Rezension zu Zeitlose Erfahrung
Zeitschrift für Gestaltpädagogik, Heft 1, 2017
Rezension von Ulrike Becker
Lesen Sie hier die Rezension von Ulrike Becker zur englischen
Originalausgabe: »Timeless Experience: Laura Perls’s Unpublished
Notebooks and Literary Texts 1946–1985«, originally published by
Cambridge Scholars Publishing, Newcastle upon Tyne.
»Gestalt«: »Leben – immer währende/zeitlose Erfahrung«
Wie ist Dr. Nancy Amendt-Lyon, Gestalttherapeutin in Wien, Autorin
zahlreicher Artikel und Buchbeiträge zu gestalttherapeutischen und
anderen Themen, 2013 zu dieser Aufgabe als Herausgeberin
gekommen?
In einem Traum gibt Laura Perls ihrer Tochter Renate den Auftrag,
ihren schriftlichen Nachlass an Amendt-Lyon zu übergeben und sie um
die Edition zu bitten. Schon in diesem ungewöhnlichen, weil durch
persönliche Beziehungen (1) und per Traumbotschaft zustande
gekommenen Beginn liegt etwas Besonderes ... und Laura (1905–1990)
hat sich mit dem Traum 23 Jahre Zeit gelassen. Das Ergebnis der
dreijährigen Editions-Arbeit liegt nun vor: Das Buch liegt gut in
der Hand, das Titelfoto zeigt eine wache, freundlich blickende
Laura Perls in späteren Jahren, die zum Lesen einlädt. Amendt-Lyon
hat es sehr sorgfältig editiert, hat Fakten wissenschaftlich
gründlich recherchiert und kommentiert mit vielen Informationen und
Namen von Personen, die L. Perls beeinflusst haben. Es ist ein
Schatz für alle am Gestalt-Ansatz Interessierten – für
Therapeutinnen und Pädagoginnen! Von prominenten
Gestalttherapeutinnen liegen bereits Rezensionen (2) vor. Ich lese
das Buch als Gestaltpädagogin und versuche Bezüge zum pädagogischen
Feld herzustellen.
Das in Englisch veröffentlichte Buch besteht aus vier Teilen:
1.) Einleitende Worte der Herausgeberin mit ausgewählter
Literaturliste,
2.) Laura Perls/' originäre Notizbücher 1946–1985, literarische und
andere Texte,
3.) Fotos aus Laura Perls/' Leben sowie
4.) ein Interview mit L. Perls, das Daniel Rosenblatt 1972 geführt
hatte(3) und das nun zum ersten Mal in Englisch veröffentlicht
wird.
Das Buch ist ein bibliophiles Lesebuch, das lockt, an verschiedenen
Stellen zu lesen anzufangen, vor- und zurückzublättern. Es
präsentiert kein geschlossenes Werk, sondern besteht aus vielen
»Puzzleteilen«, die sich zu einem authentischen, dichten Bild
zusammensetzen lassen. Es lädt ein, dem eigenen Erkenntnisinteresse
zu folgen. So bin ich beeindruckt vom Leben, der Gestaltungskraft
der Frau Lore / Laura Perls, ihrem Schicksal. Zum Einstieg können
die Fotos helfen, die in anschaulicher Weise zeigen, wie sie es
bewältigt hat: Lore als Einjährige, ihre Herkunftsfamilie und ihr
Ehemann Fritz mit den Kindern Renate und Steve, Freunde und
Weggefährten, der Familienstammbaum, Wohnstätten in Amsterdam,
Johannesburg, New York, Faksimiles aus den Notizbüchern, ihrer
Dissertation, Briefen und dem Nachruf, Fotos von ihrem Grab, von
der Jahrestagung der Deutschen Vereinigung für Gestalttherapie
(DVG) 2005 zum hundertjährigen Geburtstag von Laura Perls.
Zu 1) »Editor/'s Introduction«
Die 70seitige Einleitung ist sehr detailliert und informativ,
behandelt die Entstehungsgeschichte der Herausgeberschaft,
berichtet von persönlichen Begegnungen Nancy Amendt-Lyons mit Laura
Perls, gibt einen würdigenden Überblick über das handschriftliche
Textmaterial und bezieht sich auf das o.g. Interview. In weiteren
Abschnitten benennt die Herausgeberin die »Freuden und Leiden«, die
sie mit den z.T. verblassten, in einer altertümlichen
Kurrentschrift geschriebenen und mit Streichungen resp. Einfügungen
versehenen Originaltexten in Englisch und auch Deutsch verbindet.
Es folgen Ausführungen zu Laura Perls, den durchaus auch
herausfordernden Jahren in Johannesburg und New York. Die nächsten
drei Abschnitte behandeln den Titel »Timeless Experience« (ein
Begriff aus einem von L. Perls verfassten Text), ihre theoretischen
Beiträge zur Entstehung und Entwicklung der Gestalttherapie und
Laura Perls/' Vermächtnis.
Amendt-Lyon zeichnet ein sehr kenntnisreiches, liebevolles Porträt
von Laura Perls und lässt sie in ihren persönlichen,
therapeutisch-wissenschaftlichen und zeitgeschichtlich-politischen
Bezügen lebendig und verständlich werden. Ich als Leserin bin
angesprochen und versuche, den Inhalt zu begreifen. Der Leseprozess
wird als »transformative dialogue(s – U.B.)... between writers and
readers« (L. Perls) verstanden. Amendt-Lyon erläutert: »A reader
subjectively transforms what has been written and this person´s
life is transformed by reading« (Editor/'s Introduction, xxi). Das
Transformieren des Geschriebenen habe ich beim Lesen der Texte
erlebt und bin dankbar, nicht nur für das Lesevergnügen, sondern
auch für die gewonnenen Erkenntnisse – also auch eine
Transformation im inneren Dialog.
Etwas Ähnliches geschieht im Lernprozess – verstanden als
Kontaktprozess –, in dem das lernende Subjekt sich das für es
selbst persönlich Bedeutsame aus dem angebotenen »Material« in
einem gestalteten Kontext aktiv aneignet, Erfahrungen macht, Wissen
erwirbt, Zusammenhänge erkennt und sich damit selbst
transformiert.
Zu 2) Zwei Beispiele aus »The Notebooks«
Die Notizbücher wurden zuweilen mühevoll transkribiert und sind
chronologisch geordnet I (1946–1947), II (1954–1956), III
(1957–1958), IV (1959–1960), V (undatiert), VI (1972; 1985). Als
erstes Kapitel jedoch wählt Amendt-Lyon einen von L. Perls 1976
verfassten Text und gibt ihm den Titel: »Timeless Experience of a
Total Life Crystalized«. Sie habe 1944 mit dem Schreiben begonnen,
als sie in Johannesburg ohne Kontakt mit Familie und Freunden war.
In ihrer Phantasie ließ sie Erinnerungen an wichtige Ereignisse in
ihrer Kindheit und Jugend auferstehen. Der Text enthält L. Perls/'
Begründung für ihr zunächst eher literarisches, dann biographisches
Schreiben: »I still consider myself a writer« (S. I).(4) Sie möchte
weder eine klassische Autobiographie noch eine Geschichte der
Gestalttherapie schreiben, denn die Wahrheit liege nicht in
einzelnen Zahlen und Fakten, sondern in der zeitlosen Erfahrung,
die sich in einem gesamten Leben – wenn überhaupt – zu einer
persönlichen Mythologie verdichte.(5)
Aus dem »Inhalt der Schatztruhe«, wie Amendt-Lyon die »Notebooks
and Literary Texts« in ihrem Eröffnungsvortrag »Timeless
Experience« der Jahrestagung 2016 der DVG in Pforzheim nannte,
stelle ich hier Notebook I, das in Johannesburg entstanden ist,
kurz vor. Darin sind neben etlichen eigenen Gedichten von L. Perls
auch Übersetzungen von Heine-, Hölderlin-, Liliencron-Gedichten,
Notizen, Briefe, Abschriften (Rilke) versammelt. Die Herausgeberin
hebt Lauras Kurzgeschichte »Awakening« (S. 11–15) hervor, die
Kindheitserfahrungen in Pforzheim thematisieren (vgl. S. xxiii).
»Das Erwachen (aus der kindlichen Unschuld)« besteht meines
Erachtens im Erkennen, ein von der Mutter getrenntes Kind zu sein.
Aus der Perspektive eines Kleinkindes wird die unmittelbare
Umgebung sinnlich dargestellt, so dass sich ein filmischer Eindruck
in Bild und Ton von der Szene im Wohnzimmer der Protagonisten
ergibt – ein transformativer Dialog. Bekanntlich waren L. Perls/'
Beobachtungen als junge Mutter bedeutsam für die Entwicklung des
gestalttherapeutischen Ansatzes, wohl auch ihre eigenen erinnerten
Kindheitserlebnisse. Verschiedene Aspekte klingen hier an, z. B.
»Trennung« als notwendiger Schritt im Kontaktprozess zum »Schließen
der Gestalt« und zur Entwicklung von »self-support« – ein für L.
Perls bedeutsamer Schritt im therapeutischen Prozess. Hier liegt
m.E. auch ein genuin pädagogisches und Bildungs-Thema vor, nämlich
das Selbst- und Unabhängig-Werden – Persönlichkeitsentwicklung im
weitesten Sinne. Für Gestaltpädagoglnnen hat Schule neben der
gesellschaftlichen Sozialisation auch den Auftrag, das lernende
Individuum bei der Entfaltung seines Potentials zu unterstützen.
Das ist bei der Schülerin Lore P. aus Pforzheim gelungen:
Im oben genannten Vortrag »Timeless Experience« würdigte Nancy
Amendt-Lyon Laura Perls/' humanistische Bildung, ihre Kenntnis der
griechischen Mythologie und deutschen Literatur sowie ihre
eloquente ausdrucksvolle Sprache.
Ich hoffe, Sie als Leserin sind auf das Buch neugierig geworden und
heben Ihre eigenen Leseschätze. Wünschenswert ist, dass »Timeless
Experience« bald in deutscher Übersetzung vorliegt.
Anmerkungen
(1) N. Amendt-Lyon und L. Perls lernten sich 1976 kennen und
arbeiteten über viele Jahre in Gestalttherapie-Workshops in
Österreich zusammen.
(2) siehe: http://www.cambridgescholars.com/timeless-experience
(3) abgedruckt in: Perls, Lore (1997): Der Weg zur Gestalttherapie:
Lore Perls im Gespräch mit Daniel Rosenblatt, hg. v. Anke u. Erhard
Doubrawa, Wuppertal: Peter Hammer, S. 28–122. Der Text ist zu
umfangreich, um in dieser Rezension darauf einzugehen.
(4) »Ich verstehe mich immer noch als Schriftstellerin.«
(Übersetzung von mir)
(5) Freie Übersetzung aus dem Englischen von mir: »Truth is not in
the single temporal facts, but in the timeless expetience of a
total life crystallized – if at all – into a personal mythology.«
(S. 1f)