Rezension zu Sexualität (PDF-E-Book)
Psychotherapie Aktuell, 9. Jahrgang, Heft 3, 2017
Rezension von Dr. Katinka Schweizer
Das Buch »Sexualität« von llka Quindeau ist in der seit 2011
veröffentlichten Reihe »Analyse der Psyche und Psychotherapie«
erschienen. Die Psychologin, Soziologin und Psychoanalytikerin llka
Quindeau setzt hier ihre Auseinandersetzung mit dem Werk von Jean
Laplanche, insbesondere mit seiner Allgemeinen Verführungstheorie,
ebenso fort wie ihr Plädoyer für eine diverse und multipel
gedachte, lebensfreundliche Sexualität.
In fünf Kapiteln beschreibt Quindeau klassische Beschäftigungen und
aktuellere psychoanalytische Verstehenswege zum Sexuellen und
Geschlechtlichen: Sehr kondensiert geht sie im ersten Kapitel auf
»Freuds Drei Abhandlungen und die Triebtheorie« ein. Sie stellt die
These auf, dass sexuelle Erregbarkeit vor allem in »unbewussten
Erinnerungen« und nicht in besonderen physiologischen Bedingungen
von einzelnen Körperzonen gründet, kurz gesagt: »Die Lust entsteht
im Kopf und nicht durch die Reibung der Genitalien.« (ebd., S. 31).
Im zweiten und dritten Kapitel – zur »Entstehung des Sexuellen« und
zu »Umschriften: Entwicklungen und Variationen des Sexuellen« –
führt sie ihre alteritätstheoretischen Positionen aus, angelehnt an
Laplanches Primat des Anderen, Kennzeichnend ist hier, dass die
»menschliche Sexualität als vollständig strukturiert durch etwas
von außen Kommendes (sei): durch die Beziehung der Eltern und deren
sexuelles Begehren«. Auch andere zeitlose klassische Theoretiker,
Praktiker und Emiriker, die zu einer Wiederentdeckung einladen,
führt sie ins Feld, wie z.B. Otto Fenichel, Rene Spitz und nicht
zuletzt Fritz Morgenthaler.
Es folgt das Kapitel »Sexuelle Orientierungen und Identitäten«, in
dem Quindeau sich dafür ausspricht, »auf die konventionelle
Unterscheidung von Homo- und Heterosexualität im psychoanalytischen
Diskurs zu verzichten«! (ebd., S. 100).
Das Kapitel »Sexualität und Psychotherapie« schlägt den Bogen zur
Praxis. In ihrer Schlussbemerkung »Sexualität als Seismograph«
widerspricht Quindeau der Annahme von »Verflüchtigung des Sexuellen
aus dem psychoanalytischen Diskurs«. Die Präsenz sei nicht zu
leugnen, doch die Thematisierung fehle häufig. Und die
Verantwortung sieht sie dabei nicht selten auf Seiten der
Therapeutinnen liegend. Ganz im Sinne der Laplanche/'schen
Ermutigung »Faire travailler Freud« bringt Quindeau Laplanche zum
Arbeiten, baut aus, formuliert Gedanken weiter und wendet an. Sie
provoziert konventionelle normative psychoanalytische
Geschlechterannahmen und Klischees, ohne den Boden der Triebtheorie
zu verlassen. Wohltuend ist ihre Lesart triebtheoretischer
Vorstellungen, die so ganz anders ist als sie in psychodynamischen
und analytischen Fallseminaren oft in dichotomisierender Weise
gepflegt wird. Anstelle eines binären Geschlechtermodells kehrt
Quindeau zur Vorstellung einer polymorphen Sexualität zurück. Das
Nebeneinanderexistieren verschiedener Entwicklungsstufen anstelle
einer strengen Abfolge von Phasen, die Fixierung denken lassen,
ermöglicht auch die Anerkennung bi- oder gar multisexueller
Orientierungen und sogar Identitäten. Unverschnörkelt und gut
verständlich geschrieben wird den Leserinnen verdeutlicht, dass es
in der therapeutischen Bearbeitung sexueller Besonderheiten oft
schlichtweg darum gehe, die »Vielfalt der Lust-und
Befriedigungsmöglichkeiten zu eröffnen« (S 135). So vermittelt
Quindeau eine Skepsis gegenüber der in psychoanalytischen Diskursen
häufig implizit und explizit anzutreffenden Heteronormativität
(vgl. ebd., S. 23).
Ein großes Glück ist es, dass Quindeau sich interessiert statt
pathologisierend an die Phänomene Inter- und Transsexualität
heranwagt, was in der psychoanalytischen Literatur ebenfalls ein
Novum ist. Quindeau leistet Übersetzungs- und Verstehensarbeit und
stellt normothyme Klischees (wie »normaler Sex«) in Frage, unter
denen eh keiner bisher wusste, was damit genau gemeint sei. An
diesem Zugang lässt sich auch die Therapeutin in der Autorin und
Wissenschaftlerin erkennen, nämlich am genauen und interessierten
Nachfragen und genau Wissen Wollen, anstelle eines
selbstverständlichen Hinnehmens von diffusen Gegebenheiten.
Das handliche und gut verständlich geschriebene Buch hält eine
Auffrischung an theoretischem Hintergrund parat und gibt Hinweise
für die praktische therapeutische Arbeit. Hier ist besonders das
letzte Kapitel hilfreich »Sexualität und Psychotherapie«, in dem es
zentral um die Frage geht: Wie sprechen wir überhaupt über
Sexualität?
Zusammenfassend ist das Buch »Sexualität« von llka Quindeau damit
nicht nur für psychodynamisch und psychoanalytisch interessierte,
denkende und handelnde Kolleginnen geeignet, sondern für alle, die
das Sexualitätstabu im Sprechzimmer durchbrechen wollen und sich
einem weiteren Verständnis früher Prozesse und der Entstehung
menschlicher Sexualität öffnen wollen.
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