
vorrangig um medizinische Kriterien, sondern auch um pädagogische
und sozialwissenschaftliche Standards. In den praktischen Impulsen
weist sie auf bestehende Hilfen wie Onlineplattformen als
»Einstiegspforte« hin. Man müsse das Rad »nicht ständig neu
erfinden«; gleichzeitig ist der Ausbau bestehender Strukturen
dringend angeraten, um auch Eltern und Familien in ländlichen
Regionen unterstützen zu können. Zu ähnlichen Ergebnissen ist auch
die Umfrage des Bundesfamilienministeriums von 2015 gekommen (S.
122). Der Forderung nach medizinischen Kompetenzzentren stellt
Tillmanns kritisch und differenziert die Forderung vieler
Erfahrungsexpertinnen nach unabhängigen, außerklinischen Kontakt-
und Beratungszentren gegenüber. Wichtig sei damit die
Entschleunigung und Entzerrung von Diagnostik, Beratung und
medizinischem Handlungsdruck, wie er in der Vergangenheit
geherrscht hat.
Ihr Fazit lautet: dass »Intergeschlechtlichkeit als komplexes
Phänomen« entsprechend auch »komplexe Beratungsstrukturen fordert«.
Peer-Involvment, Selbsthilfe und die Einbeziehung des
Erfahrungswissens sind dabei unverzichtbar, können aber alleine die
Beratungsarbeit auch nicht stemmen. Hinsichtlich der anhaltenden
Debatte um eine passende Nomenklatur spricht sich Tillmanns für den
Begriff Intergeschlechtlichkeit aus, da hier die größte Akzeptanz
bei Betroffenen gefunden werde.
Insgesamt handelt es sich um ein gut lesbares Buch, das über
Intersexualität als psychosozial bislang vernachlässigtes Thema
informiert. Außerdem werden Grundkenntnisse vermittelt über
Beratung als eigenständige, auch von der Psychotherapie
abzugrenzende psychosoziale Unterstützungsform. Gerade für
Psychotherapeuten, die sich noch als Intersex-unerfahren
einschätzen ist die Lektüre empfehlenswert. Denn, so ist die These
der Rezensentin, vermutlich behandeln weit mehr
Psychotherapeutinnen Menschen mit einer Variation körperlicher
Geschlechtsmerkmale, ohne dies explizit zu wissen. Anders als
Transgeschlechtlichkeit, ist Intergeschlechtlichkeit (früher auch
Hermaphrodismus genannt) gesellschaftlich meist weniger sichtbar.
Die Körpergeschichte unserer Patientinnen kennen wir häufig nicht,
besonders wenn der Blick zu sehr auf Intrapsychisches gerichtet
ist. Nachfragen und das Aufmerksamsein für möglicherweise schamhaft
Verschwiegenes ist wieder mal zentrale und genuine Aufgabe unseres
reizvollen Berufes.
www.dptv.de