Rezension zu Heilen nach dem Holocaust
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Rezension von Felicitas Söhner
Holocaust und ›condition humaine‹.
Reflexionen zur Genese von Feindseligkeit und Vorurteilen
Der Psychoanalytiker Henri Parens, 1928 geboren in Lodz als Aron
Pruszinowski, schildert im vorliegenden Band eindrücklich einen
Teil seiner Lebensgeschichte. Als Überlebender des Holocaust
behandelt er die Ereignisse seiner Flucht aus dem Blick eines
Kindes. 1940 ist er gemeinsam mit seiner Mutter vor den
Nationalsozialisten von Belgien nach Frankreich geflohen und dort
im Camp de Rivesaltes, nahe der Stadt Perpignan, nördlich der
spanischen Grenze, interniert worden. Anfang 1942 konnte er mit der
letzten Kindergruppe in die USA emigrieren; bereits die
nachfolgende Gruppe wurde von nationalsozialistischen Truppen daran
gehindert.
Seine Mutter wurde im August 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz
deportiert und ermordet. Später als Kinderpsychiater und
-analytiker, der sich in seiner Arbeit den psychosozialen
Bedingungen der frühen Kindheit widmet, stellt er sich die Frage,
wie man diese in der Art beeinflussen kann, dass aggressive und
destruktive Verhaltensweisen bereits im Kindesalter eingedämmt
werden können. In der Rückschau reflektiert der Autor, dass seine
Erfahrung des Holocaust bestimmend und leitend geworden ist für
seine Lebensarbeit.
Der erste Teil ›Was mit meiner Welt passierte‹ widmet sich
Erinnerungsstücken in Zusammenhang mit der deutschen Invasion
Frankreichs, dem Internierungslager in Rivesaltes, der Flucht und
Zuflucht, die ihm das Œuvre de Secours aux Enfants, eine
französisch-jüdische Kinderhilfsorganisation bot und dem Exil in
den USA. Seine Erinnerungen werden begleitet von persönlichen
Reflexionen. Parens konzentriert sich auf markante Ereignisse und
betrachtet diese im Hinblick auf ihre Auswirkungen für seine
Zukunft. Mit der Niederschrift seines Zeitzeugenberichts begann der
Autor im August 2002, am 60. Jahrestag der Deportation seiner
Mutter in das KZ Auschwitz. Rückblickend bedrücke ihn als
Psychiater die eigene Schwierigkeit, dieses Thema zu erörtern. Im
einleitenden Kapitel bemerkte er hierzu: ›Ich habe lange mit mir
gerungen, ich wollte beides: öffentlich Zeugnis ablegen und doch
diese Öffentlichkeit vermeiden, dass der Holocaust mir und meiner
Familie widerfahren ist. Da es ihn aber gab, hat er für mich ein
Leben lang gedauert. (…) Seit Jahren höre ich, ›wir müssen Zeugnis
ablegen‹, und trotzdem konnte ich das bis jetzt nicht angehen.
Jetzt, da ich mit dem Schreiben beginne, bin ich 73 Jahre alt.
Begonnen hat alles, als ich elf war‹.
Im zweiten Kapitel ›Reflexionen – 60 Jahre später‹ widmet er sich
der Frage, wie sich der Schatten des Holocaust auf seine Existenz
und das Leben seiner Familie ausgewirkt hat. Rückkehrend an Orte
seiner Kindheirt reflektiert Parens seinen persönlichen Umgang mit
seiner traumatischen Kindheit. Über das öffentliche Zeugnis wollte
er sich dem Trauma seiner Holocaust-Erfahrung stellen und
beschreibt eindrücklich die Regungen und Folgen, die die
traumatischen Erfahrungen bei ihm auslösten: ›Deshalb ergriff mich
manchmal in München und in Köln die Furcht. Sie war real für mich,
auch wenn sie nur auf Vorstellungen beruhte. Es kann ein
unbewusstes Wissen um diese Verletzlichkeit gewesen sein, das mir
Angst machte, nach Deutschland zu gehen‹. In mehreren Sequenzen
betrachtet der Autor, wie seine Erfahrungen seine spätere Familie
und seine Arbeit als Psychiater beeinflusst haben. Parens
konstatiert, dass es nach seiner Ansicht keine andere Option gebe
als: ›Wir müssen jeden Pessimismus beiseitelegen und alles in
unserer Macht Liegende tun, um das Leiden, das uns umgibt, zu
reduzieren und um zu verhindern, dass je wieder ein Holocaust
stattfindet. Wir müssen tun, was wir können, um anderen
vermeidbares Leid nicht länger zuzufügen‹.
Im letzten Kapitel ›Ayeika?‹ widmet sich Parens der existentiellen
Frage: Wo stehe ich? Parens beschäftigt sich mit der condition
humaine, den Bedingungen des Menschseins, und welche Mechanismen
für Phänomene wie Gewalt und Fremdenfeindlichkeit verantwortlich
sein können. Er postuliert seinen Anspruch: ›Es ist möglich, das
Leiden der Gesellschaft zu mildern‹.
In dem Band eröffnet sich dem Leser ein Einblick in Parens Fach und
Beruf. Als Kinderpsychiater und Psychoanalytiker widmet er sich der
Erforschung menschlicher Aggression und rassistischer Vorurteile.
Ein Thema, das geprägt ist von seinen eigenen Erfahrungen – die
Holocaust-Erfahrung begründete seine Arbeit der Frage der condition
humaine. Parens Studien zur kindlichen Entwicklung hängen eng
zusammen mit seinem Engagement für Prävention gesellschaftlicher
Probleme. Dabei vertritt er die These, dass übermäßige Unlust zu
feindseliger Destruktivität führe. Daher plädiert er für die
Prävention emotionaler Störungen bei Kindern durch psychoanalytisch
orientierte Programme zur Förderung elterlicher Kompetenz. (Vgl.
Parens, H.: Handling Children`s Aggression Constructively: Toward
Taming Human Destructiveness, Jason Aronson, 2011).
Parens Buch ist zum einen angelegt als Zeugnis über den Holocaust,
aber auch als Reflexion über diesen und die menschliche Existenz.
In einer tiefgehenden und schmerzhaften Selbstbeobachtung teilt der
Autor seine Gefühle und Ängste mit dem Leser. In der Art einer
Selbstanalyse, die Parens in erzählender Weise entfaltet, spricht
er offen über seine Ängste und ambivalenten Gefühle. Beinahe 70
Jahre nach den Ereignissen zeugt der Band davon, dass seelische
Verletzungen durch Traumatisierung trotz einer gelungenen Rückkehr
in das Leben niemals restlos heilen werden. Damit ist dieser Band
nicht nur ein zutiefst persönlicher Zeitzeugenbericht, sondern
darüber hinaus ein Plädoyer gegen Hass und Rassismus.
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