Rezension zu Krieg ist nicht unvermeidbar (PDF-E-Book)
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Rezension von Gertrud Hardtmann
Thema
Der Kinderpsychiater und Kinderanalytiker Parens hat seit vielen
Jahren die Psychodynamik menschlicher Destruktivität an Kindern und
Erwachsenen untersucht und kommt zu dem Ergebnis, dass diese nicht
auf einen angeborenen Destruktionstrieb (Todestrieb nach Freud)
zurückzuführen ist, sondern auf exzessiv schmerzliche,
traumatisierende Erfahrungen in den menschlichen Beziehungen. Er
überträgt seine Beobachtungen auch auf gesellschaftliche Konflikte
und beschreibt die psychologische Dynamik, die im Konfliktfall,
anstelle von Verhandlungen, zu kriegerischen Auseinandersetzungen
führt.
Autor
Henri Parens, 1928 in Lodz geboren, ist ein Überlebender des
Holocaust, weil er im Alter von 11 Jahren aus einem französischen
Konzentrationslager fliehen konnte. Er hat in USA studiert und ist
Kinderpsychiater, Kinderanalytiker, Professor für Psychiatrie am
Jefferson Medical College und Lehranalytiker am Psychoanalytic
Center in Philadelphia. Zahlreiche Veröffentlichungen haben die
Dynamik der Entstehung von Vorurteilen und destruktiver Aggression
zum Thema.
Aufbau
Ausgehend von Einsteins Frage an Freud ›Warum Krieg?‹ stellt Parens
Freuds Annahme eines Destruktions- oder Todestriebes infrage und
vertritt stattdessen eine Konflikttheorie, deren destruktive
Dynamik im Krieg zu schweren narzisstischen Traumatisierungen –
individuell und gesellschaftlich – führt. Aufgrund von – auch
unbewussten – Rachegefühlen können Generationen übergreifende
Vorurteile entstehen, die die Verhandlungsbereitschaft schwächen
und erneut kriegerische Auseinandersetzungen begünstigen. Ausgehend
von seinen Erfahrungen mit Kindern und Erwachsenen über die
seelische Dynamik destruktiver und tödlicher Konfliktlösungen macht
Parens Vorschläge, wie in Zukunft individuell und politisch
kriegerische Auseinandersetzungen verhindert werden könnten.
Inhalt
Das Buch beginnt mit einem Geleitwort des Friedens- und
Konfliktforschers Vamik D.Volkan (9 S.), der auf die
Lebensgeschichte von Parens, den Briefwechsel Einstein-Freud und
die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit (am Beispiel
von Mitscherlich) eingeht und betont, dass es auch für
Psychoanalytiker mitunter wichtig sei, die ›Couch zu
verlassen‹.
Es folgt dann ein kurzes Vorwort (1 S.) und Dank an Mitarbeiter (2
S.)
Einführung (17 S.)
Beginnend mit der Frage von Einstein an Freud: ›Gibt es einen Weg,
die Menschen von dem Verhängnis des Krieges zu befreien?‹ geht
Parens auf die zivilisatorischen Veränderungen ein, die auch
leitend für seine Forschungen waren, ob Kriege vermeidbar sind.
Solche Forschungen könnten allerdings nur interdisziplinär zum Ziel
führen. Beginnend mit Beobachtungen an Kindern entwickelt er – im
Gegensatz zu Freud – ein Aggressionsmodell, das auf qualitative
Momente in der Eltern-Kind-Beziehung, korrelierend mit der
emotionalen und aggressiven Entwicklung des Kindes, setzt.
Bezugnehmend auf frühere Veröffentlichungen zum Thema (insgesamt 32
Veröffentlichungen im Literaturverzeichnis) stellt er im Folgenden
die einzelnen Unterkapitel vor. Dieser Teil enthält auch eine
Chronologie seiner wissenschaftlichen Forschungsarbeiten und
Anregungen durch Veröffentlichungen anderer Autoren.
I Freuds Antwort auf Einstein ist falsch (47 S.)
Diese These wird untermauert, indem zunächst Freuds
Todestriebhypothese (oder eine angeborene Destruktivität des
Menschen) infrage gestellt wird. Parens bezieht sich dabei
ausführlich auf den Briefwechsel zwischen Einstein und Freud und
auf Arbeiten, die Freuds Hypothesen und Konzeptualisierungen
vorstellen, die unbewusste Dynamik menschlicher Destruktivität zu
verstehen.
Parens erläutert dann seine Zweifel an der Todestriebhypothese,
indem er Bezug nimmt auf seine Beobachtungen an Kindern im Alter
zwischen 8 und 16 Wochen. Er beobachtete eine frühe forschende
Aktivität, Erfahrungen zu assimilieren, kontrollieren und zu
beherrschen. Ärgerliche und wütende Gefühle gegenüber der Mutter
führten mitunter zu Rationalisierungen und Projektionen, zeigten
aber auch ein Spektrum nicht-destruktiver (ich würde sagen
›konstruktiver‹) Aggression.
Welche Aggression bringt Feindseligkeit und Hass hervor? Wenn ein
Kind schreit, weil ihm etwas fehlt, möchte es verstanden und
beruhigt werden. Erst wenn dieser, für ein Kind sehr schmerzhafte
Wunsch nicht erfüllt wurde, nahm die Aggressivität destruktive
Formen an. Seelische und körperliche Schmerzen führten zu solchen
Reaktionen. Kontinuierliche Langzeitbeobachtungen zeigten 1) eine
angeborene nicht destruktive Aggressivität, dann eine 2)
nicht-affektive Destruktivität, z.B. bei der Nahrungsaufnahme und
3) eine feindselige destruktive Aggression als eine Reaktion auf
psychischen Schmerz.
Es folgen ›ausgewählte Modelle der Aggression‹, die für die
Psychoanalyse bedeutsam sind insbesondere im Hinblick auf die
Dynamik traumatisierender Erfahrungen. Die Todestriebhypothese habe
sich an Kleinkindbeobachtungen nicht bestätigen lassen, statt
dessen eine »Multi-Trends-Theorie«, basierend auf narzisstischen
Verletzungen, Kränkungen und Gewalterfahrung. Bei Kriegen spiele
die feindselige destruktive Aggressivität eine große Rolle. Können
wir die Erfahrungen an Einzelnen auf Großgruppen-Traumen übertragen
(Volkan 1991, 2004)?
II Bewusste und bewusste psychologische Determinanten menschlicher
Konflikte (92 S.)
Eine Quelle ist der Narzissmus und seine Verbindung zur
Destruktivität durch die Erfahrung extremen psychischen Schmerzes.
Es folgt ein Exkurs über Freuds Überlegungen zum primären
angeborenen Narzissmus, der Nesthockerqualität des menschlichen
Kleinkindes, das es so abhängig macht von den Beziehungspersonen
und den Übergang vom primären zum sekundären Narzissmus, gemeint
ist die libidinöse Besetzung von Objekten, Leistungsbezogenheit,
Stolz auf die Herkunft. Dieser Narzissmus ist durch eine Dynamik
von ›Rückzug und Neubesetzung‹ gekennzeichnet und spielt vor allem
eine übergroße Rolle in Gestalt von Geld, Besitz, Ruhm und Ansehen
bei Menschen, die in ihrem primären Narzissmus verletzt oder nicht
befriedigt worden sind. Sie neigen zum einem ›Hyper-Narzissmus‹,
der antisoziale, bösartige und destruktive Züge annehmen kann
(Verweis auf Hitler) und auch in Großgruppen eine Rolle spielt
(Volkan 2010).
Es gibt gutartige narzisstische Kränkungen und feindselige und
bösartige. Destruktivität ist beim Menschen nicht angeboren,
sondern individuell und sozial auf narzisstische Kränkungen und
Verletzungen zurückzuführen. Der Zusammenhang zwischen Narzissmus
und menschlichen Konflikten gerät beim Hyper-Narzissmus in einen
Teufelskreis von angegriffen werden und angreifen, Unterwerfung und
Auflehnung (Beispiel Israel-Palästina).
Was macht die narzisstisch Gekränkten zu Tätern? Das Trauma
modifiziert die Identität, begünstigt einen Hyper-Narzissmus und
den Wunsch, dem anderen zuzufügen, was man selbst erlitten hat. Das
kann bis zum Genozid gehen, wobei meist Unschuldige die Opfer sind,
aber angeknüpft wird an bereits bestehende Vorurteile (z.B.
Antisemitismus). Kolonialismus und Sklaverei werden als Ursachen
benannt, aber auch Unterdrückung und Ausbeutung.
Narzissmus kann produktiv (konstruktiv?), aber auch destruktiv
sein, eine Bereicherung einerseits und eine erhöhte Anfälligkeit
für Verletzungen andererseits. Konflikte entstehen aus der primären
Hilflosigkeit und Abhängigkeit des Menschen zu Beginn seines
Lebens, die existentielle Angst vor Ohnmacht hervorruft und bei
einem Mangel an narzisstischer Befriedigung Machtwünsche und Gier
nach narzisstischer Befriedigung produziert. Neid und
Verschiebungen von Schuldzuweisungen (z.B. gegen die Juden) sind
die Folge, wenn Kinder Angst haben, ihre feindseligen Gefühle gegen
die Eltern zu richten und sich ›Feinde‹ außerhalb der Familie
suchen. Das kann gutartige (Sport, Konkurrenz) und bösartige Formen
annehmen und bei schweren narzisstischen Verletzungen auch
Rachebedürfnisse.
III Reaktionen, Erklärungen und Rationalisierungen (94 S.)
Parens beschäftig sich mit der psychologischen Dynamik von
Vorurteilen bei kleinen Kindern hervorgerufen durch Wut und
Feindseligkeit aufgrund von seelischen Verletzungen. Zwar haben wir
alle Vorurteile, doch schlagen diese erst dann in
Fremdenfeindlichkeit um, wenn die primäre Ambivalenz den Eltern
gegenüber nicht verarbeitet worden ist. Zusätzliche Traumata können
den Umschlag in ein feindseliges Vorurteil begünstigen. Eine solche
Entwicklung kann verhindert werden durch Interventionen in der
Familie, Nachbarschaft und Schule. Bestimmte Gruppenprozesse
begünstigen bösartige Vorurteile, z.B. ethnisch-fundamentalistische
Orientierungen oder ein militanter Extremismus in der Erziehung.
Nach Dan Bar-On (1997) müssen wir mit einer Veränderung in uns
selbst anfangen, da Friedensprozesse auch eine Identitätskrise
(kein äußerer Feind mehr) hervorrufen können.
Das Ende eines Konflikts, am Beispiel des ersten Weltkriegs,
bedeutete für die Deutschen durch den Versailler Vertrag eine
schwere narzisstische Kränkung, dessen langfristige Auswirkungen
den zweiten Weltkrieg provozierten. Die erneut möglichen
destruktiven Auswirkungen nach dem zweiten Weltkrieg wurden durch
den Marshallplan gemildert. Entnazifizierung und die Nürnberger
Prozesse halfen, den Deutschen in ihrer Gesamtheit ihre kollektive
Schuld und Verantwortung zu übernehmen. Hinzukamen internationale
Bestrebungen (z.B. die Vereinten Nationen), in Zukunft eine
friedliche Koexistenz zu ermöglichen. Zu Veränderungen haben auch
die Auswirkungen der Bedrohung durch einen atomaren Krieg
beigetragen.
Warum wurden Kriege über Jahrhunderte glorifiziert? Wurden Menschen
zum Krieg erzogen? Gab der Krieg vielen einen Sinn in ihrem Leben?
Wurden sie Menschen aufgezwungen? Welche Mythen und welcher
Nationalismus spielten dabei eine Rolle? Warum wurde bei den
zahlreichen Genociden nicht eingeschritten?
Oft rechtfertigen Mythen (Bedrohungsszenarien) das Töten (Fornari
1975): Hitler erscheint dann als der Held (Messias) und Retter.
IV Was wir tun können: Alte und neue Anleitungen und Möglichkeiten
(72 S.)
Parens verweist zunächst darauf, dass wir Kinder vor
schwerwiegenden narzisstischen Verletzungen schützen und nicht zu
autoritätsgläubigen Tätern (Hanna Arendt 1963 über Eichmann)
erziehen können, die auch destruktiv ›nur ihre Pflicht‹ tun und
keineswegs im psychiatrischen Sinn unzurechnungsfähig sind. Die
Taten der Nazis waren nicht banal. Aber wie ›banal (einfach)‹ war
es, ganz normale, durchschnittliche Menschen zu Handlangern von
Verbrechen zu machen.
Misshandlungen und Vernachlässigungen in der Kindheit können zu
Delinquenz führen. Feindselige, destruktive Erfahrungen können ein
normales Neugeborenes zum Kriminellen machen. Kann es auch in
Großgruppen eine ›antisoziale Charakterstörung‹ geben, wenn z.B.
die Misshandlung von Kindern – Erziehung zu unbedingtem Gehorsam
(Köhler 2013, Bohleber 2010) und Unterwerfung – durch die
Großgruppe, weil so normal, gar nicht erkannt wird? Oder wenn die
kindliche Wut auf die – auch liebevollen (!) – Eltern nicht bewusst
wahrgenommen, akzeptiert und verarbeitet wird. Hinzukommt, dass
eine extremistische Ideologie die antisoziale Tendenz zu
bedingungslosem Gehorsam fördern und zur Erziehungsphilosophie
werden kann. Nicht zu vernachlässigen ist allerdings auch die von
den Nazis betriebene Ausschaltung von bestehenden Gesetzen.
Parens schlägt eine ›Elternerziehung‹ vor, auf die er sich auch in
seinen Forschungen bezieht, die der genetischen Anlage eines Kindes
(Genotyp) gerecht wird, aber gleichzeitig ein Umfeld (Phänotyp)
bereitstellt, das den Bedürfnissen des Kindes gerecht wird. Dieses
könnte Kindern und Eltern helfen, 1) auf verbindliche Erwartungen
zu bestehen, 2) wünschenswerte Erwartungen aus Sicht der Eltern
durch Aushandeln (Entzug von Privilegien) durchzusetzen, diese aber
trennen von 3) Wünschen der Eltern, die dem Kind Wahlmöglichkeiten
offenlassen. Parens propagiert einen ›psychosozial informierten,
wachstumsfördernden Erziehungsstil‹, der Verständnis für das Kind,
Ambivalenz-Toleranz, ausreichend gute Betreuung und Förderung von
Selbstwertgefühl und Kompetenz beinhaltet.
Im Schlusswort betont Parens noch einmal, das Konflikte nicht aus
der Welt zu schaffen sind, wohl aber der ›Mythos Krieg‹, die ›Droge
Krieg‹ und seine Rationalisierungen, da sie einer friedlichen und
auf Selbstachtung gründenden Koexistenz im Weg stehen.
Das Buch schließt mit Anmerkungen zu den Kapiteln (15 S.) und der
Literatur (14 S.) ab.
Diskussion
Der Autor ist ein erfahrener Kinder- und Elternbeobachter und
berichtet anhand von einzelnen Fallbeispielen aus seiner reichen
Erfahrung im Umgang mit narzisstischen Verletzungen des
Selbstwertgefühls; diese sind illustrativ und nachvollziehbar.
Seine Erfahrungen haben zu einer kritischen Auseinandersetzung mit
der Todestrieb-Hypothese von Freud geführt. Die Übertragung dieser
Erfahrungen auf Großgruppen scheint mir aus psychoanalytischer
Perspektive gelungen, insbesondere auch unter Bezug auf die bereits
von Adorno u.a. 1950 publizierten Auswirkungen einer autoritären
Erziehung auf die Persönlichkeitsentwicklung. Andere Aspekte,
insbesondere im Nationalsozialismus, kommen hingegen zu kurz, z.B.
das Gewaltmonopol der Nazis und der innenpolitische Terror.
Ich hätte mir einige Kürzungen gewünscht, da das Buch sehr
umfangreich ist und mir einige Wiederholungen überflüssig
erschienen. Das umfangreichste Kapitel III über Großgruppentraumata
wirft auch Fragen auf, inwieweit es immer tatsächliche Traumen
sind, die motivieren, oder ob nicht auch suggestiv und manipulativ
Traumen beschworen werden, um ein Klima der Rache und Intoleranz zu
schaffen.
Fazit
Ein mit Sicherheit nicht nur für Analytiker, sondern auch für
Eltern, Lehrer, Erzieher und Politiker lesenswertes Buch, das schon
wegen seines Reichtums an Beobachtungen, Reflexionen und
Literaturhinweisen in eine Seminarbibliothek gehört. Allerdings
dürfte es in einer gekürzten Fassung eher die Verbreitung finden,
die es verdient. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen des
Autors findet sich mit Sicherheit eine, die – in Übersetzung –
diesen Zweck erfüllen könnte.
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