Rezension zu Inklusion - ein leeres Versprechen?
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Rezension von Stefan Müller-Teusler
Entstehungshintergrund und Thema
Im Februar 2015 fand an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg die 29.Jahrestagung der Integrations-/
InklusionsforscherInnen in deutschsprachigen Ländern statt (nähere
Informationen dazu finden sich unter:
www.philfak3.uni-halle.de/info). Diese Tagung stand unter dem
Thema: »Inklusion ist die Antwort – was war noch mal die
Frage?«.
Das vorliegende Buch ist als Kritik und Replik auf diese Tagung zu
verstehen, denn die gegebene Antwort – so der Herausgeber Feuser –
negiert die Entwicklungen der letzten 40 Jahre (zumindest die der
Disziplin) und scheint auch sonst eher als Fakt im Raum zu stehen
als historische Bezüge aufgreifend den aktuellen Stand eines
gesellschaftlichen Projektes zu beleuchten. So wird am Untertitel:
»zum Verkommen eines Gesellschaftsprojekts« deutlich, welche
Meinung der Herausgeber Feuser und die AutorInnen des Buches haben.
Feuser hat einige mit dem Thema in unterschiedlicher Weise betraute
Menschen gefragt, ob sie einen Beitrag zu dieser Aussage leisten
können und so ist dieses Buch entstanden.
Herausgeber
Georg Feuser, Dr. phil., ist Grund-, Haupt-, Real- und
Sonderschullehrer sowie Sonderschuldirektor a.D. Seit 1978 ist er
Professor für Behindertenpädagogik, Didaktik, Therapie und
Integration bei geistiger Behinderung und schweren
Entwicklungsstörungen an der Universität Bremen. Zudem hatte er
Gastprofessuren an den Universitäten Innsbruck, Klagenfurt, Wien
und Zürich inne. Er entwickelte sowohl eine ›Allgemeine Pädagogik
und entwicklungslogische Didaktik‹, die das Anliegen der Inklusion
in sich aufzuheben vermag, als auch die ›Substituierend
Dialogisch-Kooperativen Handlungs-Therapie (SDKHT)‹. Hierbei
handelt es sich um eine subjektorientierte, auf die
Rehistorisierung und Inklusion schwerstbeeinträchtigter, tief
greifend entwicklungsgestörter und langzeit-hospitalisierten
Menschen in reguläre Lebensvollzüge orientierte basispädagogische
und -therapeutische Konzeption. Er gründete die Zeitschrift
»Behindertenpädagogik und Integration« und ist unter anderem
Mitherausgeber des zehnbändigen »Enzyklopädischen Handbuchs der
Behindertenpädagogik« (Stuttgart, 2009–2013). (s. S. 287)
Aufbau und Inhalt
Neben einem Vorwort enthält das Buch sieben unterschiedliche
Beiträge, die keiner vorgegebenen Systematik folgen, sondern aus
dem jeweiligen individuellen-fachlichen Kontext entstanden sind.
Insofern ist jeder Leser selber aufgefordert, die Beiträge zu dem
übergeordneten Gesellschaftsprojekt Inklusion zuzuordnen.
Symptomatisch für das Buch (und für alle Beiträge) ist ein
Abschnitt aus der Einleitung von Feuser: »Ich gestehe, dass mich
eine solche Formulierung des Tagungsthemas erst einmal fassungslos
gemacht hat. Dies unter Aspekten der konkreten
Integrationsgeschichte der letzten vier Jahrzehnte, unter Aspekten
einer inklusionskompetenten, erziehungswissenschaftlichen
(pädagogischen und didaktischen) Perspektive, unter Aspekten
gesellschafts- und bildungspolitischer, ökonomischer,
soziologischer und humanwissenschaftlicher Dimensionen und, last
not least, bezogen auf die Geschichte des Faches und die
Entwicklung einer kritischen und materialistischen
Behindertenpädagogik. Fakten, die kaum zur Kenntnis genommen werden
und in ihren philosophischen und humanwissenschaftlichen Grundlagen
weitgehend negiert bleiben oder – mangels Befassung damit – nicht
verstanden werden können. Auch der mir inzwischen nahezu
unerträglich gewordene Diskurs im Sinne der Bemühungen der
›Integration der Inklusion in die Segregation‹ bis dahin, einzelne
Schulfächer mit dem Begriff der Inklusion zu attributieren und
damit ein Paradox zu schaffen, was ich begrifflich als ›Inklusion‹
fasse, hat – zugegebenermaßen – meine innere Einstellung bedingt.
Das gilt ebenfalls für die mit dem Tagungsthema zum Ausdruck
kommende Geschichtsvergessenheit und vielleicht auch
Geschichtslosigkeit, die wir heute auch generell hinsichtlich
kultur- und sozialhistorischer Entwicklungen international zu
beklagen haben. Wenn ich die resultierenden und sicher durch sehr
viele andere Begleitumstände mitbedingten Konsequenzen im Bereich
der Hochschulen und Universitäten sehe, dann drängt sich mir die
Formel auf: Hier wird geforscht, nicht gedacht!« (S. 11).
Der erste Beitrag des Buches ist von Willehad Lanwer unter dem
Titel: »Wenn Inklusion zur Phase wird…«. Lawner setzt sich mit der
Trivialisierung auseinander. Ausgehend von Adornos »Jargon der
Eigentlichkeit« geht es um das Aufspüren von Phasen, um deren
Funktion hin zur Bedeutung der Trivialisierung. Dazu nimmt er
schließlich Bezug zu Ernst Cassiers Verständnis des politischen
Mythos. Die Aufklärung als Prozess von Bildung und Denken ist
Voraussetzung, denn »mit anderen Worten: Weil die gedanklichen
Durchdringungen des gesellschaftlichen Phänomens nicht ohne
erkenntnistheoretische Voraussetzungen zu realisieren sind, wurde
(wird) das Erkenntnisbemühen aufgegeben und mündet in das, was
Georg Feuser als ›Inklusion‹ (vgl. Feuser, 2012, S. 5 ff.),
Wolfgang Jantzen als ›Heilige Inklusion‹ (vgl. Jantzen, 2012,
S. 35 ff.) und Udo Sierck als ›Budenzauber Inklusion‹ (vgl. Sierck,
2012, S. 230 ff.) bezeichnen« (S. 18, Zitatnachweis s.
Beitrag).
Erich Otto Graf beschreibt in seinem Beitrag unter dem Titel »The
Great Barrier Reef« Inklusion als Utopie. Er bezweifelt, dass alle
Menschen gleich sind/ sein können, weist auf die
Selbstverantwortung des Individuums hin und auf die Notwendigkeit
von Unterschieden bzw. Zuordnen. Der Fokus seines Beitrages liegt
auf dem System Schule, was im Kontext von Gesellschaft zu
betrachten ist, denn: »Das gebetsmühlenartige Betonen der
UN-Konvention ist niemals hilfreich gewesen. Die Welt verändert
sich nicht aufgrund von Hinweisschildern, sondern nur aufgrund der
Wege, die die Menschen gehen. Integration/Inklusion, das ist eine
Angelegenheit der Demokratie, nichts anderes. Demokratie ist nicht
eine Frage des Rechts, sondern eine Frage der jeweiligen
Kräfteverhältnisse. Die Kräfteverhältnisse erlauben es dann,
bestimmte momentane Situationen und Praxen rechtlich zu fixieren.
Noch immer haben die Menschen für sich selbst jegliche
Demokratisierung erstritten« (S. 48).
Wolfgang Jantzen greift die (in den vorausgegangenen Beiträgen)
unpolitische und diskurslose Diskussion zu Inklusion unter dem
Titel: »Inklusion als Paradiesmetapher?« auf. Er weist darauf hin,
dass die Debatte um Inklusion der Kern der
Behindertenrechtskonvention ist. »Entscheidend ist hier im Kontext
aller anderen Menschenrechtsdeklarationen (vgl. Deutsche
UNESCO-Kommission, 2014, S. 11) die Zuerkennung des Rechts, alle
Rechte zu haben, sowie in besonderer Weise gegen Gewalt und
Ausgrenzung geschützt zu sein, verbunden mit dem erstmals in der
Menschenrechtsdebatte formulierten Anspruch jedes einzelnen
Menschen auf einen ›sense of dignity‹ und einen ›sense of
belongig‹.« (Bielefeldt 2006) (S. 56). Dazu gehört eine Debatte um
Inklusion und Exklusion, denn (so auch die vorherigen Autoren) nur
von der Exklusion kann auf Inklusion geschlossen werden und das ist
eine politische und gesellschaftliche Debatte.
Peter Rödler geht in seinem Beitrag »Inkludiert und enteignet« der
Frage nach, ob Inklusion weniger eine Frage der Pädagogik als
vielmehr eine Frage der Haltung, der Schulorganisation und des
Rechts ist. Er erweitert diese Fragestellung um Teilhabe als
sozialen Raum, der Begegnung und Kommunikation erfordert. In der
Auseinandersetzung mit Peter Singer (dessen Namensnennung Erich
Otto Graf ausdrücklich vermeidet, s.S. 34) weist Rödler darauf hin,
dass der Mensch andere Menschen benötigt zur Aufrechterhaltung
seiner Organisation. Daraus entsteht eine kulturelle
Wechselwirkung, die keine Leistung von Menschen ist, sondern die
sie aufgrund entwickelter Kompetenzen irgendwann hervorzubringen in
der Lage waren. Erst diese Wechselwirkung bildet die Menschenwelt,
wie sie jedem einzelnen Menschen das Leben ermöglicht. »Die Kultur
ist, so gesehen, kein Produkt der Menschen, sondern Menschen –
individuell und als Gattung – sind in gewisser Weise ein Produkt
der Kultur!« (S. 88). Rödler betont, dass Menschen (Schüler) heute
eher als Funktion oder als Systembestandteil gesehen werden, aber
kaum noch als Personen. »Die im Sinne der vorgelegten Überlegungen
ernst genommene Inklusionsherausforderung steht diesen Prozessen
konträr entgegen. Inklusion realisiert sich nur in einem von allen
unterschiedlichen Personen gemeinsam geschaffenen Raum wechselweise
ausgetauschter Bedeutungen« (S. 96).
Anne-Dore Stein macht in ihrer Überschrift: »Inklusion und das
Politische – Ein untrennbarer Zusammenhang!« ihre Haltung und ihr
Plädoyer deutlich. Dazu bezieht sie sich auf Hannah Arendt, Antonio
Gramsci und Oscar Negt, um das Politische menschlichen Handelns zu
skizzieren. Stein geht es weniger um Inklusion als Prozess im
System, sondern um die Gesellschaft als dynamische Entwicklung.
Dazu arbeitet sie heraus, dass bei den drei genannten Referenzen
übereinstimmend Menschen in ihrem Stand in der Welt gesehen werden
müssen, dass dieses nur durch Einbeziehung in historische
Zusammenhänge geht, und dass ein Bewusstsein für die
Vergesellschaftung vonnöten ist. »Politisches Handeln, Sprechen und
Eingreifen im Sinne Arendts, Negts und Gramscis heißt, die von
Lyotard so bezeichnete ›Sprachlosigkeit‹ gegenüber strukturellen,
systematischen Ausgrenzungsprozessen in breit geführte
gesellschaftliche Debatten zu überführen (vgl. Stein, 2013). Das
ist auch ein Anspruch an Forschende auf dem Feld der
Integration/Inklusion, der sich nicht in selbstreferenzieller
Beschäftigung mit sich selbst, ›ihrem sogenannten Standpunkt‹
(Horkheimer, zit. nach Negt, 2011, S. 245), erschöpfen darf«
(S. 120).
Der zweitumfangreichste Beitrag (53 Seiten) stammt von Erwin
Reichmann-Rohr und trägt den Titel: »Ausbruch aus dem Gehäuse
sondernder Hörigkeit«. Nicht nur wegen des Umfangs ist der Beitrag
besonders, sondern auch, weil Reichmann-Rohr seinen Beitrag als
Brief an Georg Feuser beginnt: »Zunächst in persönlich gehaltener
Form, danach als sachlich ausgebreiteter Gegenstand.« (S. 123). In
einem »gegen-chronologischen Verfahren« (S. 127) geht
Reichmann-Rohr auf »Lichtblicke« in der Geschichte des
pädagogischen Umgangs mit behinderten Menschen ein. Diese sind in
ihren jeweiligen Epochen (Novemberrevolution 1918, europäische
Revolution 1848, Französische Revolution 1789 sowie die
Demokratisierungsversuche seit den 1970er Jahren in der
Bundesrepublik Deutschland) eingebunden. Die historische Reise
beginnt in der (alten) Bundesrepublik Deutschland, lenkt den Blick
auf die Weimarer Zeit (1919/1918), geht der Forderung »Schule für
alle« aus dem 19. Jahrhundert nach, geht im Kontext von 1848 auf
die Arbeiten von Deinhardt und Georgens ein, thematisiert die
»Verallgemeinerungsbewegung 1800–1850« und beendet diese Reise mit
Bemerkungen zu Édouard Séguin (1830er und 1940er Jahre). Der
durchgehende »Maßstab für die gesamte Darstellung« ergibt sich aus
»gelebter Solidarität« (Menschenrecht auf Gemeinsamkeit;
freundschaftlicher Umgang – im Sinne der bekannte Ballade Friedrich
Schillers; Kooperation; eine Schule für alle Kinder) auch und
gerade im Beruf; jedoch ist Solidarität nicht einfach da und die
wird nicht mechanisch freigesetzt, sie muss erarbeitet und
selbsttätig hervorgebracht werden, »ohne Gewissheit auf Erfüllung,
Erfolg und Antwort der anderen« (S. 129). Unter Bezugnahme auf das
Buch von Irmtraud Schnell: »Geschichte schulischer Integration.
Gemeinsames Lernen von SchülerInnen mit und ohne Behinderung in der
BRD seit 1970« (2003) erfolgt die Betrachtung und Skizzierung der
jüngeren Vergangenheit, um im gegen-chronologischen Verfahren die
Epochen und Etappen (s.o.) aufzugreifen. Dieser umfangreiche
Beitrag mündet in der Frage: »Kann ein Beispiel aus der
Pädagogikgeschichte einen Beitrag leisten, um unsere gegenwärtige
Situation in Methodik und Didaktik zu klären? Ich meine nein! Eher
gilt wohl: Ein historisches ›Vorbild‹ kann uns helfen, gewisse
Menschen, Situationen und Tätigkeiten (von damals) wahrzunehmen,
die (sonst) unerkannt (unbekannt, undeutlich) bleiben würden.
Hierzu müssen wir jedoch zunächst bestimmte Schichten von
Argumentationen (Begriffen) entfernen und insgesamt das
Antiquarische problematisieren, in diesem Fall das aus dem
nachnapoleonischen Frankreich stammende. Dann stoßen wir auf einen
Begriff von Geschichte (im pädagogischen Umgang mit Menschen) und
zukunftsorientierte Möglichkeiten menschlichen Lernens (Lehren,
Entwicklungen, Suche nach einer neuen Lebensform…), wir erkennen
die moralische und politische Verpflichtung für eine unauflösliche
und unauslöschliche Anstrengung im historischen Raum für
menschliche Besserungen. Ein sinnvoller Dialog zwischen einer
solchen historischen Erfahrung und unserer Situation verlangt einen
Grundsatz dieser oder ähnlicher Art (wenngleich dieser auch nicht
völlig passend sein wird)« (S. 176).
Der letzte Beitrag stammt von dem Herausgeber Georg Feuser und ist
noch umfänglicher als der Vorherige (94 Seiten). Unter der
Überschrift: »Inklusion – Das Mögliche, das im Wirklichen noch
nicht sichtbar ist.«, fragt Feuser nach dem Zusammenhang von
Inklusion. Während das Kongressthema »Inklusion ist die Antwort«
war, ist sein Thema: was sind die Fragen und womit hängen diese
zusammen? Er beginnt mit einer These von Enrique Dussel, wonach
politische Institutionen immer (mal wieder) reformiert oder
transformiert werden müssen und fasst dieses als Grundfrage in
Relation zum konkret bestehenden Erziehungs-, Bildungs- und
Unterrichtssystem auf. Feuser vertritt die Auffassung, dass die
gegenwärtige Gesellschaft und die darin so benannte »Inklusion
schon heute weitgehend zentrale Erfüllungsgehilfe eine neoliberalen
Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik (ist), die eine alle
Gesellschaftsbereiche dominierenden Finanzialisierung und
Monetarisierung des menschlichen Lebens unterliegt, die auch
deutlichen Ausdruck in der Agenda 2010 findet. Diese basiert auf
einem Sozialstaatsmodell, das eine massive Umverteilung von unten
nach oben ermöglicht und jene, die in dieser Wahrnehmung dem
Gemeinwohl zur Last fallen, noch weiter marginalisiert und
prekarisiert, um sie dadurch zur Selbstaktivierung zu veranlassen
und auf den Weg zu bringen, sozialverantwortliche Subjekte zu
werden, wodurch mehr Wachstum und Beschäftigung und weitere
sozialstaatliche Kostendämpfung erreicht werden soll.« (S. 186 f.).
Zugespitzt heißt das: »Im Tanz um das goldene Kalb der Inklusion
(Feuser, 2006) die mangels entsprechender ökonomischer und
politischer Analysen – wie Wolfgang Jantzen in diesem Band aufzeigt
– als ›Paradiesmetapher‹ wahrgenommen und behandelt wird, hat sich,
bezogen auf diesen Komplex, unter der Hand und mit Vehemenz
betrieben, längst eine Praxis etabliert, deren Programmatik als
Prozess der ›Integration der Inklusion in die Segregation‹ zu
beschreiben ist. Damit hat man als ›Inklusion‹ bezeichnete Antwort,
mit der man sich selbst aus der Konfrontation herausnehmen und in
elitärer Abgeklärtheit des Mainstreams großzügig darauf verzichten
kann, dem nachzugehen, was denn noch mal die Frage war« (S. 190).
Damit ist (wie in den anderen Beiträgen auch) der große Bogen
skizziert, den Inklusion umfasst, der alle Lebensbereiche betrifft
und nicht eine Frage von Beschulung ist. Um das sowohl
ideengeschichtlich wie gesellschaftlich und letztendlich auch
politisch zu beleuchten, diskutiert Feuser sechs Items:
1. Die Entstehung der Frage aus der Bedrohung des Lebens
schlechthin
2. Die Entstehung der Frage aus der Begegnung
3. Die Entstehung der Frage aus der Negativen Vernunft
4. Die Entstehung der Frage aus der Geschichte des Fachs (mit
ausdrücklicher Abgrenzung zur Behindertenpädagogik)
5. Die Entstehung der Frage aus der Ungleichheit
6. Die Entstehung der Frage aus dem Bruch mit ausgrenzender
Herrschaft durch Bildung: Für Gleichheit – Solidarität –
Gerechtigkeit
Mit dem großen ideengeschichtlichen Topoi, mit denen Feuser
argumentiert, wird deutlich, dass Inklusion nur mit Bezug auf
Ideengeschichte und Historie diskutiert werden kann. Und so ist
Inklusion kein messbarer Index, sondern eine so allgemein und
fundiert realisierte Pädagogik, die niemanden von Bildung
ausschließt (vgl.S. 275). Die Integrationsbewegung, für die Feuser
steht und die auf etwa 40 Jahre Geschichte zurückblicken kann, hat
um adäquate Antworten seitens des Bildungssystems als Beitrag zum
erforderlichen gesellschaftlichen Wandel gerungen (vgl. S. 277).
Wir als Mensch haben es in der Hand, diesen Prozess so oder so zu
gestalten.
Diskussion
Ein sperriges, notwendiges und herausforderndes Buch – gerade zur
rechten Zeit. Sperrig ist das Buch deshalb, weil alle Beiträge sehr
komplex sind, vom Leser umfassende Kenntnisse der europäischen
Wissenschafts- und Ideengeschichte verlangen, zudem bestimmte
Fachkenntnisse bzw. Positionen von Fachvertretern ebenfalls bekannt
sein müssen. Die gedanklichen Sprünge gleichen eher
Stabhochsprüngen als Weitsprüngen. Da das Buch aber den Leser
auffordern möchte, sich seine eigenen Fragen zu bilden, ist der
Leserkreis, der diesen Sprüngen folgen kann, eher eingeschränkt.
Vermutlich sind es diejenigen, die meistens von Berufs wegen als
Hochschullehrer sowieso mit dem Thema befasst sind und diese
Lektüre ihren (Master-)Studenten nahelegen.
Das ist insofern schade, als es ein notwendiges Buch ist, denn
einmal abgesehen von der Replik auf die Tagung in Halle greift es
die zentrale Frage auf: Wollen wir überhaupt Inklusion und was
bedeutet das für die Gesellschaft? Heiner Bielefeld hat die UN-BRK
in seinem Aufsatz als das modernste Menscheninstrument für jegliche
Gesellschaft benannt (was sich in dem Buch in vielfältiger Weise
widerspiegelt). In Zeiten gesellschaftlicher Erosionsprozesse und
zunehmender Segregation durch Globalisierung steht diese Frage als
Grundsatzfrage für die zukünftige Gestaltung von Welt auf der
Tagesordnung. Die teilweise zu beobachtenden (politischen)
nationalistischen Störungen mit Aushebung rechtsstaatlicher
Verfasstheiten sind nur ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit
bei gleichzeitigem Terror und weiter anhaltenden
Wanderungsbewegungen. Insofern ist das Buch herausfordernd, denn es
ist keine Beschreibung über Inklusion, sondern ein
leidenschaftliches Plädoyer für Inklusion als Realisierung von
Gesellschaft, die eine Perspektive auf eine gemeinsame Zukunft hat.
Damit ist das Buch auch unbequem, denn es entlässt niemanden aus
diesem Prozess, sondern im Gegenteil verpflichtet jeden, aktiv in
diesem Prozess zu sein. So viele ideengeschichtliche Impulse auch
das Buch enthält: daraus resultieren viele (wichtige) Fragen, aber
kaum Antworten. Dieses Buch kann Impulse geben – und das
reichlich.
Es wäre (aus Sicht des Rezensenten) wünschenswert, wenn es nicht
ein Diskurs zwischen Fachleuten bleibt, die meistens die Position
der Anderen schon kennen, sondern ein Diskurs mit Politologen,
Volkswirten, Soziologen, Psychologen und auch in der Politik
losgetreten wird, der dann auch auf eine breite gesellschaftliche
Ebene trifft. Die Zukunft hat ja wohl schon begonnen (oder so
ähnlich).
Fazit
Inklusion darf sich nicht auf Einzelaspekte beschränken, sondern
ist ein umfassendes Gesellschaftsprojekt, das historische Bezüge
hat, aktuelle Entwicklungen und noch viele ungelöste
Herausforderungen. Das greift dieses Buch umfassend, wenn auch sehr
komplex, auf und kritisiert sowohl die Fachkolleginnen und
-kollegen, die die Einbettung von Inklusion übergehen oder diese
auf Einzelaspekte verkürzen, aber auch die Politik, die es sich zu
einfach macht, denn es geht um die relevante Frage von Zukunft und
wie wir leben wollen. Damit wird auch deutlich, dass es kein Thema
für die Anderen (wer immer das auch ist) ist, sondern ein Thema,
dass jede(n) angeht. Hoffentlich kommt das Thema über den Status
der Expertendiskussion hinaus – es ist dringend notwendig.
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